Mareike Krügel: "Bleib wo du bist"


Drama und Folgen einer gestrengen Erziehung: Eine Romanbiografie

Therapeuten sind eine Spezies Mensch für sich. Mareike Krügel hat sich des Themas angenommen und einen spannenden Roman darüber geschrieben.

Zu einem Therapeutenkongress in Meran sind eine Menge interessierter Kollegen zusammengekommen, unter ihnen auch Matthias Harms aus Hamburg. Er wird sogar einen Vortrag halten, denn sein Spezialgebiet sind Zwangsneurosen.
Aus seiner Perspektive entsteht das Bild einer Berufsgruppe, die sich auf besondere Weise der eigenen Belastungen entledigt: Man witzelt gerne, beobachtet die Berufskollegen und stellt eigene Betrachtungen zu deren Charakteristika an.

Bei einem Gang durch die Stadt Meran trifft Matthias eine hübsche junge Frau. Er hat mit seinen 51 Jahren nicht übel Lust auf ein kleines Abenteuer. Doch stellen sich im Zusammenhang mit der Kontaktaufnahme beängstigende Erinnerungen bei ihm ein, und er sucht schleunigst das Weite. Innerlich gerät er ins Schleudern und kann seinen Vortrag nicht halten.

Auf einer anschließenden Nachtwanderung in die umliegenden Berge steigt aus den Tiefen der Erinnerung sein Elternhaus vor ihm auf.
In Rückblenden erinnert er sich seiner Schwester, die mit Mitte zwanzig tödlich verunglückt ist. Er stand ihr nah, und sie haben einander in der Jugend geholfen, gegen harte Grundsätze und strafende Eltern zu bestehen. Letztere waren obendrein nüchterne Menschen, die nach dem Tod der Schwester und Tochter zu keiner echten Trauer fähig waren.
Matthias gerät beim Nachdenken über die Vergangenheit in einen psychischen Ausnahmezustand und weiß sich kaum zu helfen.

Der Roman zeigt das Dilemma, in dem sich Therapeuten befinden, die ständig für Andere sensibel und wach sein müssen und dabei ihre eigenen psychischen Befindlichkeiten übersehen.
In feiner Diktion, scharf beobachtend, erlebt Matthias nun an sich selbst, wie man die Kontrolle über sich verlieren kann.
Eingebettet in einen Kreis von Freunden und Kollegen und im Zusammensein mit seiner Frau Anke erfährt man Näheres über sein Leben und seine menschlichen Beziehungen.

Die Autorin Mareike Krügel kennt sich gut aus mit den  psychotherapeutischen Regeln und mit unterschiedlichen seelischen Krankheiten. In den von ihr beschriebenen Gesprächen zwischen Freunden und Kollegen werden Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten besprochen. Nebenbei aber zeigt sie mit den feinfühligen Beobachtungen des Protagonisten, wie geschärft die Sinnesorgane auf die äußeren Schönheiten der Natur reagieren, wenn die geschundene Seele Ruhe sucht.

Es geht in dem Roman auch um Erziehungsmethoden der Vorgeneration, und es geht um die Frage, wie weit man selbst dem Kinderwunsch nachgeben möchte. Ist die Erinnerung an die strafenden Eltern noch allgegenwärtig, erlaubt man sich keine Zuversicht, dass man es besser machen könnte. Es geht aber auch um Ehe, Liebe, Treue und die innere Verbundenheit zwischen Paaren. Tiefsinnig, reflektiert und sehr kompetent weist die Autorin auf Ambivalenzen hin, die das Leben bestimmen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen nicht für sich sondern bilden einen Gesamtkomplex. Mit dem Mangel leben und die Vergangenheit akzeptieren lernen ist die Botschaft dieses Romans.

Mareike Krügel hat das Thema klug und wissend um die seelischen Abgründe bearbeitet. Ihr ist eine spannende Erzählung über die Möglichkeiten und Grenzen therapeutischer Hilfen gelungen und über die Not, denen auch Therapeuten ausgesetzt sind.

(Claudine Borries; 08/2010)


Mareike Krügel: "Bleib wo du bist"
Schöffling & Co., 2010. 232 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Mareike Krügel, 1977 in Kiel geboren, studierte am "Deutschen Literaturinstitut" in Leipzig. 2003 erschien ihr erster Roman "Die Witwe, der Lehrer, das Meer". Mareike Krügel erhielt zahlreiche Stipendien, z.B. war sie als Stipendiatin des "HALMA-Netzwerks" in Polen und Wales. Für den Roman "Die Tochter meines Vaters" wurde sie im Jahr 2003 mit dem "Förderpreis der Stadt Hamburg" ausgezeichnet. 2006 erhielt sie den "Friedrich-Hebbel-Preis".
Lien zur Netzpräsenz der Autorin: http://www.mareikekruegel.de/.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Die Tochter meines Vaters"

"F. Lauritzen Bestattungen" lautet die schlichte Botschaft auf dem Schild im Fenster. Felix - eigentlich Felizia -, die Tochter des Bestatters, weiß schon in der Wiege, welches Erbe sie in Kleinulsby bei Eckernförde antreten soll. Ihre Kindheitsjahre stehen unter dem Zeichen der elterlichen Prinzipien: Höflichkeit, Diskretion und Unauffälligkeit, denen sie jedoch mit ihrem stummen Freund Gunnar auf Mauern, Bäume und Häuser kletternd entflieht.
Mareike Krügel erzählt geschickt auf zwei Ebenen. Sie kontrastiert die Welt des Kindes Felix mit der der erwachsenen Felizia, die aus Kleinulsby ausbricht und ihr Geld mit der Deutung des Lebens aus Tarotkarten verdient. Die großen Gefühle, die sie täglich aus den Karten liest, meiden sie, und nur Cary Grant scheint sie aus ihrer pragmatischen Leidenschaftslosigkeit erlösen zu können. Doch der heißt eigentlich Schmidt und ist von einem Traumprinzen weit entfernt.
Mareike Krügel legte mit "Die Tochter meines Vaters" sowohl einen nicht alltäglichen Entwicklungsroman vor, wie eine ergreifendkomische Familiengeschichte. Ihr trockener Sprachwitz wahrt dabei elegant die Distanz zwischen Schwarzem Humor und Empathie. (Schöffling & Co.)
Buch bei amazon.de bestellen

Leseprobe:

Schon von Weitem fallen die Unmengen an Speck auf, in Streifen, Stücken und Scheiben auf den silbernen Vorlegeplatten des Büffets. Der ganze Saal ist in traniges Gelb getaucht, die tief hängenden Tiffanylampen brennen, obwohl es draußen noch gar nicht dunkel ist. Über der Tür das geschnitzte Holzschild mit der Aufschrift Große Laugenspitze, auf dem Fußboden ein burgunderfarbener Teppich, dunkelbraune Täfelung an den Wänden. Matthias Harms hat kurz das Gefühl, direkt in einen Albtraum hineinzuspazieren. Er wünschte, Günther wäre mitgekommen, wie er es vorhatte, der würde jetzt sicher eine richtig bissige Bemerkung zu der ganzen Szenerie machen und ihn damit aufmuntern. Die Zugfahrt von Hamburg war nicht gerade optimal verlaufen. Ein verpasster Anschluss wegen eines Schwindelanfalls auf der Bahnhofstoilette verlängerte die Fahrt unnötig, später ein ausgedehntes Herumstehen auf freier Strecke aufgrund eines Personenschadens, die Telefonverbindung war ständig unterbrochen, und ein Gespräch mit seiner Mutter konnte er beim besten Willen nicht zu Ende führen. Daran waren die Berge schuld, die Tunnel, das schlechte Wetter unterwegs. Immerhin war er rechtzeitig zur Eröffnungsveranstaltung im Hotel eingetroffen, nur hatte er eben noch keine Zeit gehabt, ein Bad zu nehmen und sich die Nacht im Zug abzuspülen wie ursprünglich geplant. Das Gute ist, dass er durch die längere Fahrt auch mehr arbeiten konnte. Außerdem scheint in Meran die Sonne, es ist unerwartet warm. Und schließlich hat er sich auf das Wochenende in den Bergen ja durchaus gefreut.
Ein Kollege, den er bereits von anderen Tagungen kennt, kommt auf ihn zu, Hermann Manfred, oder auch Manfred Hermann, er kann sich das einfach nicht merken. Der begrüßt ihn, als wären sie schon immer dicke Freunde gewesen, zieht ihn am Ärmel hinter sich her in den Saal, und Matthias ist zu gut erzogen, um sich dagegen zu wehren.
Hermann Manfred findet einen Tisch in einer Ecke für sie beide, und Matthias schiebt sich folgsam auf eine Holzbank mit losen Kissen, die sofort verrutschen. Nach und nach füllt sich der Saal.
Zu ihnen setzen sich drei weitere Herren, einer auf die Bank, zwei auf die Stühle, Vorstellen, Händeschütteln. Matthias hört Hermann Manfreds Namen in der richtigen Reihenfolge und vergisst sie sofort wieder, keiner von ihnen am Tisch trägt die Namensschilder, die im Zimmer bereitlagen. Dann sitzen sie alle da und warten, dass es losgeht, mit weit auseinander gestellten Beinen, verschränkten Armen, Kinn auf der Brust, wie Platzhirsche, und Matthias freut sich heimlich, als er sieht, dass die Kellnerin, die kommt, um Getränkebestellungen aufzunehmen, tatsächlich eine lederne Hirschapplikation auf ihrem Rock hat und Hornknöpfe an der Bluse. Sie bestellen alle Bier. Der Programmpunkt dieses Abends heißt "Geselliges Beisammensein".
Manfred Hermann dreht sich auf seinem Sitzkissen hin und her, späht an den anderen vorbei in den Saal und sagt: "Es sind ganz schön wenig Frauen hier."
"Auf so einer Tagung hat man eben nichts zu suchen, wenn man mit seinen Patienten immer einer Meinung sein will", sagt Matthias. Es soll ein Witz sein, aber die Platzhirsche nicken zustimmend. Daraufhin hält er lieber erst mal den Mund. Es ist zu warm, man kommt ins Schwitzen, der Lärm ist beträchtlich - offensichtlich ist ihr Tisch der einzige, an dem Schweigen herrscht. Das Bier kommt und sorgt für Beschäftigung. Auf den Gläsern sind Tannenbäume abgebildet.
Zur Erleichterung der geselligen Runde werden irgendwann die Ziehharmonikatüren zwischen Speisesaal und Lobby zugezogen, und jemand klopft an ein Glas. Ein Mann erhebt sich, er trägt eine Lodenjacke und hält eine kleine Eröffnungsrede. Matthias kennt ihn, sie haben miteinander telefoniert, Huber heißt er, und er leitet diese Tagung. Er grinst viel, während er spricht, fummelt sich im Gesicht herum und behält die ganze Zeit eine Hand in der Hosentasche. An der Sprachmelodie und den Konsonanten hört man deutlich, dass er aus der Gegend kommt. Er bittet darum, auch das Rahmenprogramm zu beachten, stellt besondere Gäste vor - für jeden Tag ist ein Mittagsredner eingeladen -, und alle Köpfe drehen sich, als er in Matthias' Richtung deutet. Nachdem er ein paar Veränderungen im Ablauf aufgezählt hat, macht er einen Witz - Wie viele Psychologen braucht man, um eine Glühbirne einzudrehen? - und fordert zum Schluss alle auf, sich reichlich vom Speck zu bedienen, und für den Fall, dass er irgendjemandem noch nicht aufgefallen ist, wedelt er mit den Armen Richtung Büffet. Er nimmt sich sogar einen Moment, um dessen Herstellung zu erläutern: besonderes Räucherverfahren, Lufttrocknung,
Edelschimmel, ganzer Schinken, heimisches Schwein. Es gibt Applaus, dann beginnt die Geselligkeit offiziell. Im Hintergrund dudelt Musik.
Matthias hat keinen rechten Appetit, aber die anderen sind bereits aufgestanden, um sich am Büffet anzustellen, und so allein am Tisch kommt er sich verloren vor. Mit einem Teller in der Hand geht er langsam an den Servierplatten vorbei, er hat keine Ahnung, was er sich nehmen soll. Speck ist eigentlich nichts für ihn, aber er nimmt sich pflichtschuldig ein paar grob heruntergesäbelte Scheiben; der Salat mit Gemüsestückchen und reichlich Mayonnaise besteht zu fünfzig Prozent aus Perlzwiebeln. Die Butterstücke, in Form von Kleeblättern ausgestanzt, kommen aus dem Tiefkühler und schwitzen Wasser aus. Die panierten Schnitzel sind natürlich längst kalt, die Salatkomponenten zum Selber-Zusammenstellen sind großenteils eingelegt und riechen säuerlich (grüne Bohnen, Krautsalat, rote Bete).
Am Ende hat er im Wesentlichen Brot auf seinem Teller, eine Scheibe von dem Mischbrot, das so groß ist wie ein Autoreifen, einen trockenen Fladen mit hubbeliger Oberfläche, von dem er hofft, er werde wie Knäckebrot schmecken, und eine Hälfte von einem flachen, runden Brot, das diverse Gewürze enthält. Er meint, es aus einem Urlaub seiner Kindheit zu kennen, den er mit seiner Familie hier verbracht hat. Er weiß noch, dass sein Vater damals bei einer Wanderung für alle drei Kinder mit seinem Filzhut Wasser schöpfte, als sie an einer Quelle Rast machten. Die Wanderung war mörderisch gewesen. Sonst erinnert er sich an fast nichts mehr. Das Ganze ist gut vierzig Jahre her.

zurück nach oben