Streifzüge durch die zeitgenössische Literatur anderer Länder

Rumänien

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M. Blecher Gellu Naum
Mircea Cărtărescu Oskar Pastior
E. M. Cioran Eginald Schlattner
Catalin Dorian Florescu Marin Sorescu

Mircea Cărtărescu: "Nostalgia" 

Der Lyriker  wurde 1956 in Bukarest geboren und debütierte 1978. Seit dem Ende der 1980er Jahre schreibt er auch Prosa-Werke, darunter beispielsweise "Nostalgia", eine Sammlung von Erzählungen, die erstmals 1989 unter dem Titel "Visul" ("Der Traum") erschienen ist, und 1993 in vollständiger, unzensierter Fassung neu aufgelegt wurde. In deutscher Übersetzung liegt "Nostalgia" seit 1997 vor.

Triumph der Fantasie

Ein sehr beachtliches Werk der neueren rumänischen Literatur - der Prosaband "Nostalgia" von Mircea Cărtărescu. 1988 erschien eine stark zensierte Fassung unter dem Titel "Der Traum"; 1993 wurde die integrale Fassung unter dem Titel "Nostalgia" veröffentlicht. Schnell fand das Buch Zugang zum gesamteuropäischen literarischen Raum durch französische, spanische und holländische Übersetzungen. Das Buch erschien deutsch in der Übersetzung von Gerhard Csejka. Es enthält fünf Prosatexte unterschiedlicher Länge, die sich in drei Teile gliedern: Prolog ("Der Roulettspieler"), "Nostalgie" ("Mendebilus", "Die Zwillinge", "REM") und Epilog ("Der Architekt").

Ein sehr beachtliches Werk aber gleichzeitig auch eine Herausforderung für den Leser. Nicht dass er (der Leser) vom Autor allein gelassen wäre, nein, im Gegenteil. In einer Manier, die stellenweise an Bulgakow erinnert, führt der Erzähler den Leser permanent durch den Text. Ein gelegentlich direkter, dann wieder latenter Dialog durchzieht den ganzen Band, so wie eine Wasserader, die teils an der Oberfläche teils unterirdisch aber immerfort weiterfließt. In zahlreichen Einschüben impliziert Cărtărescu  den Leser ins Geschehen, er befragt ihn, äußert Verständnis oder gar Mitgefühl für dessen Zweifel und Ängste, so als wäre die Erzählung ein kollektives Produkt beider. Was natürlich nur eine Illusion ist, denn auch wenn der Schriftsteller den Anschein erweckt, er stelle die Entscheidung und somit seinen Text zur Disposition, so ist und bleibt er der alleinige Herrscher im Reich der Fantasie.


Die Variabilität einer Geschichte kannte man im deutschsprachigen Literaturraum spätestens seit Frisch; diese konsequent durchgespielten Hypostasen des "Was wäre, wenn..." und "Ich stelle mir vor..." fügten sich letztendlich zu einer fingierten fiktionalen Biografie zusammen.

Hier wird die Variabilität einer Geschichte überboten/weiterentwickelt durch die Verlagerung der Entscheidung über eine Geschichte vom Autor weg nach außen hin zu einer mythisch-mystischen, irrationalen, oft dämonisch wirkenden Kraft. Der Schriftsteller steht unter dem absoluten Zwang, eine Geschichte so und nicht anders zu erzählen; auch wenn sie unglaubhaft ist, sie hat sich so und nicht anders abgespielt.

Und immer ist es ein verzehrender furor dementis, der die Hand lenkt, eine überschäumende Emotion, die den Körper des Schreibers aushöhlt und ihm die letzte Kraft entzieht.

Gespenstisch sind die Szenen, in denen der Autor in seiner heruntergekommenen Kammer dem Zwang, die Geschichte noch zu beenden, schutz- und hilflos ausgesetzt ist, so dass seine Vermieter im höchsten Grade verunsichert und besorgt zwischendurch unter allen möglichen Vorwänden bei ihm eindringen und nachsehen, ob er denn überhaupt noch leben würde.

Oder die Szenen im Irrenhaus, wo der Schriftsteller umgeben von debilen, halbnormalen und paranoisch-skurillen Gestalten seine Texte schreibt.

Was Literatur ist beziehungsweise nicht ist, hatte Cărtărescu schon auf der ersten Seite eindeutig geklärt: "Literatur ist das falsche Mittel, um etwas auch nur halbwegs Wirkliches über sich selbst mitzuteilen. Gleich bei den ersten Sätzen, die du niederschreibst, fährt in deine den Füllhalter führenden Finger wie in einen Handschuh eine fremde Klaue und treibt Hohn und Spott mit dir; dein Bild im Spiegel der Seite schießt wie Quecksilber in alle Richtungen auseinander, und die verzerrenden Kügelchen fügen sich zu einer Spinne, einem Wurm, zum Zwitter, Einhorn oder zu Gott - wo es doch nur um dich selbst gehen sollte. Literatur und die Lehre von den Missbildungen der Lebewesen sind ein und dasselbe."

An einer anderen Stelle steht dann die absolute Relativierung des zwischendurch immer wieder angedeuteten kooperativen Schöpfungsprinzips: "Soll sich jeder vorstellen, was er will. Finde jeder für diesen spiegelverhüllenden Text, diese Textur, Textilie, diese Plane, die nur dann gelungen ist, wenn man nicht hindurchgehen kann, die Begründungen, die Deutungen, die ihm passen. Ich möchte nicht ewig daran weben und nicht nachts aufdröseln, was ich tagsüber gearbeitet habe. Im Gegenteil, ich bin jetzt schon dabei, die Dinge weiterzutreiben, einzudringen in die Höhle des Drachen oder in die Höhle von Kafkas Ungeziefer oder von Rilkes schrecklichem Engel". 

Stichwort "Rilke" und zur Erinnerung: "Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel/ Ordnung? und gesetzt selbst, es nähme/ einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren/ Dasein. Denn das Schöne ist nichts/ als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen,/ und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,/ uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich./ und so verhalt ich mich und verschlucke den Lockruf/ dunkelen Schluchzens (Die Erste Duineser Elegie)

Literatur teilt nichts über den Schriftsteller mit; sie ist "eine fremde Klaue", eine malefische Kraft, die allmächtig alle Fäden einer Inszenierung zieht, an der der Leser aktiv gar nicht beteiligt ist. Oder doch? "Soll sich (doch) jeder vorstellen, was er will." Also doch! Wir stellen uns das vor, was wir wollen und wirken doch bei der Entstehung der Geschichte mit, indem wir ihre Rezeption bestimmen.

Und der Schriftsteller? Während wir unseren kreativen Teil an der Schöpfung absolvieren, drängt er schon in die Höhle des Drachen; erforscht also schon das Ungewöhnliche und Abnorme, das Schreckliche (oder das Ende des Schönen), an dem wir vergehen würden.

Das Prinzip der Prosa, die sich jeglicher Gattungszuordnung entzieht, kannte man im deutschsprachigen Literaturraum spätestens seit Hildesheimer; der Roman (der keiner mehr ist, weil er als solcher nicht mehr so sein kann, wie er einmal war, und auch nicht mehr weiterentwickelt werden kann) zerfällt in disparate, in sich geschlossene Teile, die sich wiederum zu einem lockeren Gesamtbild innerhalb eines Rahmens zusammenfügen. Oder um mit Cărtărescu zu sprechen: "... (das) Bild im Spiegel der Seite schießt wie Quecksilber in alle Richtungen auseinander, und die verzerrenden Kügelchen fügen sich zu einer Spinne, einem Wurm, zum Zwitter, Einhorn oder zu Gott".

Letztendlich bleibt die Alternative einer Zusammenfügung der Teile offen; der Roulettespieler der ersten Geschichte könnte schließlich ein erwachsener Mendebilus sein, oder der adoleszente Valli aus der Geschichte "Die Zwillinge" ein junger Roulettspieler, oder der junge Mann aus "REM" ein späterer Valli.

Warum auch nicht? "Soll sich jeder vorstellen, was er will."

Im Gegensatz zu Hildesheimers Prosa, die bis zum kleinsten Strukturelement streng kontrapunktisch durchkomponiert ist wie ein Musikwerk von Bach, wuchert die Prosa Cărtărescus wie ein barockes Gemälde, das vom Auge des Betrachters in seiner Vielfalt fast gar nicht mehr erfasst werden kann. Diese Ambiguität, die sich über Gattungs- und Zuordnungsfragen bis hin zur Rezeption einzelner Bilder zieht, macht den besonderen Wert der Prosa Cărtărescus aus. Der Schriftsteller bietet immer wieder vielfache Möglichkeiten, öffnet alternative Perspektiven, gestaltet schillernde Bilder und bleibt dabei seinem Prinzip treu: "Soll sich jeder vorstellen, was er will."

Die Bildgestaltung, die Zusammensetzung von Elementen mit atmosphärischem Wert zu einem funktionierenden Ganzen, gelingt dem Autor außerordentlich gut:

"Er betrachtete sich in dem schadhaften, von der Feuchtigkeit zerfressenen Badezimmerspiegel, worin außer seinem Gesicht noch ein schimmelfleckiges Stück der Wand zu sehen war, die aufgrund einer unfassbaren Geschmacksverirrung einen dunkelblauen Ölanstrich trug. Auch die angeschlagene und flüchtig mit Gips geflickte Klomuschel kam mit ins Bild. Als Rasiercreme hatte er die wohlriechende hellblaue Paste aus einer ungarischen Sprühdose genommen, die zusammen mit zwei, drei anderen farbenfrohen Dosen auf der schmutzigen Glaskonsole unterhalb des Spiegels gestanden hatten; wo im übrigen auch ein paar gebrauchte Rasierklingen, zusammengepappt in einer Pfütze liegend und bereits angerostet, vor sich hin gammelten. Das vom Rasierschaum getrübte Wasser auf seinem Kinn begann sich, eisig kalt, den Hals hinab und auf der Brust zu verlaufen. (... ) Er führte zugleich den Rasierer mit ungeteilter Aufmerksamkeit sachte jedes Fleckchen Haut entlang, das sich über die unförmigen Kinnladen spannte. Er setzte dann unter dem Kinn fort und schabte den Schaum Streifen um Streifen bis zum Adamsapfel weg. Nicht die Spur eines Haares sollte auf seinem Gesicht zurückbleiben. Die elektrische Glühbirne strengte seine Augen sehr an, die Umrisse im Spiegel schienen ihm zeitweise von blinkenden violetten oder fliederfarbenen Linien verdoppelt. (... ) An der Tür haftete ein alter, in der feuchten Luft verquollener und schwarz gewordener Aufkleber, da türmte sich über einem rosigen Frauenprofil hyperbolisch aufgeplustert eine Haarpracht, deren einzelne Strähnen farblich von Blutrot zu immer helleren Rottönen abgestuft waren, wie Acrylfarbenmuster. Unmittelbar unter der blatterigen Frauenbürste stand in feinen Lettern: CRISAN SHAMPOON."

Nostalgisch geladen und atmosphärisch einzigartig ist auch eines der "Schulbilder" Cărtărescus:

"Aus jener Zeit sind mir schwere Winter in Erinnerung, die Schneemassen reichten bis unter die Schulfenster, und die Abende senkten sich in rotbleiernen Wogen über die Kastanien im Hof und über das nostalgische Backsteinlagerhaus neben der Schule. Die Luft nahm eine kaffeebraune Färbung an, und die Jungen, die vor dem Schultor mit Schneebällen in den Händen und klatschnassen Handschuhen den Mädchen auflauerten, hatten purpurrote funkelnde Vogelaugen. Draußen in der kräftigen Luft blinkten die ersten Sterne auf, während wir in der sechsten Stunde, bei elektrischem Licht betäubt an die Tafel starrten, auf die Reihen grotesker chemischer Formeln, die merkwürdigen Verhältnisse der Avogadro-Konstante oder auf die schiefen Kristallgestalten der Raumlehre. Es gab auch Tage, da schneite es draußen wie verrückt, wir saßen in der Rumänischstunde und hatten beim Hinaussehen den Eindruck, dass sich das ganze Klassenzimmer in rasender Geschwindigkeit wie ein Raumschiff im steilen Winkel nach oben bewegt. Ganz allgemein war es so, dass uns der helle Innenraum, abgesetzt gegen die unendliche Finsternis draußen, ein atavistisches Gefühl der Intimität und Geborgenheit vermittelte, wie es die frühen Menschen empfunden haben mögen, wenn sie in ihren Höhlen um das Feuer herum saßen. Die Welt wurde klein und es lebte sich leicht.".

Es wuchert in den Tableaus dieses Prosabandes nur so von ganz fein differenzierten Gerüchen, Geschmäckern, Farbnuancen, Formen; die Beschreibungen von Menschen und Räumen (Zimmern, Häusern, Stadtvierteln) sind minuziös realistisch aber auch darüber hinaus immer fantastisch. Die Vielschichtigkeit einer Beschreibung wird dadurch hergestellt, dass der Autor sehr oft die Kontinuität der realen Ebene durchbricht und in eine andere Ebene vorstößt, sei es die Ebene der Erinnerung, der Vergangenheit, Vision, Fantasie oder des Traums.

Träume spielen überhaupt eine wichtige kompositorische und inhaltliche Rolle in Cărtărescus Texten; es sind spontane Tagträume, unheimliche Visionen brutaler apokalyptischer Prägung, oder Träume, bei denen der Autor den Anspruch auf Authentizität anmeldet, "geträumte", "wirkliche" Träume, Nachtträume, an die man sich entweder nach dem Aufwachen sofort erinnert oder die nach und nach langsam ins Bewusstsein gleiten, oder "Traum-Zyklen", die erst in einer vorgegebenen Reihenfolge und festgelegten Anzahl den Vorstoß in andernfalls verbotene Bereiche der Erkenntnis ermöglichen. Die geträumte Welt ihrerseits setzt sich oft aus realen Elementen zusammen und gliedert sich in die Realität des Erzählens so perfekt ein, dass man gelegentlich Schwierigkeiten hat, die beiden Welten auseinander zu halten, oder sie unterscheidet sich so stark von der Realität, dass dadurch faszinierende, einzigartige Bilder entstehen, wie in der Vision, in der der Autor den Flug seines eben geborenen und noch mit Tränen, Lymphe und Blut verschmierten Körpers durch Milliarden Galaxien beschreibt. In der Unendlichkeit des Alls stößt der fliegende Körper auf unzählige, riesengroße Lichtgötter, die er durchbohrt, und gelangt letztendlich zum wahren Herrgott:

"Zurückblickend wurde die Gott-Reihe immer länger, Hunderte, dann Tausende, abwechselnd mal nach links, mal nach rechts vornüber gekippt - flammende Krampen eines gigantischen Reißverschlusses. Und da ich den Reißverschluss durch meinen Flug öffnete, legte ich die Brust des wahren Herrgotts frei, ein Raccourci, so grandios wie sonst nichts. Mich um mich selbst drehend, von seinem Licht versengt, erreichte ich schließlich eine Höhe, von der aus ich ihn ganz überblicken konnte. Er war wunderschön! Seine haarige Brust, die Brust eines Stiers - mit Busen bestückt. Das Antlitz unter der Flammenkrone seines langen, zu Tausenden Zöpfen geflochtenes Haars - jung; das breite Becken barg das kraftvolle Glied des Mannes. In allen seinen Teilen, vom Scheitel bis zur Sohle, bestand er aus Licht. Er hielt die Lider halb geöffnet, ein trauriges und ekstatisches Lächeln lag auf seinem Gesicht, und wo das Herz war, unterhalb der linken Brust, klaffte eine schreckliche Wunde. Die Finger seiner rechten Hand hielten mit unbeschreiblicher Anmut eine rote Rose. So schwebte er liegend durch den Raum, der ihn zu fassen suchte, jedoch eher von ihm umfasst, eingezogen schien.".

Die Gestalten der "Nostalgia" sind eine weitere Stärke des Erzählvermögens Cărtărescus. Sie bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Norm und Abnorm und heben sich oft durch Besonderheiten von ihrem Umfeld ab. Detaillierte Beschreibungen und lange monologische Abschnitte verschmelzen zu dichten Porträts, die eine besondere Atmosphäre schaffen.

Da ist der Roulettspieler, dessen Name unwichtig ist (der Spitzname definiert die Existenz; nomen est omen!) und der eine ganze Stadt von mehr oder weniger normalen Menschen mit seinem waghalsigen russischen Roulett polarisiert:

"Er blickte mürrisch drein, das dreieckige Gesicht saß auf einem langen, gelblichen und dünnen Hals, die Haut war trocken, das Haar nahezu scharlachrot. Die Augen eines unglücklichen Affen, asymmetrisch, von ungleicher Größe, glaube ich. Er wirkte irgendwie ungepflegt, schmuddelig, in seinen Farmerkleidern ebenso wie später im Smoking ... Der Roulettspieler hatte das finstere Gesicht eines zu Wohlstand gekommenen Bauern, sein Gebiss war halb Metall, halb Kohle. Dies war, vom Beginn unserer Bekanntschaft und bis zu seinem Ende (durch den Revolver, aber nicht durch die Kugel) unverändert seine Erscheinung gewesen. Und doch verbarg sich dahinter der einzige Mensch, der den unendlichen mathematischen Gott je erspähen und sich mit ihm einen Ringkampf liefern durfte."

Oder der Junge Mendebilus - (wird im Namen auf Geistesschwäche angespielt? lat. mens / rum. minte = Verstand, rum. debil = idiotisch, schwachsinnig), der alle Nachbarskinder mit seinen Erzählungen in seinem Bann hält. Oder Elisabeta, die Epileptikerin, die auf ihrem Bettlaken Karten legt, schwere, große, abgenutzte Karten aus Österreich mit durchgestochenen Augen, damit die Vorhersagen unfehlbar werden. Die von Missbildungen geplagte Mira und die nach dem Anfall einer Schlafkrankheit debile Altamira, die paranoide Lavinia, die acht Stunden am Tag Liebesbriefe mit Zeichnungen aufs Bettlaken malt, und Paula, die tagsüber normale und nachts schizophrene Hysterikerin.
Die meisten kennt man eher mit Spitz- oder Rufnamen; ihre bürgerliche Existenz zählt sehr wenig in einer Welt, in der eine Ab- oder Eigenart, ein Merkmal, Laster oder Schwäche namen- und persönlichkeitsbildend sein kann (wie etwa bei Altamira = rum. alta Mira = "die andere Mira", eigentlich Stefanie, eine Andeutung auf eine lesbische Beziehung zwischen Mira und eben "der anderen Mira").

Insgesamt wird Cărtărescus Prosa von Gestalten bevölkert, die zu einer Sondergruppe von Menschen gehören, nämlich zu den "Sternen": "Es gibt vier Arten von Menschen: die Ungeborenen, die Lebenden, die Gestorbenen und jene, die weder geboren noch am Leben noch auch gestorben sind.  Das sind die Sterne." Es ist dies ein gelungenes poetisches Bild, eine Metapher des Lebens in der Fiktion, der erfundenen Menschen, die ein Sterndasein in Büchern und in unseren Köpfen fuhren, ungeboren, nicht leben und nicht gestorben, trotzdem aber so einprägsam und lebendig.


"Nostalgia" erschafft meisterhaft eine Welt der Realitäten im Bukarest der späten 1950er, 60er und 70er Jahre von einzigartiger Nostalgie und ein Universum der immerwährenden poetischen Fantasie von außerordentlicher Suggestionskraft.

Beeindruckend der "Kampf (des Schriftstellers) mit dem Drachen" und die Benennung der Literatur als Austragungsort des Wunderbaren:

"Was aber kann ein Mensch tun, der sein Leben lang Literatur schrieb? Wie zieht er seinen Kopf aus der Schlinge des Stils? Wie, mit welchen Mitteln lässt sich ein reines Bekenntnis zu Papier bringen, frei vom Kerkerdruck der künstlerischen Konvention? Ich sollte den Mut aufbringen einzugestehen: in keiner Weise. Zwar wusste ich dies von Anbeginn, suchte jedoch, mit der List des in die Enge getriebenen Tiers, mein Spiel, meinen Einsatz, meine Wette vor deinen Blicken zu verbergen. Denn schließlich setzte ich doch wieder auf die Literatur. In meinem masochistisch pascalschen Gedankengang nutzte ich, was mir entgegen stand. Hier meine Überlegung von A bis Z, alles, was dazu führte, dass ich diese 'Geschichte' zu Ende schrieb (Mit welcher Mühe, weiß nur ich.): Ich habe den Roulettspieler gekannt. Daran gibt es für mich nichts zu zweifeln. Obwohl seine Existenz unmöglich war, hat er dennoch existiert. Es gibt allerdings einen Ort auf der Welt, wo das Unmögliche möglich ist, in der Fiktion, der Literatur."

(Georg Quante)

Mircea Cărtărescu: "Nostalgia"
Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka.
Suhrkamp, 2009. 450 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Im Lyrikband "Selbstporträt in einer Streichholzflamme" steht das subjektive Empfinden, die Selbstreflexion im Vordergrund. Ein imaginäres Selbstporträt in einer Streichholzflamme ist eine vergängliche, wenngleich intensive Momentaufnahme. So sind die in diesem Band enthaltenen Gedichte höchstpersönliche Befindlichkeitsäußerungen, entstanden während einer inneren Sturm-und-Drang-Phase. Greifbar gewordene Träume, Gedicht gewordene Selbsterkundungen, Selbstpositionierungen, vielfarbige Gebilde, der Dunkelheit der jugendlichen Unsicherheit entstiegen - die Metamorphose während einer Verpuppung mit ungewissem Ausgang ...
Er thematisiert die vielen "ersten Male", an denen kein Weg vorbeizuführen scheint und übermalt Wunden mit kräftigen Farben, die dennoch den verletzlichen Untergrund durchschimmern lassen.

Mircea Cărtărescu: "Selbstporträt in einer Streichholzflamme" Gedichte.
Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Gerhard Csejka.
DAAD, 2001. 75 Seiten.


Tudor Arghezi: "Der Friedhof"

Auferstehung in Balkan-Manier
"Der Friedhof" von Tudor Arghezi als Zeitbild von Bukarest zwischen den zwei Weltkriegen


Ein besonders böses Wort über die rumänische Wesensart besagt, dass es zur tieferen Kenntnis derselben reichen würde, Tsuica zu trinken und Würstchen vom Grill zu essen.

Gemütlichkeit auf balkanesisch, wobei die Tsuicadämpfe und die sehr penetrant nach Knoblauch riechenden und schmeckenden Würstchen (rum. "mici" - die Kleinen) sicherlich das kleinere Übel wären; Gemütlichkeit auf balkanesisch bedeutet vorwiegend eine ganz besondere Art des laissez faire das zugleich ein faire rien beinhaltet, andere Tages-, Nacht- und Jahresrhythmen, als man sie vom Westen her kennt, übertriebene Freundlichkeit, die einem sehr leicht auf die Nerven gehen kann, Friedfertigkeit gegenüber den Menschen, Gott und der Welt. Es ist ja alles relativ.

Der Roman Arghezis "Der Friedhof", eigentlich "Der Friedhof Mariä Verkündigung", erschienen 1936 und kein Roman im herkömmlichen Sinn, eher eine lange "Prosa", entstand aus einem Grundgefühl heraus, das man aus den besten Stücken von I. L. Caragiale kennt, trotz aller Unterschiede zwischen den beiden Autoren: eben aus der satirisch-polemischen Betrachtung der rumänischen Wesensart.

Vom berühmten rumänischen Pflaumenschnaps Tsuica und von den nicht minder geschätzten Würstchen ist bei Arghezi nicht die Rede, jedoch von einer ganzen Reihe von Balkanmanieren, aus denen sich sowohl Mikro- als auch Makro-Tableaus einer Gesellschaft zusammensetzen.

Arghezi war eigentlich ein geborener und begnadeter Dichter, dessen Gedichtzyklen ihn an die Spitze der rumänischen Lyrik des 20. Jahrhunderts gesetzt haben.

Seine Möglichkeiten im Bereich der Prosa lagen vor allem im "kleinen" Format - Essay, Zeitungsaufsatz, Pamphlet, alles eingehüllt in eine satirische und bissig-ironische Aura. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum der Autor seine Prosa "Der Friedhof" in kurze und sehr kurze Teile fragmentiert und im Aufbau und der Gestaltung dieser kleinen Episoden mehr leistet als in der Gesamtkonstruktion. Die Gesamtkonstruktion stellt einen linear verlaufenden Handlungsablauf dar, wobei die Entwicklung durch Akkumulation stattfindet.

Die Hauptgestalt, ein junger aufstrebender Gelehrter, der eben zum Dr. phil. promoviert wurde, schildert die näheren Umstände und das soziale Umfeld seiner Promotion, fährt fort in der Darstellung einer ganzen Reihe von Erwartungen, die er und seine junge Familie an diese Promotion knüpfen, sicherlich mindestens eine Professur an der Universität, und endet überraschend und völlig desillusionierend in der Ernennung desselben zum Verwalter eines Friedhofs.

Diese Vordergrundhandlung ist jedoch nur der Rahmen, der dem Autor die Möglichkeit gibt, eine Stadt mit ihrer ganzen Fauna und Flora darzustellen.

Arghezi liebt das Detail in allen Nuancen: Farben, Formen und Gestalten, Charaktere, Gerüche, Laute, Handlungsabläufe, so dass in diesen Detailbildern auch die Stärke seiner Prosa liegt. Zum Zeitpunkt des Erscheinens wurde "Der Friedhof" berühmt-berüchtigt durch eine ganze Reihe von Beschreibungen und Charakterisierungen prominenter Bukarester - heute würde man sie "VIPs" oder "Schickimickis" nennen.
So etwa das Kurzporträt einer Dame von Welt: "Eine unermesslich große laszive Betriebsamkeit sammelte alle dicken Fliegen und Blutegel der Politik um ihr Geschlecht wie um die honigtriefende Spalte eines ausgehöhlten Baumstumpfs. Während die Dame von einem Alkoven zum anderen schlüpfte und sich im Morast der Hochfinanz immer mit zehn Einflussreichen gleichzeitig wälzte, die von ihren mächtigen, rosafarbenen Schenkeln in den Bann geschlagen waren, beherrschte sie eine ganze politische und gesellschaftliche Epoche. Ihre Empfehlung schuf Professoren, Direktoren, Untersekretäre, Kabinettchefs, Abgeordnete, Lizentiaten. Ein alter Minister sagte von ihr, sie sei die einzige Frau, die ihn noch durch ihren Duft aufzustacheln vermöge, und der ihr eigene Duft sei derart ausgeprägt, dass selbst ihr Mann diesen Duft angenommen habe ..."

Jenseits dieser Einzeldarstellungen gelingt es dem Autor aber auch Zusammenhänge aufzudecken und darzustellen, die ganze Gesellschaftsschichten charakterisieren. Korruption, Heuchelei, Falschheit und Käuflichkeit der Politik, Oberflächlichkeit der viel beschriebenen balkanesischen Freundlichkeit, Unbildung, Dummheit und Arroganz des größten Teils der gesellschaftlichen Elite - und alle diese Eigenschaften werden vom Autor bis ins Absurde potenziert, so dass eine derartige Akkumulation, innerhalb derer ein Missstand durch einen anderen ergänzt wird, ein Fehlverhalten durch ein anderes übertroffen und Schuld nur durch eine größere Schuld ersetzt werden kann, letztendlich nur noch im Bereich des Absurden und Paradoxalen fortgeführt werden kann.

Der junge aufstrebende Wissenschaftler, der aufgrund seiner Promotion nicht an die Universität berufen wird, sondern von seinem alten Schulfreund, dem Minister, mit der Stelle eines Friedhofverwalters abgespeist wird (der Vergleich mit dem kleinsten Knochen, den man einem Hündchen hinwirft, drängt sich förmlich auf), erlebt in seiner neuen Umgebung, dem Friedhof, weniger friedhofseigene Vorgänge, nämlich Begräbnisse, als genau das Gegenteil - Auferstehungen. Eine "chronische Krankheit" greift um sich im ganzen Land: immer mehr Tote verlassen die Gräber, werden materiell, immer weniger Menschen erkranken und sterben, so dass der Friedhof letztendlich in einer klassischen "Pattsituation" endet, ein zeitloses oder ewiges Nirgendwo.

Arghezi verschafft sich also Zugang zu diesem Nirgendwo auf eine ganz eigene Art, die sich wesentlich abhebt von einigen Prozeduren, die den lateinamerikanischen Roman der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kennzeichnen (etwa bei Erico Verissimo, der ebenfalls Tote auferstehen lässt, bei dem aber das Fantastische eine eigene Sphäre bildet, die nur ansatzweise mit der Realität zu tun hat).

Das fantastisch Paradoxe und Skurrile entsteht bei Arghezi durch Überhöhung der Realität oder durch das schlichte Beim-Wort-Nehmen etwa der Heiligen Schrift.

So im Bericht eines Auferstandenen: "Wir haben 200 Jahre geschlafen. Als die Posaune ertönte hat die Erde gebebt wie der sommerliche Dunst im Baragan und die Strahlen sind durch uns gegangen wie durch einen Nebel und es ist uns Fleisch und Empfinden aus Nichtempfinden zuteil geworden", oder im Kommentar eines Mitglieds der eigens zur Untersuchung der Auferstehungsfälle eingerichteten Kommission: "Die Tiere haben im Stall zu Bethlehem an Jesus geglaubt, doch sie erinnern sich wer nicht daran glauben konnte: die Pharisäer, die Schriftgelehrten, die Erzpriester. Sie haben das vollkommene Wort und den Sinn der Wunder nicht bis ins Tiefste geglaubt weil die geschriebenen oder gesprochenen Worte nicht fähig sind den ganzen Sinn des Sprechens in sich aufzunehmen, das in der Seele geschehen und in sie hinabgestiegen ist."

"Der Friedhof" endet mit einer Szene, in der letztendlich im Gerichtssaal sowohl die angeklagten Auferstandenen wie auch alle Gläubigen, aber auch die Zweifler auf eine ekstatische Art den Glauben an das Wunder der Auferstehung bezeugen, so dass man sich fragen muss bei einem solch kritischen und satirischen Geist, wie es nun mal Arghezi gewesen ist, ob die rasche Abfolge des ganzen Auferstehungskomplexes nicht doch eine in der Gesamtstruktur verankerte Funktion hat. Aus der Perspektive der gesamten Prosa ist klar, dass dem Bild des allgemeinen Sittenverfalls nur ein Bild des fantastischen und paradoxen Absurden gegenüber gestellt werden konnte. Der Autor mag wohl die religiöse Einfärbung in der Behandlung des Themas seiner Jugendzeit entnommen haben, in der er als Mönch einige Jahre im Kloster Cernica verbracht hat, aber da er sich selbst relativ früh von dieser Frömmigkeit distanzierte, sollte man den religiösen Charakter nur als Mittel zum Zweck der Darstellung einordnen.

"Die gute Verkündigung" (so lautet eigentlich der Originaltitel in wörtlicher Übersetzung) zeigt eigentlich das Korrupte, Böse und Oberflächliche einer Gesellschaft, die im Verfall begriffen ist, und als solche hat sie, abgesehen vom literarischen Wert, auch noch den dokumentarischen Wert eines zeitgeschichtlichen Bildes.

(Georg Quante)

Tudor Arghezi: "Der Friedhof"
Aus dem Rumänischen von Roland Erb.
Eichborn, 1991. 404 Seiten.
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Tudor Arghezi, der 1880 in Bukarest geboren und ebendort 1967 gestorben ist, hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Seine Prosaschriften und Polemiken verraten den Einfluss Jonathan Swifts.


Dumitru Tsepeneag: "Hotel Europa"

Auf Abenteuer quer durch Europa


Ein in der französischen Emigration lebender rumänischer Schriftsteller, der mit einer französischen Journalistin verheiratet ist, schreibt einen Roman. Über Rumänien? Über Frankreich? Über die Revolution von 1989, die sogenannte "Revolution"? Oder über sich selbst? Er ist kurz nach den Ereignissen des Winters 1989 zum ersten Mal nach langer Zeit als Begleiter eines Hilfskonvois nach Rumänien gefahren und hat dort junge Leute kennen gelernt, unter anderem den Französischstudenten Ion. Ist er wirklich in Rumänien gewesen? Seine neuen Bekannten aus Bukarest - Ion an der Spitze - ziehen los, um Europa zu erkunden.  Davon soll der Roman handeln.  Der Schriftsteller aber kann die aufkommenden Fragen nicht eindeutig beantworten, und der Roman ist eine zwar imperativische, aber dann doch schattenhafte Vorstellung, was den Autor in ziemliche Schwierigkeiten bringt.

Das Schreiben geht nur stockend voran, und in einer solchen Situation ist es sehr leicht, die Schuld Anderen zuzuschieben: der eigenen Frau, die ihn immer wieder mit Fragen anbohrt, dem räsonierenden Siamkater (ein Verwandter des Bulgakowschen Katers Behemoth), der zwischendurch die eine oder andere missbilligende Bemerkung zum Roman und zum Schriftsteller fallen lässt, der literatur- und schöpfungsfeindlichen Stadt. Er beschließt, sich von all dem zu isolieren und aufs Land zu fahren in der Hoffnung, dort die fast klischeehaft wirkende "innere Ruhe" zu finden und seinen Roman voranzutreiben.

Was ihm dann jedenfalls gelingt, auch wenn er weiterhin zwischendurch mit sich selbst und seinen Figuren zu kämpfen hat. Wie etwa dann, wenn er sich darüber Gedanken macht, wie er seiner Hauptgestalt den Vorgang des Schreibens erklären soll:

"Vielleicht sollte ich ihm etwas über die Funktion des Erzählers sagen, über jenen rätselhaften Vermittler zwischen mir und ihm und dem Leser. Über jene Stimme, die den Klangraum des Romans ausfüllt (immerhin ist dies ihre Pflicht) und ohne die man nicht glaubt, dass überhaupt etwas existiert.  Nein, sie ist nicht die Stimme des Autors.  Der Autor ist wie der Heilige Geist: voller Ideen, aber unsichtbar, unhörbar. Er zieht alle Fäden, das stimmt, aber wem gehören sie? Will sagen, dass er Figuren braucht, und seien es noch so armselige Marionetten. Umgekehrt brauchen all diese Kreaturen, die keine menschlichen Wesen sind - deshalb nennt man sie ja auch Figuren! -, eine Stimme, um existieren, um sich ausdrücken zu können.  Eine Stimme, die wie eine Flüssigkeit in alle Zwischenräume dieser instabilen, sich allmählich auflösenden Konstruktion aus Worten und Bedeutungen sickert.  Wie in einem Traum kann sie unvermutet und in den verschiedensten Zusammenhängen auftauchen.  Unwirklich und allgegenwärtig ... Gewiss, ab und zu scheint es, als hörten wir die Stimmen der Figuren. Doch ist das nur Täuschung. Auch dahinter steckt der Erzähler: Er spielt alle Rollen, lenkt Äußerungen, Gedanken.  Denn irgendwo in den Kulissen kauernd, denkt er mit lauter Stimme." (S. 175-176)

Der Schriftsteller als Vermittler zwischen den Figuren und dem Leser - das stellt sich als Trugschluss heraus-, der Schriftsteller zieht vielmehr die Fäden, an denen die Marionetten-Figuren hängen, er allein steckt dahinter, er, der geheimnisvolle Zauberer bestimmt die Mechanik, nach der sich der ganze Kosmos des Romans bewegt.

"Hotel Europa" ist in kompositorischer Hinsicht ein interessanter Roman, ein mehrschichtiger Text, dessen unterschiedliche Handlungsebenen eine Struktur bilden etwa vergleichbar mit den Ebenen eines Gebäudes (eines - Hotels?): auf der untersten Ebene der Schriftsteller selbst mit seinen Zweifeln und Unsicherheiten, in einer permanenten Auseinandersetzung mit seiner Materie, auf der nächsten Ebene der Schriftsteller als Romangestalt mit Frau und Siamkater, und auf der letzten Ebene, einer Art Dachkammer, die Figuren des Romans, die der Schriftsteller beliebig manipuliert. Indem man auf diesem Dachboden der Konstruktion von Kammer zu Kammer geht, weitet sich der Handlungsraum immer mehr aus - zuerst Temeswar, dann Budapest, Wien, München, Heidelberg, Metz und Paris - und umfasst letztendlich Europa.

Unweigerlich denkt man an die Spielfilmgroteske "Fenster nach Paris" des Regisseurs Jurij Mamin und an das verwinkelte Gebäude in Leningrad, in dem man immer höher steigen kann, um schließlich durch ein Fenster direkt in einer Mansarde in Paris zu landen, oder an Ibolya Feketes Spielfilm "Bolsche Vita", eine Art Odyssee zweier russischer Jugendlicher, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ebenfalls über die Station Budapest in den Westen gelangen.

Offensichtlich greift Tsepeneag in seinem Buch ein für Osteuropa allgegenwärtiges Motiv auf: die Bewegung als Gegenpol zur Erstarrung, zu der ein halber Kontinent jahrzehntelang gezwungen wurde.

Trotz dieser manchmal kompliziert wirkenden Kompositionsweise, bei der es dem Leser zumindest anfangs ziemlich schwer fällt, die Ebenen der Handlung akkurat zu trennen, gelingt es dem Schriftsteller-Regisseur Tsepeneag, die Spannung seiner Handlungsfäden aufrechtzuerhalten, so dass die Konstruktion letztendlich in sich schlüssig bleibt. Auch wenn die Sprünge von einer Ebene zur anderen manchmal künstlich sind und sich dementsprechend hemmend auf den Handlungsablauf auswirken, auch wenn so mancher theoretisierende Einschub einen Bruch in der Struktur bedeutet, so bleibt Tsepeneag in den reinen Handlungspassagen ein Meister der Aktion und der Spannung.  Was dann auch stilistisch durch kurze, prägnante Sätze getragen wird. Seine Streuner sind in ständiger Bewegung; es ist, als hätte sie der Autor selbst nur kurz betrachten können, dementsprechend fallen die Porträts eher skizzenhaft aus, Häuser, Städte, Räume werden selten minuziös beschrieben. Auf Details wird oft zugunsten der Dynamik verzichtet.

Eigentlich ist die Bewegung das Thema von "Hotel Europa", der Drang des Osteuropäers nach Westen hin.  Das "Let's Go West!", das in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs immer wörtlich verstanden wurde, generiert ein extremes Sehnen nach dem bisher verbotenen Unbekannten. Die Symbolik der Bewegung ist die Stärke des Romans, auch wenn eventuelle Auswirkungen der Dynamik auf die Figuren ausgespart bleiben (etwa ein möglicher Zusammenhang zwischen den Reisestationen und den darin gewonnenen Erfahrungswerten, wie sie im klassischen Bildungsroman vorkommen, so dass hinsichtlich der Gattung eher von einem Schelmenroman gesprochen werden könnte). Manche Episoden bleiben in ihrer Zusammenfügung mit der Gesamtstruktur recht unklar und wirken kulissenhaft (zum Beispiel der Aufenthalt Mariannes, der Frau des Autors, in Moskau während des Putsches gegen Gorbatschow), wie auch der intendiert symbolhafte Charakter mancher Figuren (der immer wieder auftauchende Tiroler? oder Bayer? in Jägeruniform).

Problematisch erschienen uns auch einige Verknüpfungen von fantastischen Elementen mit der Realität; sie wirken ohne die adäquaten Verbindungselemente mechanisch (wie zum Beispiel der Siamkater, der, wie schon angedeutet, zwar an illustre Vorgänger erinnert, aber ein eher schwacher Abglanz derselben ist).

Trotz allem bleibt "Hotel Europa" insgesamt ein interessantes Buch und bietet größtenteils ungetrübten Lesegenuss.


Ein in der französischen Emigration lebender rumänischer Schriftsteller, der mit einer französischen Journalistin verheiratet ist, schreibt einen Roman. Über Rumänien? Über Frankreich? Über die Revolution von 1989, die sogenannte "Revolution"? Oder über sich selbst? Er ist kurz nach den Ereignissen des Winters 1989 zum ersten Mal nach langer Zeit als Begleiter eines Hilfskonvois nach Rumänien gefahren und hat dort junge Leute kennen gelernt, unter anderem den Französischstudenten Ion. Ist er wirklich in Rumänien gewesen? Seine neuen Bekannten aus Bukarest - Ion an der Spitze - ziehen los, um Europa zu erkunden.  Davon soll der Roman handeln.  Der Schriftsteller aber kann die aufkommenden Fragen nicht eindeutig beantworten, und der Roman ist eine zwar imperativische, aber dann doch schattenhafte Vorstellung, was den Autor in ziemliche Schwierigkeiten bringt.

Das Schreiben geht nur stockend voran, und in einer solchen Situation ist es sehr leicht, die Schuld Anderen zuzuschieben: der eigenen Frau, die ihn immer wieder mit Fragen anbohrt, dem räsonierenden Siamkater (ein Verwandter des Bulgakowschen Katers Behemoth), der zwischendurch die eine oder andere missbilligende Bemerkung zum Roman und zum Schriftsteller fallen lässt, der literatur- und schöpfungsfeindlichen Stadt. Er beschließt, sich von all dem zu isolieren und aufs Land zu fahren in der Hoffnung, dort die fast klischeehaft wirkende "innere Ruhe" zu finden und seinen Roman voranzutreiben.

Was ihm dann jedenfalls gelingt, auch wenn er weiterhin zwischendurch mit sich selbst und seinen Figuren zu kämpfen hat. Wie etwa dann, wenn er sich darüber Gedanken macht, wie er seiner Hauptgestalt den Vorgang des Schreibens erklären soll:

"Vielleicht sollte ich ihm etwas über die Funktion des Erzählers sagen, über jenen rätselhaften Vermittler zwischen mir und ihm und dem Leser. Über jene Stimme, die den Klangraum des Romans ausfüllt (immerhin ist dies ihre Pflicht) und ohne die man nicht glaubt, dass überhaupt etwas existiert.  Nein, sie ist nicht die Stimme des Autors.  Der Autor ist wie der Heilige Geist: voller Ideen, aber unsichtbar, unhörbar. Er zieht alle Fäden, das stimmt, aber wem gehören sie? Will sagen, dass er Figuren braucht, und seien es noch so armselige Marionetten. Umgekehrt brauchen all diese Kreaturen, die keine menschlichen Wesen sind - deshalb nennt man sie ja auch Figuren! -, eine Stimme, um existieren, um sich ausdrücken zu können.  Eine Stimme, die wie eine Flüssigkeit in alle Zwischenräume dieser instabilen, sich allmählich auflösenden Konstruktion aus Worten und Bedeutungen sickert.  Wie in einem Traum kann sie unvermutet und in den verschiedensten Zusammenhängen auftauchen.  Unwirklich und allgegenwärtig ... Gewiss, ab und zu scheint es, als hörten wir die Stimmen der Figuren. Doch ist das nur Täuschung. Auch dahinter steckt der Erzähler: Er spielt alle Rollen, lenkt Äußerungen, Gedanken.  Denn irgendwo in den Kulissen kauernd, denkt er mit lauter Stimme." (S. 175-176)

Der Schriftsteller als Vermittler zwischen den Figuren und dem Leser - das stellt sich als Trugschluss heraus-, der Schriftsteller zieht vielmehr die Fäden, an denen die Marionetten-Figuren hängen, er allein steckt dahinter, er, der geheimnisvolle Zauberer bestimmt die Mechanik, nach der sich der ganze Kosmos des Romans bewegt.

"Hotel Europa" ist in kompositorischer Hinsicht ein interessanter Roman, ein mehrschichtiger Text, dessen unterschiedliche Handlungsebenen eine Struktur bilden etwa vergleichbar mit den Ebenen eines Gebäudes (eines - Hotels?): auf der untersten Ebene der Schriftsteller selbst mit seinen Zweifeln und Unsicherheiten, in einer permanenten Auseinandersetzung mit seiner Materie, auf der nächsten Ebene der Schriftsteller als Romangestalt mit Frau und Siamkater, und auf der letzten Ebene, einer Art Dachkammer, die Figuren des Romans, die der Schriftsteller beliebig manipuliert. Indem man auf diesem Dachboden der Konstruktion von Kammer zu Kammer geht, weitet sich der Handlungsraum immer mehr aus - zuerst Temeswar, dann Budapest, Wien, München, Heidelberg, Metz und Paris - und umfasst letztendlich Europa.

Unweigerlich denkt man an die Spielfilmgroteske "Fenster nach Paris" des Regisseurs Jurij Mamin und an das verwinkelte Gebäude in Leningrad, in dem man immer höher steigen kann, um schließlich durch ein Fenster direkt in einer Mansarde in Paris zu landen, oder an Ibolya Feketes Spielfilm "Bolsche Vita", eine Art Odyssee zweier russischer Jugendlicher, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ebenfalls über die Station Budapest in den Westen gelangen.

Offensichtlich greift Tsepeneag in seinem Buch ein für Osteuropa allgegenwärtiges Motiv auf: die Bewegung als Gegenpol zur Erstarrung, zu der ein halber Kontinent jahrzehntelang gezwungen wurde.

Trotz dieser manchmal kompliziert wirkenden Kompositionsweise, bei der es dem Leser zumindest anfangs ziemlich schwer fällt, die Ebenen der Handlung akkurat zu trennen, gelingt es dem Schriftsteller-Regisseur Tsepeneag, die Spannung seiner Handlungsfäden aufrechtzuerhalten, so dass die Konstruktion letztendlich in sich schlüssig bleibt. Auch wenn die Sprünge von einer Ebene zur anderen manchmal künstlich sind und sich dementsprechend hemmend auf den Handlungsablauf auswirken, auch wenn so mancher theoretisierende Einschub einen Bruch in der Struktur bedeutet, so bleibt Tsepeneag in den reinen Handlungspassagen ein Meister der Aktion und der Spannung.  Was dann auch stilistisch durch kurze, prägnante Sätze getragen wird. Seine Streuner sind in ständiger Bewegung; es ist, als hätte sie der Autor selbst nur kurz betrachten können, dementsprechend fallen die Porträts eher skizzenhaft aus, Häuser, Städte, Räume werden selten minuziös beschrieben. Auf Details wird oft zugunsten der Dynamik verzichtet.

Eigentlich ist die Bewegung das Thema von "Hotel Europa", der Drang des Osteuropäers nach Westen hin.  Das "Let's Go West!", das in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs immer wörtlich verstanden wurde, generiert ein extremes Sehnen nach dem bisher verbotenen Unbekannten. Die Symbolik der Bewegung ist die Stärke des Romans, auch wenn eventuelle Auswirkungen der Dynamik auf die Figuren ausgespart bleiben (etwa ein möglicher Zusammenhang zwischen den Reisestationen und den darin gewonnenen Erfahrungswerten, wie sie im klassischen Bildungsroman vorkommen, so dass hinsichtlich der Gattung eher von einem Schelmenroman gesprochen werden könnte). Manche Episoden bleiben in ihrer Zusammenfügung mit der Gesamtstruktur recht unklar und wirken kulissenhaft (zum Beispiel der Aufenthalt Mariannes, der Frau des Autors, in Moskau während des Putsches gegen Gorbatschow), wie auch der intendiert symbolhafte Charakter mancher Figuren (der immer wieder auftauchende Tiroler? oder Bayer? in Jägeruniform).

Problematisch erschienen uns auch einige Verknüpfungen von fantastischen Elementen mit der Realität; sie wirken ohne die adäquaten Verbindungselemente mechanisch (wie zum Beispiel der Siamkater, der, wie schon angedeutet, zwar an illustre Vorgänger erinnert, aber ein eher schwacher Abglanz derselben ist).

Trotz allem bleibt "Hotel Europa" insgesamt ein interessantes Buch und bietet größtenteils ungetrübten Lesegenuss.

(Georg Quante)

Dumitru Tsepeneag: "Hotel Europa"
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Alexander Fest Verlag, 1998. 447 Seiten.
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Norman Manea: "Der schwarze Briefumschlag"

Symbole, Surrogate und unsichtbare Netze


Die aus einer Laune heraus intensivierte Suche nach der subjektiven Wirklichkeit im kollektiven Labyrinth aus Mauern des Vertuschens und des Schweigens, hinter tausend Schleiern verborgen, blind geworden von jahrzehntealten Lügen, treibt die Hauptfigur in einem unheilschwangeren Frühling durch Maneas Roman: Anantol Dominíc Váncea Voinóv brütet über seinen Vermutungen hinsichtlich der dunklen Geheimnisse, die sich um den Tod seines Vaters ranken. War es Mord, wie er glaubt? Oder hat sein Vater Selbstmord begangen, wie es offiziell verlautbart wurde? Lange zurück liegende Ereignisse rund um eine unglückliche Liebschaft und einen erpresserischen Brief umrahmen ein, trotz oder vielleicht gerade wegen gelegentlicher greller Lichteinfälle, fassbar düster-vernebelt bleibendes Bild der Personen und Zustände im Bukarest der 1980er Jahre, vor dem Umsturz, in einer Umgebung, wo Spitzeldienste, Verleumdungen, hintergründige Falschheit häufig und Ehrlichkeit, Wahrheit und loyale Freundschaft selten sind und überdies Kriterien von begrenzter Haltbarkeit darstellen. Der vorhin benutzte Ausdruck "düster-vernebelt" bezieht sich jedoch ausschließlich auf die rein oberflächlichen Äußerlichkeiten des Dargestellten, die sichtbaren Hüllen, nicht auf die einzelnen Charaktere, denn diese zeichnet Manea mit beeindruckender, geradezu beengender Detailgenauigkeit, mit ihren individuellen Stärken und Schwächen, die anhand von Rückschlüssen und Andeutungen, kaum jemals durch tatsächliche Aussagen oder gar Handlungen offenbar werden. Wie überhaupt zu betonen ist, dass Manea sich keineswegs in Gejammer über die schlechten Zustände - (Nahrungsmittelengpässe, mangelhafte Energieversorgung, Zensur) - ergeht, sondern eben diese äußerlichen Widrigkeiten in Summe die Kulissen auf der abgedunkelten Bühne für seine Figuren darstellen, deren jeweiliges schillerndes Innenleben den Roman insgesamt zum Leuchten bringt und zu einem besonderen Leseerlebnis macht.

So trinken seine "Ersatz"-Menschen Kaffeeersatz und tummeln sich in den Grenzen einer Ersatzgemeinschaft. Da gibt es den bereits erwähnten Professor Anatol Dominíc Váncea Voinóv, genannt Tólea, der seine schwarze Kleidung wie eine Rüstung trägt, dessen Schicksal nach einem unglückseligen Zwischenfall besiegelt ist, dessen Bruder nach Argentinien ausgewandert ist, und dessen Vater, Marcu, ein an der Sorbonne promovierter Philosoph, sein Leben als Weinhändler - und unter höchst seltsamen Umständen - beendet hat.
Matei Gaftón, bei dem Tólea zur Untermiete wohnt, ein ehemaliger Journalist, verbringt den Großteil seiner Zeit in Bibliotheken und verfasst Beschwerdebriefe, die er, so er sie nicht umgehend vernichtet, an Behörden und die Presse schickt. Seine Frau Vetúria erteilt ausländischen Studenten Privatstunden und sammelt "Trophäen vom Transit; Surrogate, verderblichen Ramsch des planetaren Jahrmarkts". Dr. Marga, der Arzt mit dem Glasauge, leitet eine Nervenheilanstalt. Und nicht zu vergessen die GESELLSCHAFT, der Musterverein, dessen Vorsitzender der Genosse Orest Popescu ist. An ihn gerichtete Spitzelberichte durchziehen den Roman; jede Figur ist ein beobachteter Beobachter, ein verleumdeter Verleumder.

Ein Ereignis beschäftigt die Bewohner Bukarests in diesem belasteten Frühling besonders:
Eine Frau wurde von einem Schlägertrupp in ihren eigenen vier Wänden überfallen und misshandelt, ihre Haustiere wurden allesamt getötet und die Wohnung in Brand gesteckt ...
Auf der riskanten Suche nach den Mördern seines Vaters irrt und strebt Anatol Dominíc Váncea Voinóv durch die Wirren des rumänischen Alltags zur Zeit der Ceauçescu-Diktatur, führt den Leser durch seine Welt der flüchtigen Begegnungen im starren Rahmen seiner peinlich genauen individuellen Alltagsroutine. Der ehemalige Professor musste seinen Beruf infolge eines fatalen Missgeschicks aufgeben; seither versieht er Dienst als Portier in einem verrufenen Hotel und versucht, seine Bekannten in schier endlosen Monologen für allerlei sonderbare Theorien zu begeistern.

Manea beherrscht das Kunststück, durch Momentaufnahmen inhaltliche Dichte ohne sprachliche Schwere zu erschaffen; eine elegante Dichte, die den Leser nicht erdrückt, sondern bezaubert und genug Raum für eigene Schlussfolgerungen belässt. Ein intensives Meisterwerk der rumänischen Literatur, das der Autor nach Ende der Ceauçescu-Diktatur überarbeitete, und dessen Bedeutung weit über jene eines Zeitdokumentes hinausreicht.

Norman Manea wurde 1936 in der Bukowina geboren, 1941 mit seiner Familie deportiert. Er überlebte das Vernichtungslager und emigrierte in die USA.

(Doris Krestan)

Norman Manea: "Der schwarze Briefumschlag"
Aus dem Rumänischen von Paul Schuster.
Hanser, 1995. 352 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Norman Manea: "Die Rückkehr des Hooligan. Ein Selbstporträt"
Norman Manea wurde zum Augenzeugen zweier Schreckensherrschaften: mit fünf Jahren wurde er als Kind jüdischer Eltern nach Transnistrien deportiert, mit fünfzig war er gezwungen, aus Ceauçescus Rumänien zu emigrieren. Seine Autobiografie ist ein "Buch der Wut" (Charles Simic) und das Porträt eines Heimatlosen, dem das Schreiben zum einzigen Vaterland wurde.
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Carmen-Francesca Banciu: "Vaterflucht"

Verdrängen als Überlebensstrategie - 155 Seiten angst und bang


Zwei Jahre nach dem in deutscher Sprache verfassten Roman Vaterflucht erschien im Jahr 2000 Ein Land voller Helden als Übersetzung des rumänischen Ein Tag ohne Präsident. Der Originaltitel lässt einen direkteren Bezug zum dargestellten Geschehen herstellen, dem Machtwechsel in Rumänien nämlich, der Zeit unmittelbar davor und danach.

In Vaterflucht ist der Zeitrahmen weitläufiger; mit autobiografischer Schlagseite wird darin einerseits die fortschrittsgläubige Elterngeneration mit ihrem seltsame Blüten treibenden Ehrgeiz, den "Neuen Menschen" hervorzubringen, an den Pranger gestellt, andererseits die Ablehnung der aufokroyierten Ideale und Verhaltensmuster durch die Kinder beschrieben. Dass dabei mitunter etwas über das Ziel hinaus geschossen wird, ist wohl dem Rückstau an allzu lange unterdrücktem Aufbegehren zuzuschreiben. Vaterflucht muss man als Produkt eines langen Prozesses ansehen, der mehr als nur eine Generation kollektiv sowohl zur Beichte als auch zur therapeutischen Selbstbetrachtung auffordert. Der überwiegend als Rückschau angelegte Roman thematisiert das Einzelschicksal einer unerwünschten Tochter und deren Befindlichkeit im zunehmend als dubios empfundenen Jubel- und Arbeitskollektiv vor dem spezifischen Hintergrund der Ereignisse in Rumänien, ungefähr ab der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Diese Tochter fährt mit ihrem siebenjährigen Sohn nach Jahren des selbstgewählten Exils zurück in ihre rumänische Heimat, um ihren Vater zu besuchen. Die Mutter ist längst verstorben, der Vater wirkt nicht mehr so bedrohlich und feindselig wie früher, und auch die politischen Verhältnisse haben sich geändert. Während der Bahnfahrt blickt die Ich-Erzählerin, und mit ihr der Leser, endlose 155 Seiten lang zurück auf Kindheits- und Jugenderlebnisse, die insgesamt ein bedrückendes Bild der rumänischen Zustände entstehen lassen. Sei es, dass der Vater, der kein Kind - und schon gar keine Tochter - wollte, aktiver Propagandist und Parteifunktionär war, bis ihn die Vorhaben seiner Tochter parteiintern in Ungnade fallen ließen, sei es, dass die vernachlässigte, unglückliche Mutter ständig unter entsetzlichen Kopfschmerzen litt, oder dass die Eltern sich demonstrativ in Verzicht zu Gunsten der "missratenen" Tochter übten. Zwischendurch kehrt regelmäßig das Motiv des bevorstehenden aufwühlenden Zusammentreffens mit dem Vater wieder.

In der Wohnsiedlung zeichnete sich, wie auch später in der Schule, das gegenseitige Bespitzeln und die damit verbundene Angst, unangenehm oder überhaupt aufzufallen, ab. Der allerorts beschworene Aufschwung wollte nie so recht einsetzen, die Verhältnisse für den einzelnen Menschen wurden nicht und nicht besser.
Die Ich-Erzählerin schrieb schon von klein auf Geschichten, die ihr immer wieder Erklärungsbedarf bescherten, weil ihre Ansichten und Denkweisen mehr waren als reine Reproduktionen der staatlich verordneten. Sie ging jedoch, vielen Widrigkeiten zum Trotz, und insofern gar nicht so anders als Heranwachsende andernorts auch, ihren Weg und musste infolgedessen zahlreiche Unannehmlichkeiten auf sich nehmen, die darin gipfelten, dass sie aufgrund einer geplanten Demonstration für ausgebeutete Bauern drei Monate lang tagtäglich von Mitarbeitern der Securitate verhört wurde. Im Verlauf dieser peinlichen Befragungen und Rechtfertigungen wurde ihr bewusst, dass es immer jemanden in ihrer Nähe gegeben haben musste, der ihrer Akte Vermerke, Protokolle und Dokumente zugetragen hat, denn der Geheimdienst war bestens über ihre Interessen, Handlungen und Beziehungen informiert. Aus für sich genommen wahrlich unergiebigen Details wie ihren brieflichen Auslandskontakten, der Tatsache, dass sie Kirchenmalerei studierte und Romane schrieb, wurden Verdächtigungen konstruiert, die ihr jede Hoffnung auf eine erträgliche Zukunft in Rumänien raubten und sie zu einem Selbstmordversuch trieben.

Den Wunsch der Autorin um Aufklärung und Klarheit in Ehren - dennoch scheint es, als habe sie nicht den entscheidenden Durchbruch zur unverschleierten Darstellung der sie so offenkundig schwer belastenden Vergangenheit gefunden, und als verstelle sie sich selbst den Blick auf die zumutbare Wahrheit. Eine Vaterflucht wurde konzipiert, eine Land- und Sprachflucht ist es letztendlich geworden. Offen bleibt ebenfalls die Frage, ob man tatsächlich die Schuld bzw. die Verantwortung für das innere Abstumpfen, die subjektiv empfundene zwischenmenschliche Kälte oder für die zahlreichen Fehlschläge im familiären Bereich einzig und allein dem politischen System zuschieben kann/darf/soll oder ob dergleichen nicht vielmehr dort weitverbreitet ist, wo Ignoranz und Oberflächlichkeit regieren - und die kleinste Einheit dafür ist die Seele des Einzelnen ...

Carmen-Francesca Banciu wurde im Jahre 1955 im rumänischen Lipova geboren, studierte Kirchenmalerei und Außenhandel und hatte in ihrer Heimat unter Publikationsverboten zu leiden. Seit 1991 lebt sie als freie Autorin in Berlin. Gewiss ist es der Schriftstellerin erster Roman in deutscher Sprache, und der gehetzte, atemlose Schreibstil setzt das Motiv der Vaterflucht recht trefflich um - freilich ist die Lektüre bisweilen mühsam! Amputierte, widerborstige Sätze, die mehr roh gestammelte Assoziationsketten als Erzählfluss sind; Punkte und Beistriche verdrängen alle anderen Satzzeichen, was ein diffuses Gefühl des Unwillens hervorrufen mag. Aber womöglich soll sich der Leser gar nicht bequem-nostalgisch in diesen Roman kuscheln, sondern hautnah mitleiden, sich hineinsteigern (lassen)?

(Felix Grabuschnig)

Carmen-Francesca Banciu: "Vaterflucht"
Verlag Volk & Welt, 1998. 155 Seiten.
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Die Rezension von Carmen-Francesca Bancius "Berlin ist mein Paris" finden Sie hier ...


Gellu Naum: "Rede auf dem Bahndamm an die Steine"

"Bis ins Mark infiziert mit Literatur"


"Ich bin bis ins Mark infiziert mit Literatur, und ich wette, dass jeder Arzt in jedem meiner Nerven den faulenden Wundbrand der Poesie sehen könnte." Auf diese unmissverständliche und extreme Art beschreibt der Dichter Gellu Naum sein Verhältnis zur Literatur, von der er seit dem 18. Lebensjahr fasziniert ist. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Bandes war er 83 Jahre alt und schien dennoch damals "der jüngste und produktivste rumänische Dichter" (Ernest Wichner) zu sein.

Gellu Naum hat sich 1938 in Paris aufgehalten und dort die Bekanntschaft namhafter Surrealisten gemacht, unter anderem auch Andre Bretons, nachdem er schon 1932 in Bukarest ein erstes überwältigendes Erlebnis anlässlich einer surrealistischen Ausstellung Viktor Brauners hatte. Naum brachte damals seine Faszination auf den Punkt: Er wolle so schreiben, wie die Bilder Brauners gefertigt seien. Es mag sich dabei vor allem um die Methode der Befreiung des Geistes gehandelt haben, einer generellen Befreiung im Sittlichen, Künstlerischen, Ästhetischen, Ideologischen, so wie sie von den Surrealisten propagiert wurde. Auch wenn er 1938 zu spät nach Paris gekommen war, um die innovativen Energien des Surrealismus unmittelbar zu erleben, so erlebte er doch die Umsetzung der Poesie in die Praxis mit allen ihren (ideologischen) Vor- und Nachteilen. Er selbst bemühte sich um die künstlerische Umsetzung des Surrealismus in Rumänien und gehörte in den Jahren 1939 bis 1947 zu den Hauptakteuren einer regen Gruppe von rumänischen surrealistischen Künstlern. Mit der Machtergreifung durch die Kommunisten jedoch löschte der aufoktroyierte sozialistische Realismus solche Orientierungen für lange Zeit aus.

Nach dem Sturz der Diktatur in Rumänien hat der Dichter eine neue Freiheit gefunden, die Freiheit, nur Dichter zu sein, zu schreiben ohne Druck oder Einschränkung von außen, einen Neuanfang unter ungewöhnlichen Bedingungen zu machen, sich also ausschließlich dem Gedicht zu widmen. Das mag auch den produktiven Aufbruch der späten Jahre erklären.

Die Texte des vorliegenden Bandes sind in fünf Abschnitte gruppiert: "Fläche und Oberfläche", "Transitreisen", "Dinge im Wasser", "Die verborgene Seite im pflanzlichen Leidensbereich" und "Rede auf dem Bahndamm an die Steine". Thematisch bilden sie jedoch eine Einheit. Ein eigenartiges, oft skurriles Universum wird Zeile für Zeile und Seite für Seite aufgebaut, wobei der Einstieg für den Leser nicht immer einfach ist. Hatte doch eine der oft zitierten Erklärungen der Surrealisten gelautet: "Am Anfang geht es nicht darum, sie (die Poesie) zu begreifen, sondern sie zu mögen."

Ein Charakteristikum der Gedichten Naums - (das man problemlos annimmt und auch mögen lernt) - ist das Fehlen der Interpunktion, so dass die lyrische Aussage pausenlos abgespult wird, wobei der Sinnzusammenhang von der jeweiligen Zeile oder von Abschnitten bestimmt wird, die optisch durch Freiräume im Zeilenfluss markiert sind. So z. B. in "Rede auf dem Bahndamm an die Steine":

"Ich sprach auf einem leeren Bahndamm zu den Steinen
mit ausgedehntem Rauschen fiel der Abend ein
zwischen den Zweigen ging etwas zu Ende
das auf Chaosgeometrie hinauslief
die schweren Felder führten jetzt in vier
verschiedene Richtungen am Himmel
seelenruhig schmauchte der Mechaniker

es gab genügend Plätze
ich wählte einen
da saßen wir auf einmal eine strenge Strafzeit ab
am Abend fiel das Haar uns aus

wir legten es auf die Seite
mit ausgedehntem Rauschen fiel der Himmel ein in uns brach was zusammen

ging zu Ende."

Einige Gedichte spiegeln alltägliche, oft banale Vorgänge und Begebenheiten, manchmal ist es eine Reise über Land oder ein Gespräch, ein Erinnerungsfetzen, der Garten. Doch schon in den Anfangsbildern solcher Texte eröffnet sich dem Leser eine andere Welt: die banale Reise wird existenziell, das Gespräch führt ins Grundsätzliche einer Entscheidung oder Weltanschauung. Der Zugang von einer Ebene zur anderen erfolgt über Assoziationen, Vergleiche oder Kombinationen von fremden und verfremdenden Sinnelementen (die Trauer des Holzes, ein Hund will Kalk fressen, Blumen erniedrigen sich usw.). Andere Gedichte weisen oft schon im Titel auf Grundsätzliches hin, wobei auch in diesen Fällen ein Verfremdungsprozess in umgekehrtem Sinn stattfindet, indem alltägliche Details die lyrische Aura durchbrechen.

So in "Der Schatten":

"... im Garten pfeift klagend eine Amsel
was tust du mit den Händen fragt sie
ich halte sie übereinander, Bein über Bein antworte ich."

- oder auch im Gedicht "Der Vogel Wasile" oder in "Die schwarze Schachtel":

"Es wird immer Schatten oben geben
die wie ein Regen auf euch fallen werden

also riefen Jessie Norman und Kathleen Battle vom Himmel
ich sah sie von unten an."

In jedem Falle sind Naums Gedichte spannende, oft dramatische Auseinandersetzungen des Ichs mit der Welt im ganzen und im einzelnen.
Die Übersetzungen Oskar Pastiors erschaffen die Texte oft neu, ein Prozess des Nachdichtens, der insgesamt interessant, manchmal aber auch riskant sein kann.

(Georg Quante)

Gellu Naum: "Rede auf dem Bahndamm an die Steine"
Gedichte rumänisch und deutsch.
Aus dem Rumänischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung versehen von Oskar Pastior und einem Nachwort von Ernest Wichner.
Ammann Verlag, 1998.
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In diesem Zusammenhang soll "Oskar Pastior entdeckt Gellu Naum" nicht unerwähnt bleiben! Der Gedichtband aus der Reihe "Dichter entdecken Dichter", in der z. B. auch "Paul Auster entdeckt Charles Reznikoff", "Robert Gernhardt entdeckt Heinrich Heine", "Sarah Kirsch entdeckt Christoph Wilhelm Aigner", "Cees Nooteboom entdeckt Eugenio Montale" und "Günter Kunert entdeckt Nikolaus Lenau" erschienen sind, enthält neben einer Auswahl an Neu- auch zahlreiche Erstübersetzungen von sprachgewaltigen Texten ohne Schnörkel des im September 2001 verstorbenen rumänischen Schriftstellers.

"Blinde Krähe"

In der Morgenfrühe die vielleicht der Anfang der Nacht ist
dieser Stunde wo ich voller Disteln und als Toter
durch die Erdgeschichte krauche
oder nackt und unbeweglich plötzlich
vor der Auslage mit photographischen Artikeln stehe
an diesem Morgen voller Sonnenschein und Mondrian
und erdolchten Erzherzögen in blutroten Coupés
flattert und ich hör es ohne einen Laut
in uns selber diese Rabenvogelkrähe"

Dass hier der Übersetzer als Entdecker tätig wurde, ist bemerkenswert und bleibt nicht ohne Folgen: Nicht schüchternes Neben-den-Zeilen-Verharren ist das Ergebnis, sondern tätiges Nachdichten, das dem Leser jedoch allerhand gleichermaßen Entdeckenswertes wie Rätselhaftes zum Grübeln übrig lässt. Jenseits oberflächlicher Moralbegriffe steht das höchstpersönliche Beziehungsspiel mit der Umgebung im Vordergrund. Der Surrealist Gellu Naum malte mit Worten, und auch Oskar Pastior beherrscht diese Kunst. Inwieweit der geschulte Blick des Entdeckers für nachfolgende Entdeckungsreisende prägend war und ist, wird sich zeigen ...

"Oskar Pastior entdeckt Gellu Naum"
Gedichte.
Europa Verlag, 2001. 94 Seiten.
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In Zeiten der Zensur entstanden eher notgedrungen denn aus freien Stücken mehr oder minder unterschwellig kritische Texte, deren besonderer Reiz darin besteht, dass Denkansätze eher zwischen den Wörtern und Zeilen als im konkreten Ausdruck zu finden sind, sofern sich der jeweilige Autor nicht der nationalistisch-romantisierenden (Selbst-) Betrachtung hingegeben, sondern im Rahmen der Möglichkeiten Stellung bezogen hat.

Marin Sorescu: "Der Fakir als Anfänger"

Gedichte und Ansichten

Aufgrund des innenpolitischen Klimas in seiner Heimat war der der 1927 geborene Marin Sorescu über lange Jahre hinweg gezwungen, sich "interpretierbarer" Ausdrücke zu bedienen, Chiffren zu entwickeln, und mit seiner Sensibilität für treffsichere Formulierungen überlistete er gelegentlich die aufmerksamen Zensoren. So konnte er den riskanten Spagat zwischen Anerkennung und Publikationsverbot meistern, wobei ebendieser Freiraum mitunter eben doch Beanstandungen seitens der staatlichen Meinungswächter zur Folge hatte.

Der vorliegende Band beinhaltet ausgewählte Werke aus drei zuvor in Rumänien erschienenen Büchern sowie den Manuskripten des Autors, darunter Gedichte sowie Texte von Reden, die der Autor bei Zusammenkünften mit Schriftstellerkollegen in Deutschland gehalten hat.

Sorescu war nämlich in der glücklichen Lage, bereits zu Ceauçescus Zeiten an Poesiefestivals jenseits der Staatsgrenzen teilnehmen zu dürfen - wohl auch, weil das Regime Gefallen daran fand, sich mit einem international anerkannten, "kritischen" Schriftsteller zu schmücken.
Marin Sorescus ernsthafte, jedoch keineswegs humorlose Gedichte und Betrachtungen sind nach wie vor aktuell und weitaus mehr als therapeutischen Zwecken dienende verblassende Standbilder eines zerbröckelten politischen Systems.
Der Schriftsteller und ehemalige Kulturminister verstarb 60jährig an den Folgen einer Zirrhose, verursacht durch Hepatitis C.

Marin Sorescu: "Der Fakir als Anfänger"
Gedichte und Ansichten.
Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Oskar Pastior.
Carl Hanser Verlag, 1992. 104 Seiten.
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Dieter Schlesak: "Gefährliche Serpentinen"
Gedicht-Anthologie.

Als 16jähriger Lyzeaner in Kronstadt/Siebenbürgen trug ich drei Bücher monatelang in meiner Schultasche mit; "Zusatzlektüre" nannte man das. Eines war "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" - mein damaliger Deutschlehrer hatte mich mit einem Referat darüber beauftragt. Das Referat habe ich geschrieben, aber das Buch erst einige Jahre später richtig verstanden.
Ein anderes schmales Bändchen war von E. A. Poe: "Die Abenteuer des Gordon Pym" und gehörte gar nicht zum Unterricht; Weltliteratur gab es erst zwei Jahre später.
Ein drittes Buch war ein dicker Gedichtband, gebunden in dunkelgrünem Karton: sämtliche Gedichte von Lucian Blaga in rumänischer Sprache. Das Bildnis dieses feinen, sanften Mannes mit melancholischem, fragendem, ja fast traurigem Blick zierte unsere Aula: er war auch Schüler unserer Schule gewesen. In dem Gedichtband fand ich eine für mich damals überraschende Aussage, nämlich dass Dichtung den Zauber der Welt nicht entschlüsseln, sondern vertiefen würde.

Die Erinnerung an das Buch mit den dunkelgrünen Umschlägen stellte sich augenblicklich ein, als ich den Gedichtband "Gefährliche Serpentinen" in die Hand nahm und durchblätterte. Dasselbe beachtliche Volumen, die Gedichte darin ebenfalls akkurat nach Themen (fast zyklisch) geordnet, hier wie dort biografische Angaben zu den Autoren, ein umfassendes und sehr gutes Nachwort, das zu den Gedichten und dem Umfeld hinführt - (dem Herausgeber ist nicht genug zu danken!). Dazu auch noch die Tatsache, dass viele der Autoren dieses Bandes (wie auch Blaga) zeitweilig zu Unterdrückten der kommunistischen Diktatur stalinistischer oder maoistischer Prägung geworden waren: eingesperrt, weggesperrt, schreib- und publikationsgesperrt.

Ein herausragendes Buch, das wie kaum zuvor das Gesamtphänomen der rumänischen Nachkriegslyrik analytisch präsentiert, ein Buch, das nach Jahrzehnten mangelnder Kommunikation zwischen Ost und West endlich die Vitalität der rumänischen Lyrik international bekannt macht.

Thematische Kraftlinien durchziehen wie ein kompliziertes Nervensystem den Band. Traditionelle Themen wie Tod oder Transzendenz führen zur freien Bewegung auf der Zeitachse oder zum unkontrollierten Schweben entlang der Zeitkoordinaten, wobei fast immer eine Überbrückung der historischen Zeit angestrebt wird. Autochtone Themen wie etwa das "Mioritische" als geografischer Raum, der den darin lebenden Menschen und dessen Innenleben formt, werden zur symbolbeladen Kulisse, zur Landschaft als lyrisches Objekt oder als Detail auch nur gestreift. Und wichtiger (weil spezifisch) die Satire und Parodie als Lebensweise und Form der nationalen Selbstdarstellung, die etwa in I. L. Caragiale einen illustren Vorläufer hatte. Dazu die "mythische Seele", die aufgrund der historischen Bedingungen einen grundsätzlichen Hass produziert, nach dem Motto: "Hasse deinen Nächsten wie dich selbst."

Eine sehr gründliche und präzise Analyse dieser thematischen Koordinaten wird von Dieter Schlesak im Nachwort durchgeführt.
In diesem Rahmen bleibt uns lediglich der Hinweis auf einige wenige zentrale Gedichte.

Zum Beispiel auf die Wirklichkeitsbewältigung durch Selbstparodie in Marin Sorescus "Studie":

"Ich kam mir schon lange verdächtig vor,
und gestern heftete ich mich an meine Fersen
und beschattete mich unauffällig den ganzen Tag.

Nun gut, ich bin weit gefährlicher,
als ich dachte ..." (Seite 50)

Oder Ana Blandianas feinsinnigen poetischen Resignationen aus "Im Schlaf":

"... es geschieht mir, dass ich im schlaf
aufschreie,
nur im schlaf.
ich erwache und bin erschrocken
über so viel mut
in der stille der disziplinierten nacht,
und ich versuche es, den schrei
des ruhenden nachbarn abzuhören ..."(Seite 64),

und das berühmte "Ich glaube":

Ich glaube wir sind ein Volk von Pflanzen
Wie anders könnten wir sonst ruhig
auf unsere Entlaubung warten?
Würden wir sonst den Mut haben
wie im Schlaf auf einer Rutsche
fast bis in den Tod zu gleiten
mit der Gewissheit
dass es ein leichtes sein wird
noch einmal geboren zu werden ...
Ich glaube wir sind ein Volk von Pflanzen.
Wer hat schon einen Baum gesehen
der sich aufbäumt?" (Seite 74).

Mircea lvanescu ("Rufe über den Wolf") bewältigt das Obskure und Geheimnisvolle der Wirklichkeit, indem er es potenziert:

"Wie alles vergolten wird ... Immer wieder sagte ich,
wenn ich an einen Tisch trat, an dem mehrere saßen
und mich erwarteten oder
mich teilnahmslos hinnahmen - ich sagte:
"Welches Leid", Manche lachten. Ich selbst
wusste ja nicht recht, was ich sprach, bloß soviel:
In der Nacht, als ich mich an den Augenblick erinnerte,
da ich seine gespannten Züge gewahrte und
die in einer fremden Sprache vorgebrachten Worte hörte, mit den
gleichen Silben, die beharrlich an meine Schläfe hämmerten,
und das Gesicht anstarrte, wissend,
im Gedächtnis wird die gleiche Folge der Worte
und Mienen ausgelöst: in jener Nacht
ermaß ich, wie groß dieses Leiden ist." (Seite 11)

Nichita Stanescus "Lied" konzentriert die Realität auf einen einzigen Augenblick, dessen Intensität ins Metaphysische hinführt:

Nur dieser Augenblick hat ein Erinnern.
Was wirklich war, weiß keiner mehr.
Die Toten tauschen unter sich zur Zeit
die Namen, die Zahlen, eins, zwei, drei...
Nur noch was sein wird, ist,
und was noch nie geschehen
hängt an dem Aste eines Baumes,
zart, ungeboren, wie Geister entstehen.
Es gibt nur meinen hölzernen Leib,
und nichts mehr, nur noch Alter, Stein
Und meine Traurigkeit, sie hört
die ungebornen Hunde bellen.
Die angekläfften Niegebornen,
oh, nur noch diese werden sein!
Wir, die Bewohner dieses Augenblicks,
sind nichts als ein Mitternachtstraum.
und da mit ungezählten Füßen." (Seite 311)

Noch ein Wort über die scheinbare Lust einiger Übersetzer am Verdrehen, Aussparen oder "kreativen Ergänzen" (eine Prozedur, die wir auch im Fall von Gellu Naums "Rede auf dem Bahndamm zu den Steinen" als ziemlich irritierend empfanden).

In Mircea Dinescus Gedicht "Rede anlässlich der Aufnahme eines östlichen Landes in Europa" (das auch im Original abgedruckt ist - Seite 172/173) steht sinngemäß: ".... ab morgen werdet ihr mich schwerer aus der Kneipe herausholen als Shakespeare aus der Encyclopaedia Britannica" und leider nicht ".... ab morgen kriegt Ihr Shakespeare aus der Encyclopaedia Britannica leichter heraus als mich aus der Kneipe". "Hotul rusinat" ist leider nicht ein "reuiger Dieb", "bunul Dumnezeu" nicht Gott schlechthin (sondern eher der "liebe Gott"), "uitati linga sura" konnten wir in der deutschen Fassung leider nicht wiederfinden, "musafirii" (allein) sind keineswegs der "hohe Besuch" usw. usf.

Das Übersetzen von Gedichten kann manchmal ein riskantes Geschäft sein.

(Georg Quante)

Dieter Schlesak: "Gefährliche Serpentinen"
Gedicht-Anthologie.
Rumänische Lyrik der Gegenwart, ausgewählt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Dieter Schlesak. Übertragen von Werner Söllner, Oskar Pastior, Ernst Wichner, Gerhard Csejka, Lioba Happel, Rolf Bossert, William Totok, Franz Hodjak, Anemone Latzina, Joachim Wittstock, Dieter Schlesak und vielen anderen, mit Zeichnungen von Pomona Zipser.
Druckhaus Galrev, 1998. 421 Seiten.
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