(...) Sie merkten auch, 
  daß ihr Fuß, wo er tiefer durch den jungen Schnee einsank, nicht erdigen Boden 
  unter sich empfand, sondern etwas anderes, das wie älterer gefrorner Schnee 
  war; aber sie gingen immer fort, und sie liefen mit Hast und Ausdauer. Wenn 
  sie stehen blieben, war alles still, unermeßlich still; wenn sie gingen, hörten 
  sie das Rascheln ihrer Füße, sonst nichts; denn die Hüllen des Himmels sanken 
  ohne Laut hernieder und so reich, daß man den Schnee hätte wachsen sehen können. 
  Sie selber waren so bedeckt, daß sie sich von dem allgemeinen Weiß nicht hervorhoben 
  und sich, wenn sie um ein paar Schritte getrennt worden wären, nicht mehr gesehen 
  hätten. 
  Eine Wohltat war es, daß der Schnee so trocken war wie Sand, so daß er von ihren 
  Füßen und den Bundschühlein und Strümpfen daran leicht abglitt und abrieselte, 
  ohne Ballen und Nässe zu machen. 
  Endlich gelangten sie wieder zu Gegenständen. 
  Es waren riesenhaft große, sehr durcheinander liegende Trümmer, die mit Schnee 
  bedeckt waren, der überall in die Klüfte hineinrieselte, und an die sie sich 
  ebenfalls fast anstießen, ehe sie sie sahen. Sie gingen ganz hinzu, die Dinge 
  anzublicken. 
  Es war Eis - lauter Eis. 
  Es lagen Platten da, die mit Schnee bedeckt waren, an deren Seitenwänden aber 
  das glatte grünliche Eis sichtbar war, es lagen Hügel da, die wie zusammengeschobener 
  Schaum aussahen, an deren Seiten es aber matt nach einwärts flimmerte und glänzte, 
  als wären Balken und Stangen von Edelsteinen durcheinandergeworfen worden, es 
  lagen ferner gerundete Kugeln da, die ganz mit Schnee umhüllt waren, es standen 
  Platten und andere Körper auch schief oder gerade aufwärts, so hoch wie der 
  Kirchturm in Gschaid oder wie Häuser. In einigen waren Höhlen eingefressen, 
  durch die man mit einem Arme durchfahren konnte, mit einem Kopfe, mit einem 
  Körper, mit einem ganzen großen Wagen voll Heu. Alle diese Stücke waren zusammen- 
  oder emporgedrängt und starrten, so daß sie oft Dächer bildeten oder Überhänge, 
  über deren Ränder sich der Schnee herüberlegte und herabgriff wie lange, weiße 
  Tatzen. Selbst ein großer schreckhaft schwarzer Stein, wie ein Haus, lag unter 
  dem Eise und war emporgestellt, daß er auf der Spitze stand, daß kein Schnee 
  an seinen Seiten liegen bleiben konnte. Und nicht dieser Stein allein - noch 
  mehrere und größere staken in dem Eise, die man erst später sah, und die wie 
  eine Trümmermauer an ihm hingingen. 
  »Da muß recht viel Wasser gewesen sein, weil so viel Eis ist«, sagte Sanna.
  »Nein, das ist von keinem Wasser«, antwortete der Bruder, »das ist das Eis des 
  Berges, das immer oben ist, weil es so eingerichtet ist.«
  »Ja, Konrad«, sagte Sanna.
  »Wir sind jetzt bis zu dem Eise gekommen«, sagte der Knabe, »wir sind auf dem 
  Berge, Sanna, weißt du, den man von unserm Garten aus im Sonnenscheine so weiß 
  sieht. Merke gut auf, was ich dir sagen werde. Erinnerst du dich noch, wie wir 
  oft nachmittags in dem Garten saßen, wie es recht schön war, wie die 
Bienen 
  um uns summten, die Linden 
  dufteten, und die Sonne von dem Himmel schien?«
  »Ja, Konrad, ich erinnere mich.«
  »Da sahen wir auch den Berg. Wir sahen, wie er so blau war, so blau wie das 
  sanfte Firmament, wir sahen den Schnee, der oben ist, wenn auch bei uns Sommer 
  war, eine Hitze herrschte, und die Getreide reif wurden.«
  »Ja, Konrad.« 
  »Und unten, wo der Schnee aufhört, da sieht man allerlei Farben, wenn man genau 
  schaut, grün, blau, weißlich - das ist das Eis, das unten nur so klein ausschaut, 
  weil man sehr weit entfernt ist, und das, wie der Vater sagte, nicht weggeht 
  bis an das Ende der Welt. 
  Und da habe ich oft gesehen, daß unterhalb des Eises die blaue Farbe noch fortgeht, 
  das werden Steine sein, dachte ich, oder es wird Erde und Weidegrund sein, und 
  dann fangen die Wälder an, die gehen herab und immer weiter herab, man sieht 
  auch allerlei Felsen in ihnen, dann folgen die Wiesen, die schon grün sind, 
  und dann die grünen Laubwälder, und dann kommen unsere Wiesen und Felder, die 
  in dem Tale von Gschaid sind. Siehst du nun, Sanna, weil wir jetzt bei dem Eise 
  sind, so werden wir über die blaue Farbe hinabgehen, dann durch die Wälder, 
  in denen die Felsen sind, dann über die Wiesen, und dann durch die grünen Laubwälder, 
  und dann werden wir in dem Tale von Gschaid sein und recht leicht unser Dorf 
  finden.« 
  »Ja, Konrad«, sagte das Mädchen. - Die Kinder gingen nun in das Eis hinein, 
  wo es zugänglich war. Sie waren winzigkleine, wandelnde Punkte in diesen ungeheuren 
  Stücken. 
  Wie sie so unter die Überhänge hineinsahen, gleichsam als gäbe ihnen ein Trieb 
  ein, ein Obdach zu suchen, gelangten sie in einen Graben, in einen breiten, 
  tiefgefurchten Graben, der gerade aus dem Eise hervorging. Er sah aus wie das 
  Bett eines Stromes, der aber jetzt ausgetrocknet und überall mit frischem Schnee 
  bedeckt war. Wo er aus dem Eise hervorkam, ging er gerade unter einem Kellergewölbe 
  heraus, das recht schön aus Eis über ihn gespannt war. Die Kinder gingen in 
  dem Graben fort und gingen in das Gewölbe hinein und immer tiefer hinein. Es 
  war ganz trocken, und unter ihren Füßen hatten sie glattes Eis. In der ganzen 
  Höhlung aber war es blau, so blau, wie gar nichts in der Welt ist, viel tiefer 
  und viel schöner blau als das Firmament, gleichsam wie himmelblau gefärbtes 
  Glas, durch welches lichter Schein hineinsinkt. Es waren dickere und dünnere 
  Bogen, es hingen Zacken, Spitzen und Troddeln herab, der Gang wäre noch tiefer 
  zurückgegangen, sie wußten nicht, wie tief, aber sie gingen nicht mehr weiter. 
  Es wäre auch sehr gut in der Höhle gewesen, es war warm, es fiel kein Schnee, 
  aber es war so schreckhaft blau, die Kinder fürchteten sich und gingen wieder 
  hinaus. Sie gingen eine Weile in dem Graben fort und kletterten dann über seinen 
  Rand hinaus.
  Sie gingen an dem Eise hin, sofern es möglich war, durch das Getrümmer und zwischen 
  den Platten durchzudringen.
  »Wir werden jetzt da noch hinübergehen und dann von dem Eise abwärts laufen«, 
  sagte Konrad.
  »Ja«, sagte Sanna und klammerte sich an ihn an. 
  Sie schlugen von dem Eise eine Richtung durch den Schnee abwärts ein, die sie 
  in das Tal führen sollte. Aber sie kamen nicht weit hinab. Ein neuer Strom von 
  Eis, gleichsam ein riesenhaft aufgetürmter und aufgewölbter Wall lag quer durch 
  den weichen Schnee und griff gleichsam mit Armen rechts und links um sie herum. 
  Unter der weißen Decke, die ihn verhüllte, glimmte es seitwärts grünlich und 
  bläulich und dunkel und schwarz und selbst gelblich und rötlich heraus. Sie 
  konnten es nun auf weitere Strecken sehen, weil das ungeheure und unermüdliche 
  Schneien sich gemildert hatte, und nur mehr wie an gewöhnlichen Schneetagen 
  vom Himmel fiel. Mit dem Starkmute der Unwissenheit kletterten sie in das Eis 
  hinein, um den vorgeschobenen Strom desselben zu überschreiten und dann jenseits 
  weiter hinabzukommen. Sie schoben sich in die Zwischenräume hinein, sie setzten 
  den Fuß auf jedes Körperstück, das mit einer weißen Schneehaube versehen war, 
  war es Fels oder Eis, sie nahmen die Hände zur Hilfe, krochen, wo sie nicht 
  gehen konnten, und arbeiteten sich mit ihren leichten Körpern hinauf, bis sie 
  die Seite des Walles überwunden hatten und oben waren.
  Jenseits wollten sie wieder hinabklettern. 
  Aber es gab kein Jenseits. 
  So weit die Augen der Kinder reichen konnten, war lauter Eis. Es standen Spitzen 
  und Unebenheiten und Schollen empor wie lauter furchtbares überschneites Eis. 
  Statt ein Wall zu sein, über den man hinübergehen könnte, und der dann wieder 
  von Schnee abgelöst würde, wie sie sich unten dachten, stiegen aus der Wölbung 
  neue Wände von Eis empor, geborsten und geklüftet, mit unzähligen blauen geschlängelten 
  Linien versehen, und hinter ihnen waren wieder solche Wände, und hinter diesen 
  wieder solche, bis der Schneefall das Weitere mit seinem Grau verdeckte. (...)
(aus "Bergkristall" aus 
  "Bunte Steine", Erzählungen von 
Adalbert 
  Stifter)
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