Paul Auster: "Die Brooklyn-Revue"


Paul Auster ist einfach ein begnadeter Geschichtenerzähler, dessen Bücher man regelrecht schmecken und riechen kann. Er verbreitet schon auf den ersten Seiten eine ganz eigene Aura, er führt seine Personen auf eine Weise ein, die den Leser sofort gefangennimmt. Und dann lässt man sich treiben von einer Geschichte zur anderen, traurige und lustige Geschichten sind das, jüdische Geschichten, Anekdoten und Witze, und all die einzelnen Geschichten einer Handvoll Personen ergeben ein Bild. Ein Bild eines Stadtteils, einer Stadt, des Zustandes eines Landes kurz vor seiner bisher größten Katastrophe am 11. September 2001.

Obwohl er immer beschreibend bleibt, bezieht Auster Position gegenüber seinen Figuren; konkret wird das in den Diskussionen um die Wahl zwischen George Bush jr. und Al Gore: "Wann hat ein Volk zum letzten Mal auf einen Busch gehört? Antwort: Das Volk Israel, und das Ergebnis war, sie mussten 40 Jahre in die Wüste."

Nathan Glass, ein frühpensionierter Versicherungsvertreter, hat die Scheidung von seiner Frau und eine Krebstherapie einigermaßen glücklich überstanden und beschließt, von New Jersey nach Brooklyn zu ziehen, wo er die ersten drei Jahre seines Lebens verbrachte. Er zieht dorthin, "um auf den Tod zu warten." Nathan Glass schreibt gerne, und so legt er ein Buch an, das er "Das Buch menschlicher Torheiten" nennt, und in dem er "in möglichst einfacher und klarer Sprache jeden Fehler festhalten (will), jede Blamage, jede Peinlichkeit, jede Idiotie, jede Schwäche und jede Albernheit, die ich im Laufe meiner langen, buntscheckigen Karriere als Mann begangen hatte." Geschichten von Bekannten oder auch historische Ereignisse sollen ebenso Eingang in dieses Buch finden.

Von einigen dieser Geschichten erfährt der Leser auch, doch als Nathan eines Tages bei einem Bummel durch Brooklyn zufällig seinen Neffen Tom Wood trifft, schreibt das Leben die Geschichten auf einmal selbst. Tom ist ziemlich heruntergekommen und arbeitet bei einem Antiquar namens Harry Brightman, einem jüdischen Unikum. Spätestens hier, bei der Schilderung, wie es in diesem Buchparadies zugeht und welche Geschichten dort umgeschlagen werden, kommen einem die beiden von Paul Auster geschriebenen Filme "Smoke" und "Blue in the Face" in den Sinn, wo ein Eckladen Ort der Begegnung von allerlei menschlichen Unikaten ist.

Und ähnlich wie dort, begegnen uns auch in "Die Brooklyn-Revue" Menschen, deren vordergründige Erscheinung nur Fassade ist für die Geschichte, die sich dahinter verbirgt, und die nur darauf wartet, erzählt zu werden. Ja, manchmal drängt sich der Eindruck auf, das Leben sei einfach nur eine Reihe von erzählten Geschichten und einer noch größeren Anzahl von noch nicht erzählten, die quasi auf ihre Erlösung warten.

Nathan Glass rekonstruiert in Ich-Erzählform seine Familiengeschichte und führt zusammen, was zusammengehört. Auch der Tod des mittlerweile zum Freund gewordenen Harry Brightman und sich dadurch zerschlagende Träume von einem gemeinsamen "Hotel Existenz", von dem vor allem der belesene und noch gesprächigere Tom dauernd redet, können die Lebenslust Nathans nicht bremsen. Vom Warten auf den Tod ist keine Rede mehr. Und er plant ein neues literarisches Projekt: Er will Bücher über die Vergessenen herausbringen; Menschen, die niemals einen Namen hatten, will er gegen ein kleines Honorar der Hinterbliebenen einen Namen, eine Geschichte, einen Text, ein Buch geben. Urjüdische Hoffnung, kräftig und stark: "Man sollte die Macht von Büchern nie unterschätzen."

Mitten in diesen Plänen - ein Krankenhausaufenthalt hat Nathans gute Gesundheit bestätigt - ist nicht nur Nathan am 11. September 2001 mit dem schrecklichsten Unglück konfrontiert, das New York je erlebt hat.
"Aber noch war es erst acht Uhr, und als ich unter dem strahlend blauen Himmel die Straße entlangspazierte, war ich glücklich wie nur je ein Mensch auf dieser Erde."

Paul Auster hat ein wunderbares Buch geschrieben, das Lust macht, seine alten Werke wieder zu lesen.

(Winfried Stanzick; 03/2006)


Paul Auster: "Die Brooklyn-Revue"
(Originaltitel "The Brooklyn Follies")
Deutsch von Werner Schmitz.
Rowohlt, 2006. 352 Seiten.
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Hörbuch:
Argon Verlag, 2006.
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Drei weitere Bücher des Autors:

"Reisen im Skriptorium"

In einem verschlossenen, abgedunkelten Zimmer sitzt ein alter Mann: vergesslich, gebrechlich, inkontinent. Er weiß weder genau wer, noch wo er ist. Eine Kamera und Mikrofone beobachten ihn. Auf seinem Nachttisch stehen Dutzende Fotos von Menschen, die ihm bekannt vorkommen. Auch Anna Blume, eine Schwester, die ihn versorgt, scheint ihm vertraut. Und richtig, auch sie ist als junges Mädchen auf einem der Fotos abgebildet. Sie nennt ihn Mr. Blank und sagt, er habe sie, wie viele andere, vor Jahren als seine "Beauftragte" in die Welt hinausgeschickt, an einen entsetzlichen Ort des Todes und der Zerstörung. Aber es sei nicht seine Schuld, er habe getan, was er musste. Je mehr und je vergeblicher Mr. Blank sich besinnt, desto tiefer gerät er in ein Labyrinth erdachter Welten, bis er sich schließlich selbst in den Zeilen eines Manuskripts begegnet, das auf einem Holztisch in seiner Zelle liegt: In einem verschlossenen, abgedunkelten Zimmer sitzt er als alter Mann ...
"Reisen im Skriptorium" ist ein raffiniertes Vexierspiel, finten- und voltenreich, brillant und kunstvoll. Begeben Sie sich mit Paul Auster auf die Reise in einen Teufelskreis der Fantasie. (Rowohlt Reinbek)
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"Mit Fremden sprechen"
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