Tagnachtbücher
von Doris Krestan


"I´m not like them
But I can pretend
The sun is gone
But I have a light
The day is done
But I´m having fun
I think I´m dumb
Or maybe just happy ..."
("Dumb"/Nirvana)

1. Meilenweit

Sind das die Nachrichten?: "Die Blutwanne wartet, die Abwehr ist nur noch ein Torso. Lichtempfindliche Schwertsinger im Gespräch mit einem Ertrunkenen: Per Anhalter durch fremde Triebwelten."

Die Wasserwaage geht zehn Minuten nach, ich muss meinen Kopf wohl irgendwo zwischen Seinen Beinen vergessen haben. Blutnasse Findelgedichte als Zugabe vielleicht? Fiel leicht? Er öffnet das Fenster. Mondlicht kippt auf den Gehsteig, verwandelt Sekunden in Unfarben. Am Himmel: Scherenschnitte aus Nachthimmelstoff; Krähen. Er schenkt mir eine entlegene Frage aus dem unbescholtenen Vorleben der mörderischen Mehrfach-Witwe. ("Was für ein Andrang, ebne mich ein", bitte ich Ihn angestrengt.) Doch die Frage: "Unsittliche Taten oder sittliche Untaten? Vieldimensionale Gewebeunruhe bedingt unterirdischen Tropensozialismus?"

Vor solchen Stimmungskurven stehen keine Warnschilder, Festland ist im äußersten Bedarfsfall vorhanden. Ich kenne Ihn, zu Wasser und zu Land, Durststrecken inklusive. Unterschwellig spricht Er von Verwerfungen, hauptverantwortlicher Biomasse und ihrem handelsüblichen Wirkungsgrad. In Zeiten der Steinschmelze tilgt Sein Blick aus Eis und Feuer meine Atemsperre.

Nebenbei die Erinnerung an die Aussage einer Bewohnerin: "Das Milieu ist nieder."

Bilder, wie sie sich aus dem unfreiwilligen Gemeinschaftsfundus auf mich gestürzt haben. "Ebne mich ein", wiederhole ich leise, "wenden wir Nähe an, teilen wir diesen Ort, diese Zeit." So kriechen wir das Teppichland treppab, Kopf an Kopf, tischwärts, wo nicht nur frittierte Libellen im Luftzug beben.

Die Augen so vortrefflich ins Rot versenkt, schlagen wir gierig die Zähne in mürbe Wesen, schlürfen Nässe aus deren Mulden. Ereignistrunken, geräuschblind fallen wir übereinander her; versinken im Anderkörper, saugen ihn kreuzhohl, verteilen wellengleich Licht und Schatten, schichten uns aneinander. Nullabstand, solange der Schrei andauert.

Verschlungen erkalten wir während der Raum eine leere Gestalt annimmt und der Atem abflaut. Nachtlagergeruch ummantelt das zeitweilige Zwillingswesen, Glutnester flackern auf Hautinseln, von Schweißbächen umzingelt.

Der Anderkörper: von Natur aus entschlossen, wandlungsfähig seit jeher; tiefstimmig, Neigungsfreiheit ohne Haftgrenzen, schimmert bei Tagesabbruch, wusste (lange vor mir) um meine Vorliebe für Klingen, teilt mitunter Erstaunen aus oder zerteilt mein Fleisch, bedürfnisbezogen.

"Gitterdenken? ", flößt Er der Stille ein und Seiner Mundhöhle entwinden sich Rauchfäden, verhüllen hingedachte Berge, verbergen vorgedachte Hüllen. "Stachelkernschmelze", entgegne ich. Wir empfinden das Lächeln des anderen, während sich unsere Lippen biegen.

"It´s okay to eat fish
because they don´t have any feelings"
("Something in the way"/Nirvana)

2. Abspeise

Pfirsiche häuten, die Zunge der Schärfe von Ingwer aussetzen! Ich koste die Ingwerpfirsiche, einstweilen friert Er einen kunstvollen Stillstand zwischen zwei Schritten ein und starrt in die Dunkelheit hinaus. Ich trage keine Abschweifungen bei mir, keine Zerbrechlichkeiten.

Es ist die Nacht des Wachsetzens. Er unterlegt uns bei Gelegenheit mit schwarzem Stoff und entnimmt dem Krug elf Tropfen Rosenöl.

3. Ereignisreste

Die Nacht des Wachsetzens ist vorüber. Im Spiegel Nebengesichter zurückgelassen, Handgriffe verworfen, etwas Selbstveruntreuung aufgetragen. Haltloses Verlangen platzt in die Stille der Erinnerung: Er im Traum (umstrahlt von innerem Fieberlicht), die Lippen geöffnet, züngelnd, beschleunigend. Erntezeit im Blickfeld, bedarf es der Verschmelzung. Auf nackten Sohlen kellerwärts, dorthin, wo die Düsternis auf der Lauer liegt. Wellen von Dunkelheit brechen an den Stiegen, begleitet von hungrigen Geräuschen. Mehr spüren als schauen, was es ist. Da sind die Hände der Entwichenen, die Lippen der Anderbefindlichen. Ich kann sie überall fühlen, ihre Berührungen vernehmen, mich in deren weiche Nachtschwärze fallen lassen, geborgen in ihrem zarten Flüstern. Die Erleichterung durchzuckt mich schwallweise. Ein sanfter Kuss aus dem Abgrund, kein Abschied - sie geben mir Ruhe in der Bewegung, die mich zurück führt, an den Wachsetzpunkt.

Ein bettwarmes Atmen verwandelt sich unter mir. "Den Freiraum jagen?" sprengt Er die Wortlosigkeit. "Verbiegungen aneinander legen", wünsche ich mir. Und so pflügen wir einander, vielfach einwärtsgekehrt, anfangslos.

Er spürt die Kellerbefindlichkeit in meinen Augen, denkt an allgemeine Abgründe - das erkenne ich in Seinem Blick. In der Einzahl überlegen. Tun. Sein. Der Himmel spendiert uns ein Gewitter, das Zeichen, teilzunehmen. Also hüllen wir uns in lichtlose Tarnanzüge und verlieren die Erscheinungsbilder, wie jedes Mal, wenn es an der Zeit ist,  für Nachschub zu sorgen.

4. Greifarme

Außenwelt-Tag: der Wind fetzt willkürlich Wolken auseinander, vereinzelt stechen Sonnenstrahlen  in den dampfenden Erdboden, bisweilen prasseln orientierungslose Wassereinheiten hernieder. Für aller Augen unsichtbar, das sind wir, und wir fliegen mit den Luftmassen empor, kreisen ohne Schatten über den Feldern, Wäldern, Dörfern. So hat jeder den anderen vor langer Zeit als Luftzug wahrgenommen, das Eigene im Fremden wiedererkannt; die Entsprechung gefunden. Seit jenem Tag teilen wir die Brauchbarkeit und brauchen die Teilbarkeit gemeinsam.

Das benachbarte Kreisen hält einen Moment inne; dann ein Zielstoß, pfeilschnell erdwärts, auf den Nachschub zu, der sein Ende nicht herannahen sieht. Ein vollendeter Gnadenbiss, ein leises Keuchen, und alles Flüchtenwollen ist vorüber.

Mitunter bin ich Scheinbeute, nur um Seine Reißzähne in mir zu spüren.

5. Ungewohnheiten

"In her eyes
a distant firelight
burns bright
wondring why
it´s only after dark ..."
("After dark"/Tito & Tarantula)

Wieder im Turm, den lichtlosen Tarnanzügen entstiegen, gleiten zwei Schatten Haut an Haut zum Kamin, versinken in den Flammen, zerteilen sich lichterloh, tanken Feuer.

Als wir nebeneinander aus dem Lodern hervortreten, spricht Er: "Dieses Feuers heller Schein wird heut´ unser Lager sein. Folge mir, nicht deinem Zweifel, denke nicht, ich sei ...."

Als ich die Hände in Seine Richtung ausstrecke, denke ich an nichts, weil mich das Licht in Seinen Augen überwältigt und lähmt: Nicht Feuer weil zu klar; nicht Eis weil zu brennend. "Ohne Zweifel, pur und rein werd´ ich also für dich sein", antworte ich, einen Anflug von Zustimmung in Seinen Zügen gewahrend. Bar aller Zweifel? Wie oft bin ich schon an diesen Klippen gestanden, ohne jemals den Sprung gewagt zu haben - Zweifel verstehen die Kunst der Tarnung, das Versteckspiel. "Nimm, was ich dir geben kann, warum und wie und wo und wann", füge ich hinzu. "Gib mir, was ich nehmen kann, jetzt und hier und so und dann", lautet Seine Antwort, die Er mit einer einladenden Geste garniert.

Kurz darauf werden einige Zweifel im Kamin eingeäschert; der Rauch riecht nach Untergang.

Wir leben. Möglicherweise. Gleichzeitig.

6. Unweigerlich

Damals hatte Er eigene Unstimmigkeiten, die unvermittelt erschienen, Verwüstungen anrichteten und verschwunden waren, bevor ich sie beim Namen nennen konnte.

"Heil aus Unheil, Kraft aus Not. Was immer schwankte, rückt ins Lot", begrüßte ich Ihn, als Er zu jener Zeit mit Finsternis im Gesicht eintrat. "Sei bedankt für diesen Spruch doch mich bannt ein Kummerfluch", entgegnete Er in Gedanken. (Er wusste, dass ich Ihn auch auf diese Weise verstehe.) Und so dehnte ich mein Empfinden auf Ihn aus, schaute Sein Erleben, spürte Sein Dasein, ortete den Kummer im Unvollkommenen. "Sehen ist Wissen, Fühlen ist wahr. Du wurdest zerrissen vor sechshundert Jahr´. Denken ist Freiheit, Handeln ist klar. Du wirst wieder eins sein in dreihundert Jahr´", teilte ich meine Wahrnehmung mit Ihm. Er nickte und atmete Rauch aus. Der Abend versiegte mit den Worten.

7. Unrast

Er tritt aus der Wand hervor, bringt das Tageslicht zum Verstummen, verwurzelt sich in der Tiefe der Polsterlandschaft und atmet sich empor. Zwei Beobachter in uneigenen Augen, einander Offenheit zuwendend. "Die Währungseinheiten für Zeit unterliegen Wandlungen, nicht die Zeit an sich", vernehme ich wie aus weiter Ferne. "Sie sind unterlegen?" streue ich Buchstaben in den Raum. Atmen, Stille, atmen. "Ernüchternd geradezu, ununterbrochen", hängt Er an. Einverständnis im Schweigen belassend, versinke ich im Wandspiegel und koste von der Umtriebigkeit junger Jahre. Ein grüner Geschmack verbreitet sich am Gaumen. Ich wende mich nach innen und begegne dem Vergessen, streife das Wandelbare, entwinde mich der Unrast und ziehe mich in den Augenblick zurück.

8. Schimmerkern

Selbst wenn die Sonne gerade ihren höchsten Stand innehat: Niemals übertönt sie den anschmiegsamen Schimmerkern der Hingabe. "Fraglos immerhin haltbar", quillt Seine Verwunderung hervor, während Er der Zubereitung des italienischen Topfenkuchens körperlich beiwohnt und reptilgleich versprengte Rosinen verschlingt. "Wohin, woher; woher, wohin - sag mir, wer ich heute bin", ziele ich auf Seine Ohren. Kauend überlegt Er, schluckt, verteilt ein Lächeln und meint: "Teilweise dem Gestern entwachsen, bisweilen zumindest." Meinerseits unbefangenes Lautlachen. Zwei Zeigefinger graben sich forsch in die Topfenfüllung, treiben Stollen voran. Essen. Haben. Sein.

Und wieder die Nachrichten: "Resultate, Menschenzählung, kein Denkbedarf festgestellt. Beschwichtigungsattacke aus dem Landesinneren; Einschüchterungsprosa auflagenorientiert in sozialverträglichen Dosen verabreicht, ..." Unschlüssig schicke ich noch eine Frage auf den Weg: "Und sonst?" Sein Blick stolpert, fängt sich, steht still. Ein langgedehntes Aushauchen folgt, dahinter die lautlose Antwort:"Später."

9. Rundumgebung

Wir liegen auf dem Dach. Ich schreibe, Er zitiert (wobei Er besonderen Wert auf theatralisch gesteigerte Betonung legt):" Als unzüchtig sind solche Schriften und Abbildungen anzusehen, die den herrschenden Wertvorstellungen der Gesellschaft in geschlechtlicher Hinsicht widersprechen und solcherart das Zusammenleben grob stören -", Er blickt auf und durchleuchtet mich, ehe Er fortfährt, "jedenfalls sind darunter sexuelle Gewalttätigkeiten und Unzuchtsakte mit Unmündigen, mit Personen gleichen Geschlechts oder mit Tieren zu verstehen." "In geschlechtlicher Hinsicht!? Eher Fehlsichtigkeit. Demzufolge empfiehlt es sich, Unzucht und Unordnung oder Zucht und Ordnung sanft - aber doch - zu stören", füge ich hinzu und streiche Seinen Rücken entlang.

Es ist einfach so, so einfach hier zusammen. Niemand, der sich entwinden muss.
"Ci sarà un temporale?" frage ich aufwärts. "
Ogni ora", meint Er und ich weiß, dass Er dazu lächelt, auch wenn Sein Rücken in regloser Starre mein Blickfeld entzweit.

10. Außenwahrnehmungen

"Japananemonen sind langstielige, fluguntaugliche Hahnenfußgewächse mit offenen Schalenblüten, die im lichten Halbschatten gedeihen. Gleich uns", schreibe ich. Eine weiße Blüte liegt vor mir. "Ich habe die menschliche DNS vertont", schallt mir Seine Stimme, eingekleidet in einen Tonfall aus Genugtuung und Heiterkeit, entgegen.
Der Werdegang einer Tagesunordnung, wie wir sie schätzen; die Urform der gemeinsamen Abstammung. Vier
Schattenaugen ohne Hast, beim Überqueren des Vorspielplatzes.
Einmal brachte Er mir eine
Malachitpyramide aus dem Ural und forderte mich auf, die Handflächen nach oben zu kehren, woraufhin Er den Stein in meine Hände legte und meinte:"Dunkelgrünes Kupfercarbonat, schon in Ägypten verehrt. Lichtbringende Kräfte. Beleuchte also, was immer dich hält."

"Who knows how long I´ve loved you?
You know I love you still.
Will I wait a lonely lifetime -
If you want me to - I will ..."
("I Will"/The Beatles)

11. Entzwingung

Blassgrau dunstet der Tagesanbruch unter der Wolkendecke, als wir in entgegengesetzte Richtungen aufbrechen. Er, Luft zu holen, ich, Licht zu sammeln. Jegliches Abschiednehmen haben wir nach dem Wegfall der Zeitabschnitte abgeschafft, so hauchen wir sanft ineinander. Ich spüre Ihn bereits schweben und lasse mich gleichfalls erfassen, empor in den Morgen tragen.
"Gleiches ungleich tun. Mitunter Ungleiches gleich tun", höre ich Ihn noch denken, dann bin ich anderswo, sehe unseren Turm in weiter Ferne in der Landschaft versinken. Ich tauche in die
Wolken und halte Ausschau nach meiner Sorte Helligkeit, bis ich ihre Wärme fühlen kann. Einatmen, körperwarm, bauchtief.
"Dies sei fortan deine Welt, in der dich nichts gefangenhält.
Weise von dir alles Schlechte, unterlasse Scheingefechte.
Nimm dir mit von diesem Licht, vernimm in dir den Zeitverzicht", ist, was die Wolke zu mir spricht.
"Ich trage keine Zeit in mir, Wolke, deshalb bin ich hier!" erwidere ich und sinke hinab, dem taufeuchten Wiesengrund entgegen.

Als ich erwache, steht Er als lichtlose Erscheinung über mir.
"Diesmal unvergleichlich", flüstert Er und ich nehme den Blutgeruch wahr, den Er verströmt. "Blutende Luft gestreift?" frage ich schelmisch. Er nimmt Gestalt an, entzündet einen Stein und setzt sich neben mich. "Auch. Und: Beute." Auf dem Stein erscheinen die Worte "Eigenstand" und "Einswerdung". Zustimmung in uns, während Er anhebt:
"Und mit kampferhöhtem Durste
Stürzen an den Quell die Sieger,
Und sie trinken gierig, hastig,
Wie das Blut der heiße Tiger. - Nikolaus Franz Niembsch Edler von Strehlenau, gemeinhin als Nikolaus Lenau ein Begriff."

12. Rückhang

Als Er einst den Turm errichten ließ, brachte Er am Sockel eine Inschrift an: ab hac ora, ab hoc die, ab hac nocte. Vor Sonnenuntergang treffen wir an dieser Stelle in Gestalt wachsender Schatten aufeinander und verschmelzen in der verdichteten Dunkelheit zu einem Gedanken: "Beute schlagen -" Das zeitweilige Zwillingswesen häutet sich und fließt danach lautlos die Stufen hinauf in die Kammer, hüllt sich in einen lichtlosen Umhang und verlässt den Turm durch die Luke. Es fliegt in Windeseile zum dunklen Wald, nicht Er, nicht ich; Es. Wir. Landen im Dickicht; blitzschnell schlängeln wir uns voran, spüren unsere Schuppen über den benadelten Boden streifen, riechen den diesmal gültigen Träger von Fleisch und Blut. Er erwartet schon den erlösenden Biss, der sein Denken beenden wird, wittert die nahenden Windungen. Ein gieriges Zischen, dann wieder völlige Stille. Das Wirwesen entzweit sich.
Ich umschlinge, Er umzüngelt den Beutekörper kopfwiegend, richtet sich auf und schlägt Seine Krallen in das triefnasse Fleisch. Reißgeräusche und kehlige Laute begleiten den Sonnenuntergang.

13. Sirruf

Der biegsame Anderkörper liest:
" 'Wie schwer es doch ist, die Dinge beeinanderzuhalten.' 'Das ist wohl wahr', ließ eine leise Stimme sich hören. 'Offenbarungen jedweder Länge und Breite stoßen früher oder später auf Worte. Und Worte können nur auf sich selber stoßen.' Die Stimme kam Tatarski bekannt vor. 'Wer ist da?' fragte er, sich im Zimmer umsehend. 'Sirruf ist da', erwiderte die Stimme. 'Soll das ein Name sein?' 'This game has no name', sagte die Stimme. 'Es ist eher eine Funktion.' Tatarski war bereits eingefallen, wo er die Stimme gehört hatte: auf der Militärbaustelle im Wald. Dieses Mal sah er den Sprechenden - besser gesagt, ihn sich vorzustellen brauchte weder Zeit noch Mühe. Zunächst sah er einen Hund vor sich: eine Art Jagdhund, jedoch mit unglaublichen Krallen an den mächtigen Pfoten und einem langen, aufrechten Hals. Gedrungener Kopf, dreieckige Ohren, ein nettes, spitzbübisches Schnäuzchen und ein kleiner, kokett sich kräuselnder Schopf obenauf. Wie es aussah, lagen seitlich auch noch zwei Flügel an. Bei näherem Hinschauen mußte Tatarski sich korrigieren: Das Tier war so groß und so obskur, daß man wohl eher von einem Drachen sprechen konnte, zumal es von buntschillernden Schuppen bedeckt war (das Schillern schien sich übrigens auf beinahe alle Gegenstände im Zimmer zu übertragen). Doch trotz seines reptilischen Äußeren ging von dem Geschöpf so viel Gutmütigkeit aus, daß Tatarski keinen Schreck bekam."
"Ein reptilisches Inneres ist kälter?" frage ich Ihn. Er blättert im Buch herum, mustert mich dabei oberflächlich, schlägt eine andere Seite ( in
"Generation P" von Viktor Pelewin) auf und liest weiter: "Verstand schafft Leiden." Ich will aber nicht schweigen und wiederhole:"Ein reptilisches Inneres ist kälter?" Er grinst mehrdeutig, klappt das Buch zu und zieht sich in die Mauer zurück. Nur eine schillernde Stelle an der Wand verrät, wo Er sich befindet.
Ich lege meine Handflächen dorthin und beharre:"Du weißt, ich werde wieder fragen", bevor auch ich mich auflöse. Innerhalb der Steine gibt es keine Worte, allein reglose Ruhe.
Dort bewahren wir uns auf.

14. Auch

Diesmal lese ich:" Konsum war mythisch geworden, alle Werbung Sakralkunst. Schon weil es keine strikten Ladenschlußgesetze gab und die Geschäfte, die die Nachtzentren flankierten, rund um die Uhr geöffnet hatten. Aber  h i n t e r  der Leinwand war nichts als Wand. Ich mußte den paar Straßen nur meinen Rücken kehren, und aller Glamour verbröselte. Wo noch Feuchtigkeit blieb, gärte Schattengetier: augenlose Lurche versteckte Prostitution Gummiknüppel schlechtes matschiges Essen. Agonie und Aggressionen aus Angst." (Es handelt sich hierbei um eine Stelle aus "In New York", einem Roman von Alban Nikolai Herbst.) "Ein Schattentier-Inneres ist kälter," bemerkt Er nach einem ausgedehnten Stillstand; hinter Seinen Augen blitzen Sterne. Eine Antwort von vielen, treffsichere Einschränkung Seinerseits. "Ich glaube dir."
"Ich weiß." Wir malen Gegenwart in die Luft.

15. Entplanung

"Sei meine Bewegung", fordert Er als Gegenleistung. Ich habe "Denke mich" vorgeschlagen. Es geschieht: Er denkt mich, ich bewege Ihn. Eine Erfassung lächelt uns aus dem Kamin an, ich führe Ihn darauf zu, Er denkt mich hinein. "Erforsche die Übereinstimmungen", rät Er mir. "Du nistest dich im Grundgerüst ein. Mische die Elemente - ", entgegne ich und schneide Seine Umrisse in die Tischplatte. Er liebt gefällige Kampfspuren, der Umgebung träge beigebracht, im Schritttempo verursacht. Gedanken, die Ihm entstammen, sehen, weil Er es will. Wieder will. "Zerbeiße die Spannung."
"Jetzt?" "Ja. Jetzt."

"Trägt nicht alles
Was uns begeistert
Die Farbe der Nacht - ..."
("Hymnen an die Nacht"/Novalis)

Im Junisturm bauschen die Baumkronen, im kargen Nachtlicht erkennen wir einander umso deutlicher, die Sinne geschärft. Entrinden, entrinnen. Einander ansehen, ansprechen, andenken. Augenblicklich in Ihm zu finden: Bilder einer Reisebewegung, einer Ansammlung finsterer Gassen, Reste von Sonnenglut zwischen den trockenen Lippen. Und Er pfeift eine konservierte Melodie in die Leere.

16. An- und Abstand

"Pleased to meet you,
hope you guess my name
but what´s puzzling you
is the nature of my game..."
("Sympathy for the devil"/Rolling Stones)

Unter der zerrupften Julisonne krähen die Grashalme, in uns und um uns drehen sich behäbige Rauchschwaden. Das Kaminfeuer ist letzte Nacht mit Ihm entflohen:
Als es am Tor klopfte, ist Er hindurchgegangen, ohne Verformung oder Aussage; als Er wieder hereinkam, war Wildnis in Seinem Schauen, Zorn in die Gesichtszüge gegraben. "Menschen", sagte Er mit eisiger Stimme und stieg in die
Flammen. Es war nicht die Zeit der Verständigung und so blieb ich reglos und still.

Bei den letzten Atemzügen der Nacht kehrte Er als Stichflamme zurück, sichtlich gelöst, in gelinderter Stimmung. Ich entzündete ein Morgenrot und unterdrückte die ewige Frage nach dem Warum.
"Was erschüttert die Gestalt?" (Irgendeine Frage entringt sich mir doch.) "Eindringlinge werden nicht geduldet", zischt es aus Seinem Feuermund. Er wendet sich zum Fenster, Sein
Spiegelbild starrt mich mit einer Mischung aus Lust und Zurückhaltung an, bevor es in Scherben auf dem Boden liegt. Er strahlt mich an und versinkt mit Gelächter zwischen den Splittern wobei Seine Gestalt einfach zerfließt und mit den schillernden Stücken eine Regenbogenfläche erschafft. Ich tauche die Arme ellenbogentief in das Gemisch aus Leben und Liebe, lasse es durch meine Finger rinnen. Es fühlt sich an wie Reiskörner: weicher Widerstand, schwerkraftgebunden. Es glänzt dunkelviolett. "Nachtmeer in Händen, komm!" Eine Bewegung holt mich besitzergreifend in das Gemisch. "Nicht zweifeln; spüren", flüstert Er neben mir. Meine Tentakel tasten suchend umher.
Die Schwerkraft gibt nach, wir befinden uns in der Nähe des Entstehungsortes. Er verlangsamt den Fall. "Wieviel willst du diesmal finden?" Meine Sprechblasen steigen träge höher, pendeln anscheinend unentschlossen seitwärts und verschwinden im Nachtmeer. Sein Griff lockert sich: "Jedenfalls eine gesteigerte Vielfalt, obgleich sie sich bei Annäherung zu entwinden sucht."
Wir lassen uns treiben, Ganzkörpersinnesorgan geworden. Seine dreihundert Jahre sind noch nicht um und meine Gedanken fransen aus.
Zwei Ungedulden werden vom Nachtmeer auf die Oberfläche des Festlandes zurückgeschoben und trocknen nebeneinander im Windschatten.
"Wer hat mir meine Leere gestohlen", hallt ein Klagen rundum.

17. Sunshine in a bag ...

"I ain´t happy, I´m feeling glad
I got sunshine in a bag
I´m useless, but nor for long
The future is coming on ..."
("Clint Eastwood"/The Gorillaz)

Die Trauben reifen am Hang, wäre da nicht dieser verräterische Dunst in einiger Entfernung, alles könnte sein wie seit langem. Er kerbt einstweilen mit einem Ast Schriftzeichen in die ausgedörrte Erde: "Lies -"
Ich verankere mein Blickfeld an den Linien. Der Untergrund buchstabiert mir etwas Vertrautes, das links wie ein Vogelkopf mit Schuppen beginnt und rechts von einem tief ausgestochenen Punkt bedrängt endet. Dazwischen schlängeln sich Krümmungen, erheben sich Wellen, wachsen Kreise. Ich raune etwas vom unterschwellig Unzulänglichen, das jeder Schrift innewohnt, von den blendenden Sonnenstrahlen und vom Vogelschwarm, der uns gleich überfliegen wird.
"Madeira ist der einzige Wein, der unbegrenzt gelagert werden kann", bemerke ich nebenbei, greife nach der dunkel glänzenden Flasche und den Kelchen. "Ich kann diese Schriftzeichen nicht in hörbare Wortfolgen übersetzen. Was hast du geschrieben?"
Er leert Sein Trinkgefäß in einem Zug, setzt den Kelch ab und antwortet: "Du kannst es, nur überlegst du nie zu Ende."
Das ist die eine Seite der Wahrheit. Seinerseits ist es schier unmöglich, Überlegungen zu unterbrechen. Das ist die andere Seite der Wahrheit, und Er weiß es.
"Es handelt sich um den Beginn des
Schöpfungsmythos, wie er von Einwohnern einer Region nahe dem Quellgebiet dieses Flusses festgehalten wurde: Der mächtige Weltvogel überflog einst die Erde auf der Flucht vor einem zornigen Himmelsgott. Er sah glitzernde Meere, würdevolle Berge, fruchtbare Täler, klare Seen, sonnige Wiesen und verwunschene Wälder unter sich. Plötzlich fuhr ein Blitz aus den Wolken,der Himmelsgott hatte ihn verfolgt, der Weltvogel erschrak zu Tode und stürzte ab. Daher der tiefe Punkt, der den Einschlag abbildet. Bevor alles Leben aus dem Leib des Vogels wich, kamen die ersten beiden Menschen aus seinem Schnabel."
"Ebenso steht es geschrieben."

18. Gesammeltes Schweigen anderswo

"I want to thank you
for giving me
the best day of my life
Just to be with you
is having the best day
of my life ..."
("Thank You"/Dido)

"Ein unerfüllter Wunsch zieht Enttäuschung nach sich, ein erfüllter Wunsch untergräbt den Geist."
Überrascht wende ich den Blick vom Vollmond in Seine Richtung. Unbemerkt ist Er auferstanden, nach Etappen der Abwesenheit. Jetzt sitzt Er inmitten der Wiese, als wäre Er an dieser Stelle - wie ein Pilz nach einem Regenguss - emporgeschossen. Ich kenne diese Passage des Romans "Alexandria" von Gerald Messadié ebenfalls. Wir überspringen einige Sätze und beginnen eine Stellvertreterunterhaltung; ich in der Rolle der ewig fragenden Delia, er in der Rolle des Klosterbewohners:
"Wie kann man ohne Verlangen leben?"
"Indem man sich klar bewusst ist, was der Gegenstand des Verlangens ist. Ein Trugbild, geschmückt mit den Farben der Illusion."
"Warum schmückt man Trugbilder mit den Farben der Illusion?"
"Weil man sich von den Sinnen übersättigen lässt. Sie verlangen unablässig nach mehr Genuss und klammern sich an die Kunstgriffe der Einbildungskraft."
Diesen Augenblick prägt jedoch der Vollmond, und so belassen wir es dabei.

Luft sein, in die Luft gehen, jagen, nach Luft schnappen, in Rauch aufgehen. Synchron, jeder für sich, ein begehrender Geist eingekörpert. Die Arme emporgereckt: "Beherberge mich", mehr zum Mond als zu Ihm gesagt. "Mit oder ohne Realitätsanspruch?" fragt Er innerlich. Nicht immer festlegen. Beizeiten ist unsere Gegenwart begehbar, undurchsichtig wird sie durch aufgewirbelten Wortstaub. "Go ahead." Genau. Das Wiederkäuen ersparen wir uns und einander. Immer? Kaum.

Die Sterne umkreisen uns; wir reisen heim.

19. Un Fug und Un Recht

Turm und Springer, Dame und König, Bauer und Läufer stelzen über quadratische Kreuzwortfelder in den Mondaufgang. Wer ist noch übrig geblieben vom Anfang des Spiels? Nicht alles was brennt ist Feuer, klagen schwelende Ruinen an.
Mit Einbruch der Nacht verschließt sich der Wald. Die Abendkulissen sinken zu Boden und ankern im Erdreich. Im Traum konnte ich die unberührbaren Zeichen entziffern, sie wölbten sich auf dem Papier wie Narben; und das ist ihr Wesen. Die Spur war deutlich zu sehen, am Ufer entlang (vernarbte Landschaft?), hinaus ins Wasser. Jemand sieht immer zu. Immer sieht jemand zu. "Wir weben in abgeschiedenen Zeiten oder in fernen Utopien, indes der Augenblick verfließt" ( - aus "Auf den Marmorklippen" von Ernst Jünger). Keine Analyse der Seltenheit von Gefäßpflanzen; dass Gene zu jeder Schandtat bereit sind, ist nicht neu. Zerwarten. Erwarten. Verwarten. Der Schmetterling will wieder Raupe sein. Soll er die Flügel abwerfen, die Fühler hinterher?
Nicht alles was gesprochen wird ist Recht. Nicht alles was verschwiegen wird Unrecht.
"Was einem nicht gehört, kann man nicht verlieren", eine Stimme hinter mir. Der Schmetterling ist verschwunden.

"Trost gedeiht nicht in Städten", schreibe ich auf die Wasseroberfläche. Ist dies eine unverschlossen übersandte Mitteilung an einen abwesenden Empfänger? Je nachdem, was jemand unter "unveschlossen" und "abwesend" versteht ... Die Grundausbildung für dieses Dasein beinhaltete unter anderem das Schaffen von Distanz zur Umgebung, das Verschlüsseln von Empfindungen.

20. Unbindung / Annabeln

"Aber die Wirklichkeit ist die Vorsehung,
und wenn alles so geht, wie es geht,
hat sie bestimmt ihren tieferen Sinn"
(Olga Tokarczuk).

Mehr wahr als wirklich, obschon echt; ein Echo des Urteils: Kein weiteres "Liebe dich"-Ich wird Forderungen einfrieren. Fische leben als Reflektion des Lichts. Blättere mich um, blättere mich weiter, kennzeichne Stellen, beschrifte mich mit Anmerkungen. Streiche Fragezeichen in mir oder füge welche hinzu.

Glück ist kein menschlicher Zustand. Menschsein bisweilen ein glücklicher. Geheimzeit ...


26.03.02 16:58

(Doris Krestan)