OH Jung-Hee: "Vögel"

"Von der Sonne, die auf das Glas strahlt, wird man so geblendet, dass man fast nichts mehr sehen kann. Und die Vögel, die vorüber fliegen, stoßen sich da und fallen tot runter. Sie merken ja nichts von den Glaswänden, weil das Glas ganz hell und durchsichtig ist. Überall tritt man dort auf tote Vögel mit zerschmetterten Köpfen."


In diesem Roman der 1947 in Seoul geborenen Autorin werden aus der Perspektive der zwölfjährigen Ich-Erzählerin namens Park Uumi beklemmende Einblicke in die eigene wie auch ihres zehnjährigen Bruders Uuil ("ein Dummkopf") überwiegend von Lieblosigkeit und Vernachlässigung geprägte Kindheit eröffnet. Uumi, geboren am Tag des Abschusses eines koreanischen Passagierflugzeugs durch die sowjetische Luftwaffe, berichtet von ihrem tristen Heranwachsen bei Verwandten sowie bei ihrem Vater, einem Bauarbeiter, der die Kinder Jahre später abholt. Des Vaters verunglückte Beziehungen zu Uumis und Uuils leiblicher Mutter wie auch später zur aufgetakelten Stiefmutter ("die Frau"), einer aus dem Halbweltmilieu freigekauften Schönheit, enden stets damit, dass die misshandelten Frauen ihr Heil in der Flucht suchen und die Kinder im Stich lassen. Somit muss Uumi früh Verantwortung für sich und ihren zurückgebliebenen Bruder übernehmen; sie spielt zugleich Vater und Stiefmutter, Schwester und Schülerin, indem sie die ihr großteils unverständlichen Verhaltensweisen der Erwachsenen imitiert - das Scheitern ist gewiss, zumal in Korea keine hinlänglich unterstützenden kommunalen Einrichtungen existieren. Lediglich eine "Beratungsmutter" erscheint auf der Bildfläche, und die ist's zufrieden, Uumis achtlos geführtes Tagebuch zu lesen. Die beiden Kinder bleiben ohne Geld in einem armseligen Untermietzimmer zurück, sich selbst überlassen, während der Vater sang- und klanglos auf Nimmerwiedersehen verschwindet, um seine Geliebte wiederzufinden.

Uuils Lieblings-Zeichentrickfilmserie ist "Toto, der Weltraumjunge" - Uuil ist davon überzeugt, selbst als Kleinkind geflogen zu sein, als ihn sein Vater im Verlauf eines Streits mit seiner damaligen Frau aus dem Fenster geworfen hat. So bitter die geschilderte Armut auch ist, Uumi und Uuil kennen keine andere Umgebung als eine von Ablehnung, Gefühlskälte und Interesselosigkeit bestimmte. Die übrigen Bewohner der Unterkunft sind allesamt sonderbare Gestalten: Herr Lee, Besitzer eines Vogels im Käfig ("Vogelwitwe"), ein lesbisches Pärchen ("die Fabrikleute") sowie die nach einem Sturz vom Dach gelähmte Yonsuk, deren Klarinette spielender Ehemann, Herr Kim, und ihre Mutter, der undurchsichtige - angeblich kriminelle - Herr Chong, und natürlich die unter Alkoholeinfluss gefühlsduselige, ansonsten hauptsächlich geldgierige, Vermieterin.

Die unterernährten, verwahrlosten Kinder - sie lassen in den Lebensmittelgeschäften anschreiben - haben über die Jahre bizarre bis auffällige Verhaltensweisen entwickelt; so schneiden sie beispielsweise die Gesichter von jungen, hübschen Frauen aus Fotografien und vergraben diese, sie durchwühlen die Habseligkeiten anderer Menschen und lügen hemmungslos. Stundenlanges Fernsehen vertieft die zwischen den Geschwistern herrschende Schweigsamkeit. Nachvollziehbar ist ihr tiefes Misstrauen allen Erwachsenen gegenüber, ihre rohe Brutalität im Umgang mit Menschen, Tieren und Dingen. ("Wenn ich ausgeschimpft oder geschlagen werde, starre ich immer ein Ding an, das mir auffällt. Dabei stelle ich mir vor, dass ich das bin, was ich gerade sehe: ein Tisch, ein Stuhl, eine Blumenvase oder eine vorbeifliegende Fliege. Diese Dinge werden nicht rot, weil sie sich schämen, und sie zittern auch nicht erbärmlich wie Espenlaub aus Angst vor den Schlägen. Ich bin ein Tisch. Ich bin ein Stuhl. Ich bin der Baum draußen vor dem Fenster. Ich bin nichts.") 
Die er- und gelebte Gefühlskälte, die von den auch nicht gerade einfühlsamen Mitmenschen als taktlos empfundene Geringschätzung allen Lebens wird schließlich dazu führen, dass Uumi ihren inzwischen in schlechter Gesellschaft auf die schiefe Bahn geratenen und endgültig dem Wahnsinn verfallenen Bruder seinem Schicksal überlässt; sich ihrerseits einfach abwendet und für immer fortgeht, wie die Erwachsenen es wiederholt vorgelebt haben.  ("Diesen Schienenstrang entlang kann man überall hin in die Welt gehen, hatte Vater gesagt. Vater wird wohl auf diesem Weg fortgegangen sein. Auch der Mann von Frau Yonsuk wird auf diesem Weg weggelaufen sein, nachdem er sie verlassen hatte.")

Ein sozialkritischer Roman mit herbem Nachgeschmack, zumal weder Desinteresse noch Vernachlässigung spezifisch koreanische Zustände sind. 

Oh Jung-Hee besuchte die Ewha Mädchenoberschule und die Sorabol-Kunsthochschule, an der sie kreatives Schreiben studierte. Nach dem Studium veröffentlichte sie 1968 ihre erste Erzählung. Die Autorin erhielt für ihre Arbeiten zahlreiche Preise und ihre Bücher wurden bereits in verschiedene Sprachen, darunter sehr erfolgreich ins Amerikanische und Französische, übersetzt. Zu den bekanntesten Werken von Oh Jung-Hee zählen "Fluss des Feuers" (1977), "Der Hof meiner Kindheit" (1981), "Die Seele des Windes" (1986) und "Jenseits des Berges" (1988).

 (kre; 12/2002)


OH Jung-Hee: "Vögel"
Aus dem Koreanischen von Edeltrud Kim und KIM Sun-Hi Nachwort von Edeltrud Kim.

Pendragon, 2002. 128 Seiten.
ISBN 3-934872-26-3.
ca. EUR 12,80.
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