D. A. F. Marquis de Sade: "Justine oder Vom Missgeschick der Tugend"


Anders als man vielleicht heute denkt, ist "Justine" kein knallharter SM-Roman in dem Sinne wie es vielleicht viele vermuten würden ...

Bei der vorliegenden Fassung der "Justine" handelt es sich um die sogenannte erste Fassung, die Marquis Donatien Alphonse François de Sade in 15 Tagen im Jahr 1787 in der Bastille geschrieben hat. Hier befand er sich unter Anderem aufgrund des aktiven Betreibens seiner Schwiegermutter, die dafür sorgte, dass ein bereits 1778 aufgehobenes Gerichtsurteil gegen ihn wieder in Kraft gesetzt wurde, wenn auch mit einem anderen Strafmaß. Erst 1790 sollte er wieder freikommen.
1803 wurde er dann - angeblich wegen der Veröffentlichung der dritten Fassung der "Justine" - wieder verhaftet und verblieb bis zu seinem Tod im Jahr 1814 in Haft im Charenton-Gefängnis.

Die dritte Fassung dieses Romans soll substanzielle Unterschiede in ihrer Aussage zu den beiden vorhergehenden Fassungen haben; etwas, was ich noch genauer herausfinden muss. Diese Fassung ist dann zehnbändig, so dass dies etwas dauern kann. Zunächst aber ist Folgendes festzustellen:

Anders als man vielleicht heute denkt, ist "Justine" kein knallharter SM-Roman in dem Sinne, wie es vielleicht viele vermuten würden. Eher handelt es sich um ein Lob des tugendhaften Lebens in einer zunehmend lasterhaften Welt. Im vorrevolutionären und revolutionären Frankreich waren die Gedanken der Menschen und auch die Philosophie vorwiegend durch Gedanken an ein so genanntes Naturgesetz bestimmt. Die Bösewichte in der "Justine" berufen sich in ihren Selbstrechtfertigungen jeweils darauf, dass sie einem Recht des Stärkeren, das sie aus diesem Naturgesetz ableiten, folgen. Justines Tugendhaftigkeit kommt ihnen dabei sehr widernatürlich vor, da sie dem allgemeinen Trend in der Gesellschaft entgegenläuft.

Justine und Juliette sind die Töchter eines mäßig erfolgreichen Kaufmanns, der plötzlich stirbt und seine beiden Töchter mit einer geringen Summe Geldes in der Welt zurücklässt. Die Ältere der beiden - Juliette - wendet sich an ein Freudenhaus und bekommt dort eine Ausbildung, die es ihr erlaubt, über verschiedene, strategisch geplante Liebschaften und Morde in der Gesellschaft aufzusteigen, bis sie schließlich einen Mann kennenlernt, bei dem sie bleiben möchte und ein Leben im Luxus genießt.
Auf einer Reise sehen die beiden in einem Gasthof eine junge Frau in Ketten, die von zwei Gendarmen nach Paris überführt werden soll, wo ein Gerichtsurteil wegen Mordes, Kindstötung und Brandstiftung gegen sie überprüft werden soll. Fasziniert von dieser jungen Frau, die so offensichtlich unschuldig wirkt, lassen sie sich von ihr deren Lebensgeschichte erzählen. Die junge Frau nennt sich Sophie, um den guten Namen ihrer Familie zu schützen.

Nach dem Tod ihres Vaters ist die junge Frau im Alter von nur zwölf Jahren auf die Suche nach einer Anstellung gegangen, wobei sie immer wieder auf Männer traf, die ihr ein Dienstverhältnis in Aussicht stellten für den Fall, dass sie ihnen in sexueller Hinsicht zur Verfügung stünde. Dies lehnte sie immer wieder ab, bis schließlich ihr Erbe aufgebraucht war und sie eine Anstellung im Hause eines fürchterlichen Geizhalses namens Du Harpin und seiner Frau annahm. Hier musste sie für ihren Unterhalt wirklich hart arbeiten, aber das war ihr nur recht. Als ihr Arbeitgeber sie allerdings aufforderte, für ihn einen Gegenstand aus der Wohnung eines Nachbarn zu stehlen, lehnte sie dies empört ab. Wenig später fanden herbeigerufene Gendarmen in ihrem Zimmer einen angeblich gestohlenen Ring. Die junge Frau wurde ins Gefängnis gesteckt, aus dem sie mithilfe einer Diebin und Trickbetrügerin namens Dubois entkam. Die Spießgesellen der Dubois wollten sich bei einer Feier in ihrem Versteck an der jungen Frau vergehen, doch es gelang ihr, ihnen zu entgehen.

Wenig später beobachtete sie, in einem Gebüsch versteckt, das homoerotische Liebesspiel des Marquis de Bressac mit einem Domestiken, und als sie entdeckt wurde, quälten die beiden jungen Männer die Frau zunächst, bevor der Marquis sie schließlich als Hilfe für seine Mutter in den eigenen Haushalt einführte. Hier fühlte sich Justine zunächst ziemlich wohl, bis der ungeduldig auf sein Erbe wartende Marquis beschloss, das Ableben seiner Mutter zu beschleunigen, wobei ihm Justine helfen sollte. Doch sie verriet ihn, was ihn zwang, schnell zu handeln und seine Mutter selbst zu töten, während er Justine auf einem Spaziergang folterte, an dessen Ende er sie laufen ließ.

Offiziell gesucht wegen des Mordes an ihrer Arbeitgeberin, fand Justine schließlich eine Anstellung im Haus des Arztes Rodin, der später Leibarzt des schwedischen Königs werden sollte. Nachdem sie in seinem Keller ein junges Mädchen befreit hatte, das für Menschenversuche missbraucht hätte werden sollen, wurde sie selber zum Versuchsobjekt, und dann mit einem Brandmal, das sie als Diebin kennzeichnete, aus dem Haus gejagt.

Nachdem ihre diversen Verwundungen geheilt waren, stieß Justine in einem Wald auf ein Rekollektenkloster, in dem sie gerne vor einem Bildnis der Heiligen Jungfrau um Vergebung ihrer Sünden gebetet hätte. Bei einer Beichte vor dem Ordensvorsteher, der ein Bruder des amtierenden Papstes war, fragte dieser sie in Bezug auf ihre Bindungen in der Welt aus. Danach wurde sie von den vier Mönchen des Klosters festgehalten, die hier - in der Einöde - acht Frauen zu ihrer persönlichen Verfügung unterhielten und festhielten. Am ersten Abend in dieser "heiligen" Stätte verlor Justine in jeder Hinsicht ihre körperliche Unschuld.

Nachdem die Klosterleitung gewechselt und man die Frauen fortschickt hatte, sah Justine, wie ein Mann auf der Straße von zwei anderen Männern zusammengeschlagen wurde. Sie versorgte den Verletzten und wurde von ihm zum Dank auf sein abgelegenes Schloss mitgenommen, wo sie wiederum enttäuscht wurde, denn der von ihr Gerettete machte sie abermals zur Arbeits- und Lustsklavin. Später, als sich dieser Mensch mit viel Geld nach Venedig abgesetzt hatte, wurde das Schloss von den Behörden gestürmt, weil dort Falschgeld hergestellt worden war. Justine wurde mitangeklagt, aber durch freundliche Fürsprache gerettet. Schließlich traf sie die Dubois wieder, die sie neuerlich in einen Diebstahl verwickelte, und am Ende wurde sie nach einem kleineren Glücksfall mit einer anderen Frau nach Grenoble geschickt, wo sie eine Anstellung bekommen sollte.
Doch in einem Gasthaus brach ein Feuer aus, und bei dem Versuch Justines, das Kind ihrer Begleiterin zu retten, rutschte sie aus, und das Kind fiel ins Feuer. Die verzweifelte Mutter klagte Justine der Brandstifterei und des Kindsmordes an, und sie wurde verurteilt.
So gelangte sie schließlich vor ihre Zuhörerschaft.

Juliette erkennt ihre Schwester im Verlauf ihrer Erzählung, und mit Hilfe des Einflusses ihres Liebhabers bekommt sie ihre Schwester, die dann bei den beiden einzieht, wieder frei. Aber am Ende wird sie doch noch einmal vom Unglück eingeholt, und die ältere Schwester geht, dem Vorbild der jüngeren folgend und zur Buße für ihre eigenen Sünden, ins Kloster.

Auf die eigentliche Erzählung folgen drei Notizen aus de Sades Skizzenbuch, die den geplanten Aufbau der Geschichte vorzeichnen. Im Anschluss daran findet sich ein Nachwort von Marion Luckow, das sich zunächst auf den sexuellen Aspekt der dritten Fassung bezieht, was für ein Nachwort der ersten Fassung extrem unpassend ist, da in dieser sexuelle Handlungen nur sehr indirekt dargestellt werden. Außerdem wird die Idee des weiblichen Masochismus hier meiner Meinung nach zu weit getrieben, weil anders als in "Die Geschichte der O" das Opfer niemals auch nur andeutungsweise Vergnügen an der ihm zugefügten Gewalt findet. Sadomasochistische Rituale sind wirklich Rituale, in die beide Beteiligte aus persönlicher Neigung eintreten sollten. Dies ist allerdings bei "Justine" niemals gegeben.

In dieser ersten Fassung des Romans geht es wirklich darum, zu zeigen, wie verdorben unterschiedliche Schichten der damaligen französischen Gesellschaft waren und wie die Vertreter dieser Schichten ihre Handlungen rechtfertigten. Wie ein weiblicher - und etwas intelligenterer - Parzival steht Justine dieser Gesellschaft in ihrer Tugendhaftigkeit gegenüber und ist immer noch das Verhaltensideal, dem es nachzufolgen gilt.
In der dritten Fassung soll dies anders sein; man wird sehen. Als philosophischer Gegenentwurf zu Rousseaus "Emile", der die Menschen als von Natur aus gut sah, ist dieser Roman allerdings durchaus überzeugend, besonders weil sich darin die Übeltäter auf jene Natur berufen, die Rousseau bereits im "Emile", im "Sozialvertrag" und in seinem "Exkurs über die Ungleichheit" als Quelle des Guten im "edlen Wilden" bezeichnet hat.

Ein Verständnis des Menschenbilds in den Zeiten des revolutionären Frankreich - und damit auch erweitert auf die Entwicklung des Menschenbilds in Gesamteuropa - kann durch die Lektüre der beiden genannten Autoren und durch die Einbeziehung des Lebensberichts des deutschen Jakobiners Schneider nur gewinnen. Rousseau sollte man auf jeden Fall nicht unkritisch lesen, ohne de Sade daneben wahrzunehmen.

(K.-G. Beck-Ewerhardy)


D. A. F. Marquis de Sade: "Justine oder Vom Missgeschick der Tugend"
Ullstein, 1996. 189 Seiten.
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Eine andere Ausgabe:

"Justine oder Die Leiden der Tugend"

Der Klassiker der erotischen Literatur
Juliette und Justine: zwei Schwestern, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Nach dem Bankrott des Vaters und dem Tod der Mutter beschließt die Ältere, Juliette, in einem Freudenhaus als Prostituierte zu arbeiten, während Justine, die Jüngere, ein sittsames und tugendhaftes Leben führt. Schmerzhaft muss sie jedoch erfahren, dass der ausschweifende Lebensstil ihrer Schwester mit Glück, Reichtum und Luxus belohnt wird, während sie von Erniedrigungen, Missgeschick und Pech verfolgt wird. (Insel)
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