"Dogville"
R: Lars von Trier
D: Nicole Kidman, 
Paul Bettany, Stellan Skarsgaard, Ben Gazzara, James Caan
Dänemark 
2003.
"Dogville"
  Die Moral als Potemkinsches 
  Dorf
1930er-Jahre, Zeit der 
Wirtschaftsdepression, irgendwo in den Rocky Mountains von Colorado: Eine junge 
Frau (Nicole Kidman) ist auf der Flucht. Wovor oder vor wem bleibt zunächst 
unklar. Außer Atem und mit dem gehetzten Blick eines Rehs, dem eine Meute von 
Jägern nachstellt, gelangt sie in das Örtchen Dogville. Nomen est omen, der 
Flecken gleicht punkto Erscheinungsbild und Komfort eher einer zu groß geratenen 
Hundehütte als einer Ansiedlung.
Die wenigen EinwohnerInnen sehen das 
anders. Für sie stellt Dogville den Nabel der Welt, ihrer heilen Welt, dar. Als 
gute Christenmenschen nehmen sie die verloren wirkende Frau in ihrer Mitte auf, 
überschütten sie geradezu mit Nächstenliebe. Die flüchtige Grace (erneut ist der 
Nomen ein Omen) dankt es den Dörflern auf ihre Art. Mit Fleiß putzt sie in 
Haushalten, betreut einen Blinden, hilft bei der Kinderbetreuung aus oder macht 
sich in den Obstgärten nützlich. Kurzum, sie ist everybody’s darling. Die Idylle 
ist kaum zu toppen. Zu allem heilen Überdruss beginnen sich zwischen Grace und 
dem besonders verständnisvoll waltenden Tom (Paul Bettany) zarte Bande 
anzubahnen. Dem Kinogänger wird mulmig, was ist los mit Lars von Trier? Worauf 
wartet der gute Regisseur? All diese in Hüten und karierten Hemden 
herumlaufenden Rednecks müssen doch hinter ihrer getünchten Fassade ein 
Geheimnis haben. Sie haben!
Als der Sheriff mit einem Steckbrief, den 
Graces Kopf ziert, in Dogville auftaucht, beginnt der Verputz der Moral 
abzubröckeln. Plötzlich ist den braven BürgerInnen nicht mehr so ganz wohl in 
ihrer Haut. Die fremde Frau stellt ein Risiko dar, eine Gefährdung der Gemeinde. 
Ergo muss sie ihren Einsatz erhöhen und noch mehr und noch schwerer arbeiten. 
Grace macht freiwillig mit, gibt einsichtsvoll ihr Bestes. Doch je mehr sie sich 
abrackert, desto geringer ist der Dank. Eines Tages wird sie vom Farmer Chuck 
(Stellan Skarsgaard) vergewaltigt. Doch auch diese Demütigung nimmt sie ohne 
Gefühle von Wut oder Rache hin. Chucks sexuelle Übergriffe wiederholen sich, 
werden fast zur Routine. Als seine Frau davon Wind bekommt, beschuldigt sie 
Grace der Verführung ihres Mannes. Die allgemeine Stimmung schlägt völlig gegen 
die "Fremde" um, Dogville fletscht die Zähne. Die Frauen eifern mit Grace, die 
Männer geifern nach ihr als Freiwild körperlicher Begierden. So kommt es zur 
Eskalation: Um die junge Frau an der Flucht zu hindern, wird sie gekettet. 
Tagsüber muss sie als Arbeits- und nachts als Sexsklavin herhalten. Die Fassade 
der Dörfler ist endgültig ab, übrig bleibt eine Ruine an Frömmelei, 
Menschenverachtung und Feigheit. Auch Tom - bzw. besonders ihm - fehlt es an Mut 
und Mitleid. 
Von Trier kostet diese Momente der Entlarvung vielleicht 
eine Spur zulange aus, der Film zeigt mitunter Längen. Graces Überdosis an 
Selbstverleugnung ist psychisch schwer verdaulich. Fast möchte man Richtung 
Leinwand ein "Wehr dich endlich!" schreien. Dieser stumme Schrei wird gehört, 
nämlich dann, als dunkle Karossen mit noch dunkleren Gestalten in Dogville 
aufkreuzen. Als Geißel Gottes übernehmen Mafiosi im bigotten Hinterwäldlerkaff 
das Kommando. Nicht genug der Heimsuchung, der Capo der Gangster (James Caan) 
erweist sich auch noch als Vater der missbrauchten Grace. Vor ihm war sie 
geflohen, vor seiner Kälte, um von dieser nicht innerlich aufgefressen zu 
werden. Nun streckt er die Hand zur Versöhnung aus, bietet der verloren 
Geglaubten die Möglichkeit zur Rache, verleiht ihr Macht über Dogville. Die 
letzten Minuten des Films sind alsdann auch die spannendsten.
"Dogville" 
ist kein Film im herkömmlichen Sinn, weit eher eine auf Leinwand projizierte 
Theatervorstellung. Alles ist statisch, nicht mal ein Windhauch zu spüren. Die 
Häuser sind surreal, nur Umrisse, aus Kreide gezeichnet; ihre imaginären Türen 
werden pantomimisch geöffnet. Nicht mal ein Horizont existiert. Außerhalb des 
Bühnenbretts ist das Nichts. Offenbar beabsichtigte der Regisseur durch 
Minimalismus maximale Wirkung zu erzielen, alle Aufmerksamkeit auf die 
Charaktere zu lenken.
Lars von Trier, bekannt durch die absurde dänische 
Mini-Serie "Geister" bzw. durch aufwühlende Filme wie "Breaking The Waves" oder 
"Dancer In The Dark", hat "Dogville" als Trilogie konzipiert, Graces innere 
Reise zu sich selbst steht demnach erst am Anfang, allerdings ohne weitere 
Verkörperung durch Nicole Kidman, die in Teil II und III fehlen wird. Schade, 
denn ihre ätherische Blässe und Zerbrechlichkeit verleihen Grace jene Aura des 
Engelhaften, die diese Rolle benötigt. Gut gecastet auch die Nebenrollen: Udo 
Kier als nervöser Mafioso oder Ben Gazzara als lüsterner Blinder. Wer seelische 
Abgründe á la Shakespeare liebt und über ein Sitzfleisch epischer Breite 
verfügt, dem sei "Dogville" unbedingt zu empfehlen. 
(lostlobo; 02/2004)