(...) Ein Virus ist ein Stück Erbgut, das in eine Eiweißhülle verpackt ist. So die strikt biologische Definition. Der Virus-Begriff wird aber auch im außermedizinischen Bereich verwendet. Dr. Solomon's Viren-Labor, eine Info-Sammlung in Sachen Computerviren, definiert ein Virus als ein Programm, das sich selbst kopiert. Was haben die beiden gemeinsam, die Computerviren und die biologischen Viren? Beide sind Träger von Information, und beide arbeiten mit dem Ziel, sich selbst zu vermehren und dabei die Systeme, in denen sie wirken, zu ihrem eigenen Nutzen und auf deren Kosten zu verändern, gelegentlich sogar zu zerstören.
Computerviren manipulieren elektronische Betriebssysteme, biologische Viren ihre Wirtszellen oder Wirtsorganismen. Diese Feststellungen lassen sich verallgemeinern. Überall dort, wo Information existiert und gehandhabt wird, lauern Viren, und immer wirken sie dadurch, daß sie die befallenen Systeme mit deren eigenen Waffen schlagen.
Wie stellen sie das an? Wie werden Viren zu Überbringern meist schlechter Nachrichten? Um das zu verstehen, muß man wissen, welche Sprachen in Computern bzw. in lebenden Zellen gesprochen werden. Bleiben wir für dieses Mal bei den lebenden Zellen. Die Information im Erbgut oder Genom eines jeden Zellkerns ist in sogenannten Genen oder Erbfaktoren gespeichert. Gene sind winzige Abschnitte auf dem Genom, welche die Information für die Bildung von Eiweißbestandteilen enthalten. Diese wiederum stellen die Substanz dar, aus der alles Leben aufgebaut ist: Haare oder Fingernägel genauso wie die Linse im Auge oder die Hormone, die unseren Appetit steuern.
Praktisch alles in uns ist Eiweiß, vom vielen Wasser einmal abgesehen, und jedem der verschiedenen Eiweißbestandteile liegt ein Abschnitt innerhalb des Erbguts, eben ein Gen, zugrunde. Eiweißbestandteile werden auch als Proteine bezeichnet, vom griechischen »Proteos«, der Erste, der Wichtigste.
Die Gene selbst bestehen nicht aus Eiweiß, sondern aus DNA. Diese Abkürzung steht für Desoxyribonukleinsäure. Es handelt sich um eine chemische Substanz, die aus vier verschiedenen chemischen Bausteinen aufgebaut ist, die A, G, C und T genannt werden. A (= Adenin) und G (= Guanin) gehören derselben chemischen Klasse an, C (= Cytosin) und T (= Thymin) einer anderen. Diese Bausteine sind miteinander zu langen Ketten oder Fäden verknüpft, wobei man sich jeden der Bausteine als Buchstaben einer Schrift aus nur vier Buchstaben vorzustellen hat. Diese Tatsache mag vervvundern, sollte es aber nicht. Die Schreibschrift, mit der wir selbst im Deutschen miteinander kommunizieren, besteht aus variablen Abfolgen von 27 Buchstaben, dem bekannten Alphabet, die Schrift der Computer aus nur zwei Zeichen, den Zahlen 0 und 1. Warum also nicht auch eine Schrift aus vier Buchstaben oder Zeichen?
Die Reihenfolge der vier Buchstaben im ABC der Gene entspricht einer bestimmten, für jedes Eiweiß charakteristischen Abfolge von Eiweißbausteinen, von denen es insgesamt 21 gibt. Beim Übersetzungsprozeß vom Gen zum Eiweiß muß also eine Schrift aus vier Buchstaben in eine solche von 21 Buchstaben übertragen werden. Zu diesem Zweck werden die vier Buchstaben der Gene in Dreierkombinationen, auch Codons genannt, gelesen. Davon gibt es im Prinzip 64 (4x4x4), so daß die notwendigen 21 Dreierkombinationen leicht zu bilden sind und es sogar ein gewisses Übermaß gibt. Für bestimmte Eiweiß~bausteine kann die Natur daher verschiedene Dreierkombinationen verwenden, was sie gelegentlich auch tut. Die biochemische Maschinerie, die diese Dreierkombinationen liest, »weiß« das und ist entsprechend programmiert. In den vergangenen Jahrmilliarden der Geschichte des Lebens auf unserer Erde hatte sie ausreichend Gelegenheit, sich darauf einzustellen.
Der Code nämlich, in dem die genetische Schrift verschlüsselt vorliegt, ist universell. Er gilt für alle Gene in allen lebenden Organismen gleichermaßen. Eine bestimmte Abfolge von Bausteinen in den Genen führt immer zu ein und demselben Eiweißbestandteil, ob sie nun in einer Bakterienzelle, einer Fliegenzelle oder in einer menschlichen Zelle gelesen wird. Auch die Viren folgen dieser Regel. Nur deswegen ist es ihnen möglich, die zelluläre Maschinerie für ihre eigenen Zwecke zu nutzen und gewissermaßen zweckzuentfremden. Ihr Erbgut ist nämlich viel zu klein, als daß es auch noch die Information für die Kopier- und Lesemaschinerie ihrer eigenen Gene aufnehmen und mit sich tragen könnte. (...)


aus "Viren Viren: Die größten Feinde des Menschen" von Ernst-Ludwig Winnacker
Der Computervirus ist ein Programm, das sich selbst kopiert. Darin arbeitet er genauso wie der menschliche Virus, denn Viren haben das Ziel, sich selbst zu vermehren und dabei die Systeme, in denen sie wirken, zu ihrem eigenen Nutzen zu verändern oder schlimmstenfalls zu zerstören.
Viren sind die Überbringer schlechter Nachrichten im Körper. Viren bestimmen nicht nur die Geschicke der Menschheit mit, sie sind der größte Feind des Menschen. Viren sind auf dem Vormarsch. Doch warum wirken Viren nicht immer gleich - warum kann der Körper es ihnen leicht oder schwer machen? Warum bekommen manche Leute die Grippe und andere nicht? Warum kommen neue Grippeepidemien immer aus Südostasien? Wie ist das Aids-Virus in Afrika entstanden?
Ernst-Ludwig Winnacker ist, so die Wirtschaftswoche, »Deutschlands oberster Forscher«. In diesem Buch gibt er einen detaillierten Überblick über die heimlichen Herrscher. Dabei geht es ihm nicht um den Virus alleine, der im »luftleeren Raum« nicht wirken kann: Winnacker beschreibt die Auseinandersetzung zwischen Viren und Zellen, die Koexistenz zwischen beiden. Dabei gibt er erstaunliche Einblicke in die komplexen - und tückischen - Wirkungsmechanismen der Viren und zeigt, warum der Kampf gegen sie noch längst nicht gewonnen ist. Er zeigt aber auch, warum sich der Forscher vom Virus faszinieren läßt, sind doch grundlegende Phänomene des Lebens und Sterbens von Zellen oder Organismen erstmals über das Studium der Viren überhaupt entdeckt worden. (Eichborn)

Buch bei amazon.de bestellen