Raoul Schrott, Arnold Mario Dall'o: "Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen"

Ein Brevier


"Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. (...)
Jeder Engel ist schrecklich. Und dennoch, weh mir, ansing ich euch, fast tödliche Vögel der Seele, wissend um euch. (...)
Glaub nicht, daß ich werbe. Engel, und würb ich dich auch! Du kommst nicht. Denn mein Anruf ist immer voll Hinweg; wider so starke Strömung kannst du nicht schreiten. (...)"

(Rainer Maria Rilke; aus den Duineser Elegien)

Seitentriebe des Geschlechtstriebes
Ein erzählendes männliches Ich verarbeitet sein Begehren und seine Sehnsucht nach einem bestimmten weiblichen Wesen, dessen Erscheinung und Ausstrahlung nachhaltige Eindrücke hinterlassen haben. Und zwar dergestalt, dass der Erzähler all sein Wünschen und Lieben in zwanzig Briefen an diese Frau zum Ausdruck bringt.

So weit, so mittelmäßig, wäre dies alles. Aber: Der Autor ist Raoul Schrott, (den H. C. Artmann mit den Worten beschrieb: "... ein gelehrter Poet, ein poeta doctus. Dieser ungeheure Radius, diese Übersicht, die heute ja nur mehr die wenigsten haben, das ist das Hoffnungsvolle an ihm. Außerdem ist er vielsprachig."), und die Raffinesse liegt daher selbstverständlich vor allem in der Art und Weise, wie diese zwanzig Briefe inhaltlich gestaltet sind.

Der Untertitel des Buches ("Ein Brevier") verspricht einen Abriss. Man erwartet möglicherweise Erläuterungen, die Hierarchien der Engel (Seraphim, Cherubim, Herrschaften, Kräfte, Mächte, Erzengel, Engel, ...) betreffend neben einem kulturhistorischen und religionsübergreifenden Überblick. Jedoch bietet "Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen" weitaus mehr: Wundervoll weitgefächerte Spaziergänge durch Sprachwelten und Wanderschaften durch das Empfinden eines Icherzählers, der Geschichte und Geschichten in Briefform so kunstvoll aufbereitet, dass man die Kürze des Textes bedauert.

Papst Pius 12. hat erklärt, Engel seien als "persönliche Wesen" und nicht bloß als unbestimmte, spirituelle Wesenheiten anzusehen. Ein guter Ansatz, um die thematisierte (an sich für heutige Verhältnisse auffallend reizarme) Liebesgeschichte, die gewisse Merkmale des Minnesangs aufweist, innerhalb des harmonischen Ganzen, das dieses Werk unbestritten darstellt, zu rechtfertigen.

Während Raoul Schrott über Engel und Liebe, das Schauen und Verstehen wie auch über allerlei hübsche Sitten und Gebräuche im Umfeld der Sexualität schreibt, illustrieren/interpretieren die Bilder von Arnold Mario Dall'o den Himmel der Heiligen; genauergesagt ansatzweise die Symbolik der Leiden derselben (unterlegt mit Darstellungen von nackten männlichen Oberkörpern, Geweihen, Händen, Organen, Oralsexszenen, ... . Dominanter Farbton: Rot), wobei extreme Kurzfassungen der verschiedenen Leidensgeschichten das jeweils Dargestellte mehr begleiten als erläutern. Der Buchdeckel zeigt beispielsweise einen Ausschnitt aus jenem Bild, für das die Geschichte von Konrad, dem Einsiedler Inspirationsquelle war: "Er sagte sich von seiner Leidenschaft zur Jagd los, nachdem er einen Wald dabei niedergebrannt hatte, und zog in die Berge, wo ihm die Vögel vorsangen. Von seiner Gattin Euphrosina trennte er sich, als das Schicksal in der Gestalt eines rotschöpfigen Engels vor ihm stand."
Und wie beschreibt der Icherzähler seinen Engel?: " ... du stehst mir vor Augen in deiner weiß aufgekrempelten Bluse, einer knöchelweiten, schwarzen Hose, ein paar verwilderte Strähnen, die dir aus dem Scheitel gerutscht sind, der überraschte, halb schelmische Blick und der plötzlich zu mir gedrehte Kopf, ein Schopf dunkler, roter Haare."

Engel faszinieren und inspirieren das menschliche Denkgefüge seit jeher, wofür dieses Buch ist ein herausragendes Beispiel ist.

(kre; 06/2001)


Raoul Schrott, Arnold Mario Dall'o: "Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen. Ein Brevier."
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2001. 150 Seiten. 34 Abbildungen.
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Taschenbuchausgabe:
Fischer, 2006.
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