Leseproben:

Der Westen
(Auszug)

Der Westen hat mir den Mund gestopft.
Ich habe New York und Paris gesehen, San Francisco und Frankfurt
ich war an Orten, von denen ich nicht zu träumen wagte.
Ich kehrte mit einem Stapel Fotos zurück
und mit dem Tod in der Brust.
Ich hatte im Glauben gelebt, dass ich etwas bedeute, dass mein
   Leben etwas bedeutet.
Ich hatte Gottes Auge gesehen, wie es mich durchs Mikroskop
   betrachtete
meine Zuckungen auf der Lamelle.
Jetzt ist aller Glaube dahin.
Ich war gerade gut genug für eine idiotische Stabilität
für ein tiefes Vergessen
für einen einsamen Frauenschoß.
Ich flanierte durch Orte, die heute verschwunden sind.
Ach, meine Welt ist versunken!
Meine Welt gibt es nicht mehr
meine elende Welt, in der ich etwas bedeutet habe. (...)


            Was habe ich gehofft
            (Auszug)

            Morgenröten und Abendröten - wie Schleierschwänze
            im funkelnden Aquarium ...
            Morgenstunden, Nächte: Petunien mit Wasser aus dem blauen
                        Stieltopf begossen ...
            Frühlingstage, Herbsttage: welke Blätter wie säureverbrannt
            und rostbefallene Eichen, als wären es Fahrgestelle von Autos ...
            Als wir jung waren, streichelten wir die weichen Rücken
                        der Eisenbrücken
            tränkten die Landstraßen mit Novocain
            predigten Keuschheit von den Balkonen der Sonne herab ...
            Nächte! Jetzt sind die Farbkleckse an den Fingern der Maler
            der Grünspan an den Speichen der Kinderwagen. (...)


Die Liebe
(Auszug)
12.

Die Liebe begann
die Kugel überkam ein Vibrieren
und um sie herum versammelten sich - woher? seit wann? -
   Skizzen und Gouachen
orthogonale Projektionen, Modellbauten, Computersimulationen
schematische Darstellungen von Maschinen, Lehrmaterial
algebraische Formeln.
Und in dieser irrealen Wolke zersprang die Kugel
in zwei, in vier, in acht, in sechzehn
in zweiunddreißig, in vierundsechzig Stücke
verwandelte sich schließlich in einen Seeigel,
   in einen kleinen Wurm
einen einfachen Fisch, eine Kröte, einen Vogel
ein Opossum, einen Schimpansen, ein Kind
eine Welle, einen Stern, eine Blume
eine Wolke, einen Wasserfall, eine Straßenbahn
eine Welt, eine Fliege, eine Wirtschaftsstruktur, einen Pfarrer,
   einen Kirchensänger
in die Erinnerung an eine Liebesnacht, in das Projekt der Esche,
      noch einmal Blätter zu treiben, Christinas unvergleichliches
      Lächeln, alle Fenster sämtlicher Wohnblocks
      in allen Städten der Erde, alles was es an
      Bakterien im Körper des Ozeans gibt, einen Fuchs,
      der den Schnee mit Blut färbt weil er sein Bein in
      der zugeschnappten Falle zernagt, die Liebe, den
      Hass, die Agonie, die Fatalität, alle Handschriften
      und alles Gedruckte, die Rassen der Menschen,
      die es in zehn Milliarden Jahren geben wird, das
      Zimmer, wo ich dieses Gedicht schreibe und jeden
      einzelnen Buchstaben desselben, den durchaus
      möglichen Fall, dass ich nie etwas geschrieben
      habe, dass ich nicht Mircea Cartarescu bin und nie
      existiert habe wie nichts je existiert hat
denn die Liebe ist alles
und alles besteht hauptsächlich aus nichts.


Aus "Selbstporträt in einer Streichholzflamme" Gedichte von Mircea Cărtărescu.
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