Eginald Schlattner: "Das Klavier im Nebel"
"Geschichte
trennt, aber Geschichten, die schaffen Nähe." (Seite
361)
Erzählen
statt nationale Geschichtsschreibung
Eginald Schlattner, geboren 1933, evangelischer Pfarrer in
Rothberg/Roşia und wahrscheinlich der letzte deutschsprachige
Schriftsteller Rumäniens, erinnert sich und hat viel zu
erzählen. Im voluminösen Roman (521 Seiten)
lässt er sein Alter Ego, Clemens Rescher aus
Schäßburg, die ersten Jahre nach dem Zweiten
Weltkrieg in seiner siebenbürgischen Heimat erleben: Das Land
ist von sowjetischen Truppen besetzt, die arbeitsfähige
Bevölkerung teilweise nach Russland deportiert, Firmen werden
verstaatlicht, Bauern und Bürger aus ihren Häusern
vertrieben, Rumänen und Zigeuner erhalten Wohnrecht in den
enteigneten Besitztümern und sollen die deutschen und
ungarischen Führungskräfte in den Höfen und
Betrieben ersetzen. Die deutschsprachige Minderheit erholt sich nicht
von den Schrecken des Krieges und von völkischer Begeisterung
zu Lasten des respektvollen Zusammenlebens zwischen Rumänen,
Siebenbürger Sachsen, Ungarn und Zigeunern.
Doch Schlattner weiß, dass eine straffe Aufzählung
von Fakten, ein knapper Bericht oder gar ein historisches Werk nur eine
Perspektive zulässt; das multiethnische Siebenbürgen
verlangt aber einen vielfältigeren Zugang, der mehr als die
Sichtweise nur einer Nationalität oder einer einzigen sozialen
Klasse ermöglicht. Clemens Reschers Erlebnisse der Jahre 1948
bis 1951 werden durch viele Begegnungen und Nebenhandlungen
ergänzt, die auch Schlattners Roman "Der
geköpfte Hahn" (über die Kriegsjahre)
fortsetzen und Begebenheiten aus "Rote Handschuhe"
(über die Zeit des Stalinismus) vorwegnehmen.
Nichts blieb für den Lebensweg des Fabrikantensohns Clemens
Rescher so, wie ihn Eltern und Großeltern geplant hatten:
Während einer Zugsreise aus Siebenbürgen in den
Banat, das zweite Gebiet mit starker deutschsprachiger Minderheit,
erinnert sich der Heranwachsende an seinen inhaftierten Vater, der sich
der Verstaatlichung seiner Sonnenblumenölfabrik widersetzte,
an seine untergetauchte Mutter und seine konsequent konservative
Großmutter, die in ihren eigenen Pferdestall einquartiert
wurde. Der ihm vorbestimmte Lebensweg als Erbe des Familienbetriebs ist
abgeschnitten. Er muss in einer Fabrik arbeiten, besucht abends ein
rumänisches Lyzeum.
Auch seine Liebschaften beginnen hoffnungsvoll und enden
glücklos. Isabella, das höhere Töchterchen,
das Clemens vom gemeinsamen Klavierspiel kennt, findet aus ihrer engen
und idealisierten Bürgerwelt nicht in die neue Zeit. Die
dümmliche Petra, Tochter des örtlichen
Kommunistenführers, genoss lange Jahre Clemens’
Nachhilfeunterricht und hält sich nun als Tochter eines
Apparatschiks gegen ihr Naturell für eine neue
Führungskraft.
Die Rumänin Rodica scheint seine große Liebe zu
sein. Mit ihr reist er auf der Suche nach ihrer verbannten Familie
und seiner geflüchteten Mutter in die Dobrudscha, ans Schwarze
Meer. Er entdeckt die für ihn fremde Welt der
Rumänen, sieht die Hauptstadt Bukarest zum ersten Mal und muss
feststellen, wie wenig die Völker Rumäniens
voneinander wissen: In Constanza wird dem Paar sogar verboten, deutsch
zu sprechen, die Sprache des faschistischen Feindes. Der
Securitate-Offizier weiß nichts von einer deutschen
Minderheit in Rumänien ... Auch Carmencita, das
Zigeunermädchen aus dem Ziegelwerk, bleibt bei aller
Verliebtheit unüberwindbar fremd.
Die deutschsprachige Eva-Maria, aus dem katholischen Banat im
Südosten Rumäniens, mit der er beim Verwandtenbesuch
im deutsch-serbisch-rumänischen Dorf Gnadenflor durch die
Umgebung streift und Relikte aus besseren Zeiten erkundet, wird vor
seinen Augen deportiert. Ihm bleibt das Klavier am nebeligen Bahnsteig.
Die Lebensgeschichte Reschers durchziehen auch, nein vor allem,
zahlreiche Nebenhandlungen, kurze Exkurse zur Geschichte
Siebenbürgens und der Deutschen in Rumänien und
interessante Dialoge mit tiefsinnigen Zigeunerweisen, dem prophetischen
Pfarrer (wieder ein Alter Ego des Autors?) und oberflächlichen
Kommunisten. Einige literarische Randmotive, die von Beginn weg
wellenartig auftauchen, geben dem Roman Einheit:
Beim vierhändigen Klavierspiel, dem Zentrum jedes
großen und gut bürgerlichen Haushalts, lernte
Rescher Isabella und auch Rodica kennen. Auf der Suche nach einem
Klavier freundet er sich mit einem jüdischen Musikhistoriker
an, von dem er - und mit ihm der Leser - viel über das
Schicksal der jüdischen Bevölkerung
Siebenbürgens und die Musiktradition im Land seiner Heimat
erfährt. Doch ist das Klavier durch seine
Größe bei Umsiedlungen im Wege, dient auch als
Notunterschlupf auf freiem Felde und ist zur therapeutischen
Beschallung von milcharmen volkseigenen Kühen im Arbeiterstaat
gerade noch geduldet.
Kurze rumänische, ungarische,
siebenbürger-sächsische, russische Sätze und
Wörter werden nicht ins Deutsche übersetzt. Die
Vielsprachigkeit der Karpatenregion wird an den Leser weitergegeben,
der sich entweder mit dem Klangbild zufrieden geben kann und auch
manchmal die Bedeutung dieser fremdsprachigen Einschübe
errät. Ein Griff zum Wörterbuch schadet nicht; so
lässt man sich ein Stück weiter nach
Siebenbügen entführen. Die rumänischen Worte
strictul necesar stehen dabei im Zentrum jeder
Deportation, Hausenteignung und Gefangennahme: nur das Notwendigste
darf mitgenommen werden.
Viele der Schlüsselszenen finden an oder in Bächen
und Flüssen und in der Nähe von Brennnesseln, den
Lieblings"blumen" Clemens Reschers, statt, mit denen allzu zudringliche
Peiniger verjagt werden, an denen man seine Schmerzunempfindlichkeit
beweisen kann und die den Deportierten und Geflüchteten
ständige Begleiter und Nutzpflanze sind. Einige Banater
Verwandte wurden ausgerechnet nach Urziceni, Brennnesselstadt,
deportiert. (Diesen Ort gibt es wirklich!)
Bäche und Flüsse sind auch die Toiletten der Armen,
wer es zu etwas gebracht hat, verfügt über ein
Plumpsklo. Das seltene Wasserklosett aber ist das As im
gesellschaftlichen Spiel von Nationen und sozialen Klassen: Verwandte,
Freunde und auch ungeliebte Gäste wissen diese Errungenschaft,
"das Kämmerlein von anregender Unterhaltsamkeit" (Seite 426),
zu schätzen.
Eginald Schlattner kann das mulikulturelle Siebenbürgen, das
vielleicht gar nicht so weltoffen und modellhaft tolerant war, wie man
es heute gerne sähe, nicht wiedererstehen lassen. Aber er
weiß, wie man auch von schlimmen Zeiten humorvoll
erzählen kann. Die
europäische Geschichte ist zu wertvoll, um sie der
nationalen Geschichtsschreibung zu überlassen.
(Wolfgang Moser; 11/2005)
Eginald Schlattner: "Das Klavier im Nebel"
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2005. 521 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2007.
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Eginald Schlattner, 1933 in Arad geboren,
aufgewachsen in Fogarasch am Fuße der Karpaten. Studierte
evangelische Theologie, Mathematik und Hydrologie. 1957 wurde er
verhaftet und wegen "Nichtanzeige von Hochverrat" verurteilt. Nach
seiner Entlassung arbeitete er als Tagelöhner in einer
Ziegelbrennerei, später als Ingenieur. 1973 nahm er sein
theologisches Studium noch einmal auf und ist seit 1978 Pfarrer in
Rosia (Rothberg) bei Hermannstadt.
Weitere Bücher des Autors:
"Der geköpfte Hahn"
Ein Fest wird gefeiert in Fogarasch, einer kleinen Stadt im Herzen von
Siebenbürgen. Die Freunde des 16jährigen
Ich-Erzählers treffen sich im Haus seiner Eltern zum Tanztee.
Es soll ein Fest werden zum Schulschluss, es wird ein Abschied
für immer.
Denn an jenem 23. August wechselt das mit Hitler
verbündete Rumänien die Fronten und
schließt sich den Alliierten an. Das Jahrhunderte lange
kultivierte Zusammenleben von Rumänen, Ungarn, Deutschen und
Juden findet ein Ende. Eginald Schlattners wunderbarer Roman
lässt eine den Gefahren trotzende Welt auferstehen - heiter
und melancholisch, reich an Details und feiner Ironie, changierend
zwischen Realem und Irrealem, aufgezeichnet im Ton zauberhafter
Sinnlichkeit.
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"Rote
Handschuhe"
Der Ich-Erzähler, Mitte Zwanzig, Student der Hydrologie an der
Universität Klausenburg, gerät in die Fänge
der rumänischen Staatsmacht. Er wird der Konspiration gegen
das kommunistische Regime verdächtigt, Ende Dezember 1957 von
der Securitate verhaftet, ins Gefängnis nach Kronstadt
gebracht, monatelang verhört, unter Druck gesetzt, seelisch
und körperlich misshandelt und gefoltert. Ein verzweifelter
Kampf um Integrität beginnt.
Nach dem Debütroman "Der geköpfte Hahn" über
seine Kindheit in Siebenbürgen zeichnet Eginald Schlattner im
vorliegenden Roman die Tragödie eines jungen Menschen nach,
der sich auf der falschen Seite wiederfindet.
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Leseprobe:
Die Tante in Bukarest, böse wie das Feuer, zeigte sich von der
besten Seite. Sie entfaltete ihren ganzen Charme, was den Onkel
ungerührt ließ, Rodica gleichgültig war,
Clemens aber Eindruck machte.
Es war der Onkel, der Rodica in Schäßburg gezwungen
hatte, die Fahrt ans Meer mit Clemens abzusagen. Die Befehle seiner
Frau führte er ebenso dienstwillig aus wie die Befehle seines
Ministers, selbst wenn sie forderte, daß er ihr die
Hände bis zum Ellbogen küßte und
zurück bis zu den Fingerspitzen, was er ohne Murren tat, nicht
anders, als handle es sich um Schädlingsbekämpfung.
Er schwieg zu allem.
Doamna Aurora Ingrid war klein von Gestalt, sie trug hochhackige
Schuhe, so daß der Fuß steil abwärts wies.
Die große Zehe stand vorne heraus, scharlachrot touchiert,
und scharlachrot waren die krallenhaften Fingernägel.
"Weißt du, warum die Fingernägel so lang sind?"
flüsterte Rodica. "Sie will damit beweisen, daß sie
eine Intellektuelle ist. Mit solch schrecklichen Krallen kann man keine
grobe Arbeit verrichten. Huh. Und die Kinder kriegen die Fraisen."
Die Gastgeberin trug nur rot. Ein Rausch in Rot. Die
leichtfüßige Figur war umweht von Gewändern
in Abwandlungen von Purpur bis Rosa. Ihr Haar war schwarz mit silbernen
Strähnen. "Sie wird grau. Nun hat sie einige Strähnen
silbrig gefärbt, damit man denkt, es sei eine modische
Marotte."
"Mit Ofensilber", pflichtete Clemens bei. Sie verstanden sich wieder
wie einst. Am Abend, wenn sie sich über die Eindrücke
des Tages austauschten, fiel beiden meist dasselbe ein.
Die Gemächer des Hauses hatte man in Socken zu betreten. Im
Flur standen die Schuhe des Hausherrn in Reih und Glied. Die
puppenhaften Schuhe der Dame lagen wahllos herum, so wie sie ihr von
den Füßen gepurzelt waren. Die Gäste
durchquerten den Vorraum wie ein Minenfeld. Im venezianischen Salon
waren die Perserteppiche mit einer Zellophanfolie geschützt.
Schritt man darüber, kräuselte sich das
ätherische Gebilde unter den Füßen. "Faites
attention! Mon Dieu, mon Dieu! Les tapis, notre seule fortune!" rief
die Tante. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Die Rubine an
ihren Fingern funkelten. An jedem Finger glänzte ein anderer
Ring. Acht Goldringe und einer am Daumen machten die Kollektion aus.
Sie selbst schien über den teuren Teppichen zu schweben.
"Er ist zwar der Hausherr. Aber sie ist der Herr im Haus",
flüsterte Clemens Rodica zu. "Der scharlachrote Hausdrache!"
Trotzdem: Clemens war geradezu entzückt, um so mehr ihm
Schlimmes geschwant hatte. Ja, sogar eine lange Hose kaufte er, wie
doamna Ingrid es wünschte. "Ihr Wunsch ist mir Befehl", sagte
er galant, und sie schlug weit die Augendeckel auf. Und
erläuterte: "Nu poþi face promenadã la
Bucuresti, dragã Clemente, în pantaloni
scurþi, deasupra din Tirolia." Unmöglich, hier in
kurzen Tirolerhosen herumzulaufen. Das rufe die Besetzung Bukarests
durch die Deutschen 1916 bis 1918 in Erinnerung. Unselig waren im
Gedächtnis der Bevölkerung die drakonischen Dekrete
der deutschen Militärregierung verwahrt geblieben. "Sogar wie
man ein Klosett benützt, wurde vorgeschrieben." So galten
für die ganze Walachei millimetergenau gezeichnete
Pläne von Aborten mit der Innenarchitektur im Detail. "Sogar
das Kackloch war angegeben: Durchmesser 240 Millimeter. Die Kinder
fielen in die Grube und schrieen jämmerlich, und die dicken
Pfarrfrauen und behäbigen Gutsherrinnen schlugen sich mit
schlechtem Gewissen in die Büsche. Denn die Deutschen
kontrollierten alles mit humorloser Strenge. Seit damals sagt der
Rumäne: Sei ein Mensch, kein Deutscher ..."
Om sã fi, nu neamþ. Welch furchtbares Wort, dachte
Clemens und schaffte sich eine lange Hose an. Erstand sie durch ein
magisches Opfer seiner Freundin. Die trennte sich von einer Tonscherbe,
die sie als Amulett bei sich trug. Es war ein Stück jenes
Krugs, mit dem der Großvater in Schäßburg
das umstrittene Wasser aus dem eigenen Brunnen geschöpft
hatte. Der Krug ging zum Brunnen, bis er brach. Jedes der Enkelkinder
erhielt ein Bruchstück.
In der Strada Lipscani gelang das Tauschgeschäft. Es war noch
immer die berühmte Leipziger Straße, ein
orientalischer Basar mitten in Bukarest.
Kleinhändler boten wie eh und je ihre Ware vor den
Türen der winzigen Läden feil, wobei jeder den
anderen schreiend übertrumpfte. Vor allem die Textilien hingen
weithin sichtbar an Stangen und Gestellen und schaukelten im Wind. Doch
alle wußten: Die Tage dieses kunterbunten Treibens waren
gezählt, trotz des Schwalls von sowjetischen
Fähnchen, mit denen neuerdings die Erzeugnisse garniert waren.
Eine fesche Leinenhose gegen eine verschimmelte Tonscherbe, wie das?
Mit einer Zungenfertigkeit sondergleichen - kaum daß Clemens
den Sinn der Wörter ausmachen konnte - beschwatzte Rodica den
Händler, daß diese miese Tonscherbe ein Teil des
Humpens sei, aus dem der dakische König Decebal um das Jahr
100 nach Christi Geburt Apfelmost getrunken habe. Im Nu hatte der
Händler ein paar obskure Zeichen in den grünlichen
Ton gekratzt, und vor ihren Augen wechselte die Scherbe noch einmal den
Besitzer. Ein älterer Herr im Gehrock mit goldenem Zwicker
zählte mehrere Scheine hin, die den Preis der Hose bei weitem
überstiegen.
"Warum Apfelmost und nicht Wein?" fragte Clemens.
"Du kennst offensichtlich unsere Geschichte nicht. Habt ihr in euren
deutschen Schulen nicht gelernt, daß schon der
Vorgänger von Decebal, König Buerebista, die
Weingärten hatte niederbrennen lassen, weil alles Volk nur
noch betrunken dahintorkelte und keiner mehr arbeitete?“
Man
saß beim Abendtisch, Clemens hochgemut in der neuen Hose. An
der Wand über der eichenen Anrichte mit Spiegel beobachtete
Generalissimus Stalin
im Stuckrahmen das Gastmahl. "Stalin", sagte die Tante leichthin,
"wegen meinem Mann, la minister." Rodica wollte ein Tischgebet sprechen
oder das Vaterunser,
wie es bei Orthodoxen Sitte ist. Die Tante Aurora winkte ab: "Nu se
permiþe. Tovarãsul Stalin!"
Sie tranken echten Tee aus hauchdünnen hohen Tassen. Das
Menü hatte viele Facetten: Vinete, jener dumpfgrüne
Brotaufstrich aus Blaufrüchten, ein
Salat, salatã asortatã, wohlversehen
mit Paradeis, Gurkenscheiben, fleischigen Paprika, die hier Gogoschar
heißen, lila Zwiebelschnitzeln, gemildert mit
süßem Porree, das Ganze von Öl und Essig
durchtränkt und mit Kümmelkörnern
übersät. Auf dem Tisch keine Butter, dafür
holländische Margarine, "Flora", unter der Hand erstanden wie
der Tee und das meiste auf dem Tisch. Ziegenkäse, "o
delicateþe". Orangefarbener Fischrogen. Für jeden
gab es drei Salamischnitten. Die Zeiten seien schwer.
Zum Schluß wartete die Tante trotz der schweren Zeiten mit
einer kulinarischen Überraschung auf: gebratene
Fleischstückchen von Schwein bis Rind und Lamm waren auf
zierlichen silbernen Spießen zusammengedrängt,
neckisch unterbrochen von Wurstschnitten unterschiedlicher Couleur,
jedes für sich ein Häppchen, nicht
größer als ein Bissen. Die Tante bemerkte mit
klagender Stimme: "Dein armer Vater, wie ihm dieses geschmeckt
hätte. Nicht einmal die Epauletten hat man von ihm gefunden,
wir müssen am Meeresstrand ein Kreuz errichten, aber erst wenn
dies alles vorbei ist."
Ein strohweißer, flaumiger Wecken ersetzte das gemeine Brot.
"Pâine este pentru proletari." Als Nachtisch gab es Halva.
Bärendreck, dachte Clemens gerührt; endlich etwas,
das an Zuhause erinnerte. Zu Abschluß wurde die traditionelle
Dulceaþa serviert, überkandierte
Kirschenkonfitüre, ein rumänischer Leckerbissen, in
Kristallschalen mit Dessertlöffeln aus gepunztem Silber,
bereits schwärzlich angehaucht. Wiewohl es spät war,
Tag und Mensch sich zur Nacht richteten, wurde im venezianischen Salon
noch eine Tasse Mokka genossen.
Das Auf- und Abtragen besorgte Rodica, indes die Tante sie mit
ausgesuchter Höflichkeit zwischen Küche und
Speisezimmer hin und her pudelte: "Draga mea, fi amabilã",
hieß es zuckersüß mit einem
berückenden Lächeln.
Vor Jahr und Tag hatte man die Tante an einem Nabelbruch operiert. Mit
Verve erzählte sie, wie der Arzt ihr am Vorabend der Operation
einen Katalog von Modellen über Nabelformen vorgelegt habe.
"Oder wünsche sie gar keinen Nabel, bloß eine glatte
Bauchfläche?" Kein Nabel? Da sei Gott vor! Sie entschied sich
für das Muschelmotiv, das als Ornament in der Baukunst seit
dem frühen Mittelalter alle Stilrichtungen und
Modeströmungen überdauert hatte. Etwas höher
als normal hatte sie den Nabel gewünscht, "daß man
dies dekorative Kunstwerk beim Bikini gut zu sehen kriegt". Tante
Aurora Ingrid fuhr mit der Hand in das Gewoge ihrer Gewandung; endlich
fand die Hand festen Grund, die Bauchbinde in der Farbe der
Morgenröte. Sie lockerte sie und zeigte das chirurgische
Mirakel freimütig her, die jungen Leute brachen in ein
bewunderndes Ah und Oh aus. Indes der Gatte schwieg.
Mit spitzer Stimme übertönte doamna Aurora Ingrid das
Radio, das pausenlos amerikanische Tanzmusik aus der Westzone
Österreichs sendete. Als dann beim Mokka der beliebte
amerikanische Modetanz erklang, Malagamba-Conga, der in der
ideologischen Öffentlichkeit als dekadent verschrien war, zog
die Tante die kleine Abendgesellschaft ins Wohnzimmer, wo diesmal der
Parteisekretär Gheorghe-Gheorghiu-Dej von der Wand
herablächelte. Die Dame des Hauses drehte das
gefährliche Foto um und zeigte vor, wie dieser Modetanz ging:
Was der erste Tänzer an tollen Figuren und
Freiübungen vormache, müßten alle
Mittanzenden nachahmen. Sie sprang auf das Sofa, hopste über
die Fauteuils, schwang sich über den Tisch und die drei
anderen ihr nach. Auch der Onkel machte mit, ohne jedoch einen Ton von
sich zu geben, während die Tante kreischte und Clemens
jodelte. Und Rodica höflich lächelte. Clemens war
begeistert, blickte manchmal vorwurfsvoll zu Rodica hin: Wieso sollte
diese Tante böse sein?