Enrique Vila-Matas: "Paris hat kein Ende"
Lehrjahre eines Schriftstellers an der Seine
Anfang der Achtziger Jahre hatte ich einen Spanien-Tick und fuhr eine
Woche nach Barcelona, um dort Miguel Unamunos "Come se hace una
novela", das ich in einem Antiquariat gefunden hatte, im Original zu
lesen. Damals war der 1948 geborene Schriftsteller Enrique Vila-Matas ("Bartleby
& Co.", "Dada aus dem Koffer") bereits in der Kulturszene von
Barcelona erfolgreich, wenn auch der Ruhm, der ihn mittlerweile samt
zahlreichen Preisen ereilt hat, noch in weiter Ferne war. Nun las ich
voller Interesse, dass Unamuno und sein Buch für Vila-Matas in den
Jahren 1974-1976 ein wichtiger Ideengeber während seines
Paris-Aufenthaltes war, den er zur Abfassung seines ersten Romans "Die
erleuchtete Mörderin" einlegte.
Jetzt hat er einen Roman geschrieben, der sehr an "Come se hace una
novela" erinnert. An der Oberfläche geht es darum, wie man einen Roman
schreibt, mit konkreten Tipps von Marguerite Duras. In Wirklichkeit
aber ist der Roman eine kurzweilige, an der Oberfläche chaotische, in
Wirklichkeit aber strukturell feinst ausgetüftelte Reise in das Paris
der 70er Jahre. Und wie damals Unamuno verkörpert Vila-Matas heute den
Rest des Bildungsbürgertums seines Landes. Er ist gelehrt,
vielschichtig, kompliziert, auch mal hysterisch, aber nie langweilig.
Der Autor stammt aus dem Großbürgertum Barcelonas, was man auch seinem
Pariser Aufenthalt anmerkt. Ohne Genehmigung seines Vaters dorthin
entschwunden, muss Vila-Matas zwar in einer Dachkammer darben, doch
auch das tut er standesgemäß als Untermieter der berühmten Autorin
Marguerite Duras, die er noch dazu um die Miete prellt. Ansonsten nimmt
er an Partys teil, bei denen sich der Jet Set tummelt. Es sind zu
großen Teilen periphere Begegnungen, die gleichwohl eifrig aufgezählt
werden. Die damals noch unbekannte Isabel Adjani kommt beispielsweise
in dem Buch vor, und das nur, weil Vila-Matas sie eines Abends
anhimmelt und sie ihn mit einem abschätzigen Blick trifft. Zahlreiche
Autorennamen finden sich in dem Buch, und das wegen geringster
Kleinigkeiten. W. G. Sebald wird erwähnt, nur weil er einmal was über
die französische Nationalbibliothek gesagt hat, und
Céline deshalb, weil es in einer Passage stinkt wie in einem Roman von
Céline.
Mit Paloma Picasso darf Vila-Matas einmal im Wagen mitfahren und wird
einmal von ihrem Wagen bespritzt, als sie achtlos an ihm vorüberfährt.
Das veranlasst ihn dazu, sich als König des Mambo zu fühlen.
Das Herbeizitieren wirklicher Stars, dieses Hecheln nach Aufmerksamkeit
des Lesers, auch unter beständigem Vorschieben von Größen der
Weltliteratur, die auf fast jeder Seite des Buches zitiert werden,
könnten als Ausdruck einer Unsicherheit des Autors aufgefasst werden.
Tatsächlich aber ist es das Charakteristikum, wenn nicht sogar die
Masche von Vila-Matas, mit der er zu einem der meistgelesenen Autoren
des spanischen Sprachraums geworden ist. Wie er sich in "Bartleby &
Co." am Mythos Melville bediente und in "Die merkwürdigen Zufälle des
Lebens" zum Bauchredner
Robert Walsers
wurde, erforscht er Paris damals und jetzt in diesem Buch nicht als
Vila-Matas, sondern als Ernest-Hemingway-Verschnitt. Dessen "Paris -
Fest des Lebens" ("A movable feast") ist wahrscheinlich für eine ganze
Schriftstellergeneration zu einem prägenden Leseerlebnis geworden.
Vila-Matas beginnt seinen Roman als misslungener Hemingway-Doppelgänger
und besucht auf seiner Reise durch das Paris der Siebziger Jahre vor
allem literarische Vorgänger, die sich mit Paris beschäftigt haben.
Vila-Matas kann nichts erleben, ohne es schon wieder in anderen Werken
niedergeschrieben zu finden. Die Ohnmacht darüber führt zu einer
ironischen Grundhaltung, die das Werk zu einer kurzweiligen und
ungewöhnlichen Abhandlung über die Frage der Originalität von
Empfindungen macht. Germanisten schreiben meist keine Romane mehr, da
sie zuviel gelesen und beurteilt haben. Ähnlich geht es Vila-Matas,
doch wie
Münchhausen kann er sich durch seinen Witz immer wieder am eigenen Schopf aus dem Wasser ziehen.
Eine wichtige künstlerische Anregung für Vila-Matas waren übrigens Wim Wenders und
Peter Handke.
In einem Kurzfilm "Drei amerikanische LPs" von Wenders plaudern die
beiden mit einer Ernsthaftigkeit über Rockmusik, die Vila-Matas
imponiert und in ihm den Entschluss weckt, sich von althergebrachten
Meinungen, was Kunst sei und dürfe, zu lösen. Seine Begeisterung für
Rockmusik erinnert an zahlreiche ähnliche Stellen bei Handke: "Es war
die Entdeckung des Rock and Roll, die mir das Leben rettete oder
zumindest mein Interesse am Leben weckte. (...) Drei amerikanische LPs
begann mit einer Autofahrt, und die Kamera blieb lange still und fing
vom Fenster aus seitlich die sich bewegende Landschaft ein. Man sah die
Stadt vorbeiziehen, Geschäfte, Reklameschilder, die Randbezirke,
Autofriedhöfe und Fabriken, während Musik von Van Morrison zu hören
war. Die Stimmen von Wenders und Handke kommentierten aus dem Off die
Platten, die sie im Autoradio hörten. Der eigentliche Held dieses
Filmes war der Rock and Roll, der zum einzigen Vehikel der
Kommunikation in einem trostlosen, undurchdringlichen Universum wurde.
Wichtig war nicht, was draußen vor sich ging - es war kein Road Movie -
, sondern drinnen: das Autoradio, der Soundtrack des Films, der Rock."
Ähnlich muss man Vila-Matas Roman sehen: Es geht nicht um die Handlung,
sondern um den Sound. Und der ist unterhaltsam.
(Berndt Rieger; 03/2005)
Enrique Vila-Matas: "Paris
hat kein Ende"
(Originaltitel "Paris ne finit jamais")
Aus dem Spanischen von Petra Strien.
Nagel & Kimche, 2005. 286 Seiten.
ISBN 3-312-00357-1.
ca. EUR 20,50.
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Weitere Bücher des Autors:
"Vorbildliche Selbstmorde. Erzählungen"
Kann man sich bei seinem eigenen Selbstmord von einem Stellvertreter vertreten
lassen? Wohin gelangt man, wenn man sich ins trostlose Grau des Alltags stürzt?
Welche Todesart ist wohl dem leibhaftigen Satan bestimmt? Solche und andere,
ebenso skurrile wie paradoxe Fragen stellen sich beim Lesen der Erzählungen
von Enrique Vila-Matas.
Da kommt einem kunstvoll und pompös vorbereiteten Lebensaustritt ein banaler
Herzschlag zuvor, da endet die konsequente Selbstverleugnung eines begnadeten
Schriftstellers damit, dass er sich in der Dunkelheit verläuft, und eine wahre
- wenn auch zu Lebzeiten unerhörte - Liebe dauert nach dem freiwilligen Tod
des Verehrten fort, den seine außergewöhnliche (und ebenfalls unerhörte) Leidenschaft
für eine Dritte in den Selbstmord trieb.
Der Tod von eigener Hand, ob langfristig geplant oder beiläufig erlebt, ob als
Erlösung, als Unfall, als bloße Drohung oder rein in der Vorstellung, ob endgültiges
Glück oder bloßes Versehen, ist Grundmotiv und Variation dieses Bandes. Spöttisch,
ironisch, makaber, doch immer unvermutet originell erfindet der Autor die außergewöhnlichen
Spielarten dieses tod-ernsten Themas, erfindet er seine "Vorbildlichen Selbstmorde".
(Suhrkamp)
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"Bartleby & Co."
"Schon seit langem erforsche ich die unterschiedlichen Erscheinungsformen des
Bartleby-Syndroms, untersuche diese Krankheit, dieses verbreitete Leiden in
der Literatur, den negativen Unterton, die Faszination des Nichts." Robert Walser
war einer. Jerome D. Salinger auch. Joseph Joubert ebenfalls, Pépin Bello erst
recht und Bobi Bazlen so sehr, dass er nicht ein einziges Buch veröffentlichte:
ein Bartleby, ein Schriftsteller, der sich dem Schreiben verweigerte. Sogar
die schöne Maria Lima Mendes scheiterte an der Größe ihrer literarischen Projekte
und verlor daran fast die Lebenslust. Beckett,
Rimbaud und Kafka,
Hofmannsthal, Borges und Celan - sie alle gehörten zum Typ des Bartleby, zum
Typ des Schriftstellers, der "vorziehen würde, es nicht zu tun." (Nagel &
Kimche)
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"Risiken & Nebenwirkungen"
Nach dem pointiert-witzigen Roman "Bartleby & Co." leuchtet Enrique
Vila-Matas einmal mehr in die Tiefe der literarischen Obsessionen. Hier ist es
die unzähmbare und gefährliche Schreibwut, die den Helden umtreibt. Vila-Matas
öffnet alle Medizin- und Giftschränke seiner Belesenheit und seines Esprits,
um Krankheit und Heilmittel der Literatur in glanzvoller Fülle auszubreiten.
(Nagel & Kimche)
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"Die merkwürdigen Zufälle des Lebens"
Schriftsteller und Spione, geheime Liebschaften und Voyeure, eine kleine Familie
und ihr kühnes Oberhaupt: kunstvoll, komisch und temporeich zeigt der Roman
über den Tag im Leben eines Schriftstellers, wie sich übermäßige Neugier
zuweilen fatal auf die Gesundheit auswirken kann. (Nagel & Kimche)
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