Hans-Dieter Gelfert: "Edgar Allan Poe"

Eine Biografie


Überraschende Entdeckungen im Werk Edgar Allan Poes

Als Dichter des Morbiden, Krankhaften, als Verfasser von Horrorgeschichten wird Edgar Allan Poe, dessen Geburtstag sich 2009 zum zweihundertsten Mal jährt, überwiegend angesehen. Dass dieses Bild dem Dichter nicht so ganz gerecht wird und einer Korrektur bedarf, versucht Hans-Dieter Gelfert in seiner Poe-Biografie darzulegen. Da der Markt auch im deutschsprachigen Raum mit Poe-Biografien bestens versorgt ist, wie Gelfert einräumt, geht es ihm in seiner Biografie nicht um die Präsentation neuer Forschungsergebnisse, sondern um eine neue Sichtweise auf Poe und dessen Werk. Er versucht, den Dichter und sein literarisches Vermächtnis aus dem Kontext seiner Lebensumstände zu verstehen und von daher seinen Lesern nahe zu bringen. Doch dies zu versuchen, sollte eigentlich Anliegen einer jeden Biografie sein. Dem Biografischen im engeren Sinne schickt der Autor eine "Annäherung an Poe" voraus. Darin klassifiziert er ihn als den "unamerikanischsten unter den amerikanischen Klassikern", stellt den Facettenreichtum seines Schaffens heraus, wovon Grotesken und Satiren den Löwenanteil stellen und Horrorgeschichten nur etwa zu einem Sechstel vertreten sind, und skizziert kurz die Gründe für seine mangelnde Akzeptanz sowohl in den damaligen als auch (neuerdings wieder) in den heutigen Vereinigten Staaten von Amerika. Es folgt eine Zustandsbeschreibung von "Poes Amerika", worin Gelfert die Zustände schildert, die zu Poes Lebzeiten in diesem Land geherrscht haben. Besondere Berücksichtigung erfahren dabei die Verhältnisse in jenen Städten, in denen Poe eine längere Zeit seines Lebens verbracht hat. Im dritten Kapitel seiner "Annäherung an Poe" schwingt Hans-Dieter Gelfert dann den Hammer der Überraschung und trifft damit einen Nagel auf den Kopf, den die Literaturkritik bislang wohl nicht wahrgenommen hat oder nicht wahrnehmen wollte. Gelfert lässt hier tatsächlich einige der bekanntesten Werke Edgar Allan Poes in einem neuen Licht erscheinen. Und nicht nur das, er stellt auch Poes Ruf als Erfinder der scharfsinnigen Analyse in Frage (man denke da nur an die Geschichten um seinen Meisterdetektiv Dupin, den Ahnherrn von Sherlock Holmes und Hercule Poirot). Hans-Dieter Gelfert ist nämlich selbst in die Rolle eines Dupin geschlüpft und hat Poes Geschichten einer akribischen Analyse unterzogen. Dabei ist er überraschenderweise auf zahlreiche, zum Teil schwerwiegende logische Unstimmigkeiten gestoßen. Für Gelfert stellt sich nun die Frage: Hat Poe diese offensichtlichen logischen Fehler schlichtweg übersehen, hat er also bei seiner Arbeit geschludert, oder trieb er da bewusst Schabernack mit seinen Lesern, wie es dem Naturell des Dichters durchaus entsprochen hätte? Soweit zur "Annäherung an Poe", dem ersten Teil der vorliegenden Biografie.

Es folgt als Teil 2 "Leben am Rande des Malstroms", der im eigentlichen Sinne biografische Teil von Gelferts Poe-Publikation. Dieser beinhaltet die üblichen biografischen Angaben zu Kindheit und Jugend, Edgars Aufnahme als Pflegekind durch das Ehepaar Allan, seine Militärzeit und so weiter. Mehrere Wenden zum Schlechten bestimmten den tragischen Lebenslauf Edgar Allan Poes, deren erste war der Bruch mit seinem Pflegevater, dessen letztendliche Ursache bis heute unklar geblieben ist. Doch hatte wohl hier ebenso wie an den anderen Wendepunkten der "Kobold des Perversen", auf den Gelfert immer wieder Bezug nimmt, seine Finger im Spiel. Dieser "Kobold des Perversen" ist Titel einer Geschichte Poes, und sein Biograf Hans-Dieter Gelfert sieht in ihm jenen Dämon, der den Dichter stets von neuem zu unerklärlichen, verderblichen Verhaltensweisen angestachelt hat, oft gerade dann, wenn das Glück ihm einmal zulächelte. War es der Kobold einer unbewussten, vielleicht sogar einer bewussten Selbstdemontage, wie Gelfert vermutet? Ein anderer Dämon, der den Dichter tyrannisierte, war der Dämon Alkohol, der ihn zu immer wiederkehrenden Exzessen getrieben hat. Eine der am wenigsten nachzuvollziehenden  Entscheidungen Poes war die, seinen Erzfeind Rufus W. Griswold zu seinem literarischen Nachlassverwalter zu bestimmen. Griswold nutzte das dahingehend aus, Poe nach seinem Tode ungeniert in der Öffentlichkeit zu diffamieren und in ein schlechtes Licht zu stellen. Aber auch durch seine Tätigkeit als Rezensent machte Poe sich viele Dichterkollegen zu Feinden, da er sein Beckmesser mit ungewöhnlicher Schärfe führte und zahlreiche Werke anderer Autoren geradezu abschlachtete. Die Auseinandersetzungen auf diesem unrühmlichen Felde gipfelten in einer unversöhnlichen Fehde mit seinem Dichterkollegen Longfellow. Poe erhob immer wieder ungerechtfertigte Plagiatsvorwürfe gegen Longfellow, und er tat dies als ein Dichter, bei dem die Forschung inzwischen nachweisen konnte, dass er sich selbst gern aus fremden Töpfen bedient hat.

Hans-Dieter Gelfert zeichnet also in seiner Poe-Biografie kein allzu sympathisches Bild dieses dennoch unumstritten genialen Dichters. Fernab von jeglicher Beweihräucherung stellt er die Fakten dar, die von der literarischen Forschung bislang aus dem Dunkel der Vergangenheit ans Licht gefördert wurden. Keine Spur von einer Verherrlichung, wie sie Poes erster Biograf John H. Ingram in seiner von Lobhudelei und Rührseligkeit triefenden Biografie vorgegeben hat. Und Gelfert beweist dabei ein Gespür für das Wesentliche, sein Buch ist konzis und geradlinig, dabei sehr gut zu lesen, und es bringt darüber hinaus neue Aspekte in der Bewertung von Poes Schaffen, wie die bereits erwähnte Aufdeckung zahlreicher logischer Schwächen. Man fragt sich dann als kritischer Leser, warum man nicht selbst schon darauf gekommen ist. Doch befindet man sich mit dieser Fehleinschätzung von Poes Kombinationsgabe in ganz guter Gesellschaft. Der Schriftsteller Günter Kunert beispielsweise attestiert Poe in seinem Nachwort zu einer Geschichtensammlung des Dichters "genau kalkulierte und berechnete Geschichten, deren Enthüllung sich stets elegant und mit bewundernswerter Perfektion vollzieht." Dass dies längst nicht in jedem Fall zutrifft, hat Hans-Dieter Gelfert hier überzeugend nachgewiesen.

Die Vorstellung der wichtigsten Werke Poes und deren Stellung im Gesamtwerk, ihre Verknüpfung mit dem Lebenslauf des Dichters, das alles ist Gelfert vorbildlich und auf wohltuend unakademische Weise gelungen. Er schreibt prägnant und verständlich, so dass auch jeder Laie dieses Buch mit Gewinn lesen wird. Der Leser erhält mit dem Kauf dieses Buches eine in allen Belangen zufriedenstellende Einführung in Leben und Werk dieses großen Dichters.

Macht und Ohnmacht sind die beiden Pole, nach denen sich Poes Gedanken ausgerichtet haben. So sieht es jedenfalls sein Biograf Hans-Dieter Gelfert. Ein gewisses Gefühl von Macht vermittelte ihm wohl seine Tätigkeit als Rezensent, die er mit Biss und Ironie ausübte. Allerdings fehlte ihm andererseits die Fähigkeit zur Selbstironie. Demokratie sah er als die Herrschaft des Mobs an. Über Poes Todesursache wurde viel spekuliert, doch sie liegt bis heute im Dunkel der Geschichte vergraben. Mehr Worte brauche ich über das Leben und Wirken des Edgar Allan Poe an dieser Stelle nicht zu verlieren, man lese es besser in dieser hervorragenden Biografie nach.

An die wichtigsten biografischen Daten aus Poes Leben, die, gekoppelt mit einer Betrachtung seiner herausragendsten Werke, im zweiten Teil des Buches abgehandelt wurden, schließt sich Teil 3 der Biografie an, überschrieben mit "Poes Poetik". Hier zunächst in Poes eigenen Worten: "Das Sentiment der Poesie ist nichts Anderes als der Sinn für das Schöne, das Erhabene und das Mystische. Poesie ist die Empfindung intellektueller Glückseligkeit hier, und die Hoffnung auf eine höhere intellektuelle Glückseligkeit danach. Die Imagination ist ihre Seele." Was man in gewisser Weise für Balzac in Frankreich oder für Goethe in Deutschland reklamieren kann, das war Poe für die us-amerikanische Literatur: ein Dichter auf der Schwelle zur Moderne. Auch Hans-Dieter Gelfert sieht Poes Dichtung auf dem Grat zwischen Romantik und Moderne angesiedelt. Und auch in anderer Beziehung war Poe nach Ansicht seines Biografen ein Grenzgänger. Grenzüberschreitung wurde ihm sogar zur Obsession. Da gab es zum Beispiel die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn, auf der Poe gelegentlich balancierte; in seinen Gedanken, deren Spuren sich ja irgendwie in seinen Werken manifestiert haben, beschäftigte er sich wohl intensiv mit der Grenze zwischen Leben und Tod. Ebenso spielte die Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem eine zentrale Rolle in Poes Leben. Zusammenfassend hat Hans-Dieter Gelfert fünf entscheidende Momente in Poes Grundhaltung ausmachen können: "Er sieht die Welt (1) jenseits von Gut und Böse, (2) beherrscht vom Willen zur Macht, (3) als den Prozess einer sich ewig neu gebärenden Schöpfung mit (4) der Möglichkeit, dass auf den Menschen ein höher entwickeltes Wesen folgt, und (5) alles das überstrahlt vom ästhetischen Ideal des Göttlich-Schönen." Dies weckt beim Leser unwillkürlich Assoziationen zur Philosophie Nietzsches. Der Autor schließt seine Betrachtungen über Edgar Allan Poe mit der treffenden Feststellung: "Sein ganzes Leben war ein Schwimmen gegen den Strom. Was ihn über Wasser hielt, war eine unbändige Willenskraft, die ihn tragischerweise immer dann verließ, wenn ihm das Glück lachte und er nur dem Strom hätte folgen müssen."

Der Anhang der vorliegenden Biografie hält noch weitere interessante Informationen für den Leser bereit. Neben der üblichen Zeittafel, dem Personenregister, den Hinweisen auf die benutzten Quellen et cetera, bringt Gelfert auch noch, was besonders zu begrüßen ist, eine Übersicht über die wichtigsten schreibenden Zeitgenossen in Poes USA, die er in stichwortartigen Kurzporträts dem Leser vorstellt.

(Werner Fletcher; 10/2008)


Hans-Dieter Gelfert: "Edgar Allan Poe"
C.H. Beck, 2008. 250 Seiten.
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Hans-Dieter Gelfert war Professor für englische Literatur an der freien Universität Berlin und ist jetzt freischaffender Autor.

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