Jurga Ivanauskaite: "Eine Reise nach Shambala".
Textauszug

Shambala


"Wenn ihr mich fragt, was von den unterschiedlichsten Eindrücken, denen ich ausgesetzt war, mich am meisten inspirierte, ich würde, ohne einen Augenblick zu zögern, antworten: Shambala." So Nicolaus Rerich in seinem Tagebuch einer Reise durch den Himalaja. Fragte man mich das gleiche, ich könnte es nur bestätigen. Shambala. Ich erinnere mich nicht mehr, wann ich dieses Wort zum ersten Mal gehört habe, sicher in den Teenagerjahren, wohl aber an die unaussprechliche, unstillbare Sehnsucht, die es in mir hervorrief. Shambala. Diese gleichsam kosmische Sehnsucht stellte sich immer dann ein, wenn ich dem Wort begegnete, das man am besten im Flüsterton ausspricht
SCH (warnend den Zeigefinger vor den geheimnisvoll lächelnden Lippen) AMBALA. Als wäre es ein Siegel, das die allergrößten Geheimnisse birgt. SHAMBALA.

Ich weiß nicht, ob SHAMBALA einen Ort sagenhafter Seligkeit hier auf dieser Erde meint, oder in irgendeiner Parallelwelt, oder auf einem anderen Stern, oder in einer anderen Galaktik. Oder in uns selbst. Vielleicht ist es auch nur ein weiterer Begriff, der die Große Leere charakterisiert, die unser morbider, ins Chaos der Formen versunkene Verstand nicht zu fassen vermag. Vielleicht handelt es sich auch gar nicht um einen Begriff, der etwas bedeudet, nicht um ein Wort, nicht mal um einen Laut, eher um einen Ausdruck der Stille, in der, unseren Ohren unzugänglich, die Ewigkeit widerhallt, die über dem Himalaja ertönt, einladend und lockend : nach Shambala, nach S h a m b a l a, nach SHAMBALA …

Mal gibt es sich in den Farben des Regenbogens zu erkennen, dann wieder als traurige Frage eines in zahllosen Reisen durch den Osten gestählten Pilgers, einer Frau mit geblümtem Seidenschirm, einem kahlköpfigen Mönch im senffarbenen Gewand, einer Irren, triumphalisch lächelnd mit zahnlosem Mund, einem bärtigen Alten, von einer Hundemeute begleitet, einem Flötenspieler … Shambala.

Seit einiger Zeit sammle ich skrupulös alles, was über Shambala herauszubekommen ist, und während ich diese recht spärlichen Nachrichten zusammentrage, wird seine Gestalt noch weniger greifbar, noch nebelhafter. Ich weiß, dass Shambala und dessen Hauptstadt Kalapa erstmals in den Purana und Mahabharata, den Heiligen Schriften Altindiens, erwähnt wurden. Zwei Jesuitenmissionare, Joac Cabrol und Estevar Cacella, trugen die Legende von dem im Himalaja verborgenen Erdenparadies in den Westen. Schwer zu sagen, ob irgendeine portugiesische oder spanische Expedition ausgesandt wurde, Shambala zu suchen, doch etwa 200 Jahre später, 1820, verlegte ein in Tibet erschienener Atlas die Insel der Glückseligen … nach Europa. Der Autor der tibetischen "Weltgeographie" behauptet, dass Kolumbus, Entdecker Amerikas, in Genua geboren wurde, im Königreich Shambala. In Kommentaren war hinzugefügt, Shambala werde mitunter auch Kastillien genannt, und dessen Hauptstadt Kalapa - das sei Madrid.

Einer Reise nach Shambala sind viele geheime tibetische Bücher gewidmet, und in beinahe allen von ihnen wird behauptet, dieses Reich sei nördlich des Diamantenthrons zu suchen, das heißt in uBodhgaja, dem Ort, wo Buddha Shakjamun zur Erleuchtung gelangte. Einige der Autoren geben sogar ungefähr die Anzahl der Meilen an, die zurückzulegen sind bis zu Shambalas Hauptstadt Kalapa. Diese Angaben nutzte Agran Dorschijew, Lehrer des XIII. Dalai Lama, den viele in Lhasa für einen russischen Spion hielten. Dorschijew wies immer wieder darauf hin, dass 3000 Meilen nordwestlich von Bodhgaja Moskau oder Sankt Petersburg liege, und die wahren Kalki, die Herrscher Shambalas, seien somit somit niemand anders als die Romanowdynastie. In China war man zu Beginn des Jahrhunderts vom Gegenteil überzeugt. Angeblich waren es Russen und Engländer, "mlecha" - Barbaren, Gottlose, Diener des Bösen - gegen die seit unvordenklichen Zeiten Shambalas Krieger kämpften.

Lew Gumilow vermutete, dass Shambala identisch sei mit dem von der Seleukidendynastie beherrschten Syrien, Alexander Csoma de Koros riet, es entlang dem Fluss Syrdarja, und Rerich vermutete das Wunderland irgendwo im Himalaja.

Im westlichen Bewusstsein verbindet sich Shambala oft mit Tibet, zumindest meint man, die Tibeter unterhielten geheime, aber sehr enge Beziehungen zu demselben. Und Tibets Bewohner bestätigen auch, ihren Kalender und ihr astrologisches System aus Shambala übernommen zu haben, ebenso medizinische Kenntnisse, einige Arten religiöser Musik und Malerei, gewisse Feinheiten der Architektur. Shambala ist den Tibetern keineswegs nur ein Fantom, gewebt aus üppiger Fantasie und der Sehnsucht nach Wahrheit und Gerechtigkeit, so wie einst Utopia oder Campanellas "Sonnenstaat" bei den Europäern. Das ist keinesfalls das Paradies, nicht das Gelobte Land, obwohl auch heute die Menschen beten, Shambala möge wiedergeboren werden. Wir finden Shambala auf keiner Weltkarte, welche bereits keine "weißen Flecken" mehr kennt. Bleibt zu glauben, dass man es erwandern kann, ausgerüstet mit einem Kompass und einem vertrauenswürdigen Führer, der den Himalaja besser kennt als seine fünf Finger … Und dennoch ist Shambala kein Hirngespinst, sondern Wirklichkeit. Weil nämlich sämtliche tibetischen Lamas einstimmig behaupten, dass das, was wir "Realität" nennen, in Wahrheit die größte aller Illusionen sei.

Im Mittelalter bewies Anselm von Kenterbury die Existenz Gottes, indem er nachzuweisen suchte, dass ohne dessen Existenz auch der Begriff eines Höchsten Wesens gar nicht möglich sei. Und wie sollte ein Land nicht existieren, wenn es einen Namen hat, wenn selbst gelehrte Abhandlungen den Weg dorthin schildern! In ihnen finden sich nicht weniger Details als in sämtlichen dem heutigen Indien oder Nepal gewidmeten Reiseführern. Und in all diesen Büchern ist ausgemacht, dass Shambala hier ist, jetzt ist, auf dieser Erde. Wem der Schleier der Illusionen von den Augen genommen wird, der wird Shambala erblicken.

Den ersten Reiseführer nach Shambala schrieb im 13. Jahrhundert der Mönch und Wanderer Manlungpa. Als Ausgangspunkt wählte er nicht Bodhgaja, sondern sein Zuhause, indem er darauf hinwies, dass man von dort Richtung Ladakh marschieren sollte, dann das Land Hor durchqueren, dann Richtung Königreich Sogpo (Mongolei), und nach ungefähr zwei Jahren werde, ohne allzu große Mühen und Beschwerden, Shambala erreicht sein. Spätere Autoren negierten freilich Manlungpas Schlichtheit, indem sie den Weg nach Shambala von einer äußeren in eine innere Pilgerreise verwandelten.

Das berühmteste Werk dieser Art, genannt "Reise nach Shambala" (tibetisch "Shamhalai Lamiyg"), verfasste 1775 Tibets III. Panshen Lama Lobsang Palden Jeshe. 1737 geboren, wurde er bereits mit vier Jahren als Tulku anerkannt, das heißt als Wiedergeburt des vorausgegangenen Panshen Lama und Verkörperung des Buddha Amitabha. Der Junge, untergebracht in der ständigen Residenz des Panshen Lama, im Kloster Tashi Lunpo, setzte seine Umgebung durch seine ungewöhnlichen Begabungen in Erstaunen. Dazu gehörte seine frühe Hinneigung zu Mystizismus und komplizierten geistigen Praktiken, sein Interesse für Geschichte und Dichtkunst. Alle sprachen von ihm als von einer ungewöhnlichen, charismatischen Persönlichkeit, und der erste Bürger Großbritanniens, der sich in Tibet aufhielt, George Bogle, zeichnete in seinen Tagebüchern ein besonders anziehendes, von Sympathie getragenes Bild dieses Menschen. Lobsang Palden Jeshe starb 1780 auf einer seiner Missionarsreisen nach Peking an den Pocken, übrigens in Begleitung von 500 Mönchen, 100 Kriegern, weiteren 100 Bediensteten, 800 Hofleuten und einigen indischen Atsharis, Doktoren der Metaphysik.

Der vollständige Titel des Traktats des III. Panshen Lama klingt so "Geschichte von Arjadesh und der Weg nach Shambala, dem Weg der Heiligen". Arjadesh - das ist Indien, welches Lobsang Palden Jeshe mit dem Talent eines echten Historikers beschreibt. Hingegen ist der "Weg nach Shambala" eine Schöpfung ganz anderen Charakters. Sie ist als Sadhana gedacht. Das sind buddhistische, häufig tantrische Instruktionen zur Meditation, in denen sehr detailliert dargelegt wird, wie man sowohl mit seinem physischen wie auch subtilen Körper umzugehen habe, welches Mantra zu verwenden und wie oft es zu wiederholen sei, welche Gottheit man sich zu imaginieren habe, und wie man selbst ein Geschöpf höherer Sphären werden könne. Im Sanskrit bedeudet "sadha" Erledigung, Vollendung. Tibetisch heißt sadhana "sgrub tab" - Mittel zum Weg in die Vollkommenheit, die Erleuchtung, den Buddhismus. Wer zur Reise nach Shambala entschlossen ist, wird in diesem Text Sadhak genannt. Ihn zu charakterisieren, so scheint mir, empfiehlt sich ein Terminus, den der Tibetologe Robert A.F. Thurman in Umlauf brachte, der des "Psychonauten". Dieser Autor betonte, dass die tibetische Kultur seit jeher auf die Erforschung der spirituellen Dimension, der Seelen- und Verstandestiefen des Menschen orientiert war, der Westen hingegen vorrangig auf die Materie und die äußere Welt, beginnend mit den Kreuzzügen zur Versklavung anderer Völker und Staaten, endend mit der Eroberung der Natur und Flügen in den Kosmos. So könnte Thurmann zufolge der Astronaut zum krönenden Symbol abendländischer Zivilisation werden, der tibetischen jedoch der Psychonaut, eine Person, die aufbricht zu einer Reise an die Ränder und Peripherien des eigenen inneren Universums.

Psychonauten, entschlossen zu Großtaten der Seelenbezwingung, verdienten und verdienen in der tibetischen Gesellschaft den größten Respekt. Hier möchte ich eine Bemerkung M. Eliades ins Spiel bringen, der meinte, dass in den östlichen Kulturen und philosophischen Systemen nicht die Bestätigung einer höchsten Wahrheit am wichtigsten sei, sondern deren soteriologische Funktion. Nur wenn er die Wahrheit erkennt, wird der Mensch frei sein. Der philosophischen Spekulation und den hermetischen metaphysischen Theorien steht freilich die "lebende Materie" gegenüber - das reale Individuum und das, was sein Leben ausmacht. Letzteres muss, in einer Art geistig-alchemistischen Metarmorphose, gereinigt, vertieft, umgeformt, befreit werden. So haben die buddhistischen religiösen Texte stets nicht nur eine ontologische, sondern auch eine praktische Seite. Hartnäckig raten sie, sich der Fesseln von Raum und Zeit zu entledigen, das Diktat der Realität und deren Bedingungsgefüge niederzureißen, um auf diese Weise Freiheit und höchste Seligkeit zu erkämpfen, mehr noch: Unsterblichkeit. Von dieser Art ist auch das Buch des dritten Panshen Lama. Im Einleitungskapitel zur "Reise nach Shambala" wird betont, dass der Sadhak sich nicht von Neugier, Stolz, Abenteurertum und anderen selbstsüchtigen Motiven leiten lassen darf. Er sollte darüber hinaus von dem Wunsch beseelt sein, allen lebendigen und leidenden Geschöpfen zu dienen. Die tibetischen Legenden bezeugen, dass gegen Ende der Kalijuga, jener Ära des Niedergangs und der Verdammnis, in der wir leben, Shambala der einzige Ort auf Erden sei, der spirituelles Wissen sichert, geeignet, die Menschheit zu retten.

Die das Weltende kündenden Zeichen, einst von den Gottheiten des Goldenen Zeitalters prophezeit, beschreibt Lobsang Palden Jeshe so: "Zukünftig wird das Denken der Erdbewohner immer wirrer und kranker, Buddhas, Sohn der Königin Majas, Doktrin verfälscht und verunreinigt. Immer mehr sind es, die in verschiedenen Sprachen falsche Auswege predigen. Es werden keine Siddhi, keine wirklichen spirituellen und transzendenten Errungenschaften mehr verzeichnet. Die geistigen Kräfte fehlen, die Menschen spüren es, deshalb liegen sie ständig im Kampf miteinander. Vollkommenheit wird ihnen unerreichbar sein. Leid und Elend werden sie verbreiten, und selbst erleiden. Auch die Geister werden sich zurückziehen von den Menschen, ganz zu schweigen von den Göttern!"

In solchen düsteren Zeiten sind einzelne Entschlossene geradezu verpflichtet, Shambala aufzusuchen, dort Weisheit zu schöpfen und diese anderen zukommen zu lassen. Sie müssen die Kunst der Kontemplation und Medidation beherrschen. Die, welche zur Reise rüsten, sollten unbedingt auf eine Erlaubnis warten, die meistens im Traum erteilt wird. Ohne diese Erlaubnis werden sie vielen Gefahren ausgesetzt sein. Dämonen und böse Geister werden die Unglücklichen verfolgen, so dass sie ihr Ziel verfehlen.

Man bricht auf in Richtung Norden, eine Himmelsrichtung, die sowohl in der hinduistischen Mythologie als auch im Buddhismus für heilig gehalten und mit dem mystischen kosmischen Mandala-Zentrum in Verbindung gebracht wird. Als Ausgangspunkt eignet sich Bodhgaja, nachdem man eine Insel aufgesucht hat, die sich westlich des Kontinents befindet. Dort empfiehlt es sich, zu meditieren, diverse geheime Rituale zu vollziehen und dem Feuer seine Gaben darzubringen.

Die weiteren Erzählungen des III. Panshen Lama können als Spiel einer ungezügelten Fantasie erscheinen. Doch in Wirklichkeit sind all diese Hindernisse, all diese Ungeheuer und feindlichen Mächte, die dem Psychonauten auf seinem Weg begegnen, mächtige Kräfte, die in den Tiefen unseres Unterbewusstseins schlummern, unsichtbare, oft unbegriffene Energien. Sind wir nicht ganz und gar vertraut mit beiden Welten, werden wir Shambala, das sich jenseits unseres alltäglichen, konventionellen, pragmatischen Gesichtskreises erstreckt, nie erreichen. Also, wie die Tibetischen Lehrmeister, die ihre Schülern Großtaten des Geistes lehren, zu sagen pflegen: VORWÄRTS - IN DEN RACHEN DES TIGERS.

Lobsang Palden Jeshe beschreibt detailliert fantastische Landschaften, Berge, Wälder, Gärten, Flüsse, Wüsten und Städte. Hingebungsvoll schildert er exotische, nie zuvor erblickte Gewächse, dazu Fische, Tiere und Vögel, himmliche Wesen und Ausgeburten der Hölle. Bevor die Reise richtig beginnt, überschreitet der Sadhak den Berg Koker, auf dem "das Tujanakraut wächst, das sehr süß ist, die Titlakha dagegen aüßerst bitter. Aus letzterer tropft eine weiße, milchige Flüssigkeit. Die Blüten der Tujana sind rot wie die untergehende Sonne, ihre Blätter messerscharf, sie hat eine feste Wurzel, wächst auf Felsen, mit dem Blick nach Süden. Die Titlakha dagegen hängt wie eine Dolde über tiefen Abgründen, ihre Blüte ist wie das Euter eines weißen Büffels ..." Der Reisende wird angewiesen, die Wurzeln dieser Pflanzen auszugraben und verschiedene magische Rituale zu vollziehen, um die von dämonischen Kräften beschworenen Hindernisse zu überwinden. Ein andermal wird ihm befohlen, 800 mal dem Feuer zu opfern, indem zartblaue Jasminblüten den Flammen zu übergeben sind, und sich dann, gekrönt mit einem Kranz aus Lotosblumen, tanzend die magischen Fähigkeiten der Göttin Ekadshate herbeizurufen.

Keineswegs ziemt es dem Sadhak, sich immer und überall so romantisch zu geben. In den Gandharabergen, wo räuberische, geflügelte Löwen ihr Unwesen treiben, muss der Pilger die von ihnen getöteten Tiere zusammentragen, um aus deren Fleisch eine Opfergabe zu bereiten. Nicht nur einmal auf diesem Wege wird befohlen, etwas zu zeichnen, was sehr an moderne psychoanalytische Methoden erinnert, wenn der Reisende in den Tiefen seines Unterbewusstseins mit Ungeheuern kämpft, indem er deren schreckliche Erscheinungen benennt und visualisiert.

Am Fluss Satralana rät man dem Pilger, innezuhalten und Kräfte zu sammeln, sind doch die reißenden Fluten schwer zu überwinden. Am Flussufer gedeiht wilder Reis, der Sadhak sollte sich daraus einen Brei kochen und sich ernähren, auch den Honig nicht verschmähen, der sich in den Baumhöhlen angesammelt hat. Nachdem er diesen Speisen ein Mantra widmete, das sich "Die Kostbarkeiten des Raumes" nennt, ist der Reisende verpflichtet, sämtliche in diesem Gewässer sich tummelnden Fische zu bewirten. Manche haben Gesichter, die Menschen ähneln, andere Affen, Tigern, Löwen, Leoparden, Kühen, Raben, Papageien usw. Der Fischkönig bringt den Sadhak ans andere Ufer.

Danach passiert er schneebedeckte Berge, denen zahlreiche Flüsse entspringen, die wiederum in 80000 Seen und den Fluss Sita münden (Csoma de Körösi zufolge ist das der Syrdarja). Im Osten wie im Westen sind einige der Seen giftig, oder das Wasser ist so kalt, dass "weder Fische noch Krokodile noch Vögel sich dort aufhalten, nur Geschöpfe der Hölle". Der Fluss friert nie zu, doch wenn der Körperteil eines Menschen mit ihm in Berührung kommt, verwandelt sich dieser sofort in Stein. An den Ufern ragen kupferfarbene Berge auf, von tausend Höhlen durchzogen, in denen Dämonen hausen, mit kupferfarbenen Lippen und Pferdeköpfen, dazu Asuren, Töchter von Nagen, deren Zauber und deren Gesang der Sadhak auf keinen Fall erliegen darf.

Das Bergmassiv selbst mit seinen fünf Gipfeln hält ebenfalls Versuchungen bereit. Die dort beheimateten Geschöpfe - Hinaren - sind "immer fröhlich und imstande, spielerisch die herrlichsten Objekte der Begierde zu verkörpern. Um den Sadhak zu versuchen, werden sie lockende Lieder und wunderbare Musik ertönen lassen. Wollen sie ihn hingegen erschrecken, werden sie grässliche Laute von sich geben und sich auch in abschreckende Gestalten verwandeln". Der Shambalapilger darf darüber weder in Entzücken geraten noch irgendwelchen Verlockungen erliegen, schon gar nicht erschrecken oder verzweifeln, oder sich düsteren Stimmungen hingeben. Ständig soll er sich die wichtigste buddhistische Maxime vor Augen halten - die Leere kann der Leere nichts anhaben, und so, unablässig die Große Leere meditierend, weiterziehen.

Wenn der Psychonaut seinen inneren Kräften vertraut, sich weder trügerischen Hoffnungen hingibt noch von Furcht beherrscht wird, wenn er den illusionären Dualismus zwischen dem Ich und dem Anderen überwindet, dann helfen Dakinen ihm weiter, mystische Frauengestalten von höchster Weisheit, die ursprüngliche Leere des Universums und dessen ewige Verwandlung in die unendliche Formenvielfalt der Welt verkörpernd.

Dem Pilger wird nahegelegt, sich nicht nur für äußere Formen zu interessieren, sondern auch Träumen Aufmerksamkeit zu schenken. Erblickt er da zum Beispiel schwarzes Blut, das ihm aus Armen und Beinen rinnt, ist das ein gutes Omen, es signalisiert echte spirituelle Reinigung. Und unbedingt müsse man sich öfter eine Ruhepause gönnen, sich von Wurzeln und Heilkräutern ernähren, sich auf jede Art schonen. Denn der Sadhak soll Shambala nicht müde und ausgezehrt erreichen, sondern im Vollbesitz seiner physischen und geistigen Kräfte, voll mystischer Macht. Ganz so. "als habe er einen neuen Körper, stark und sehr leicht".

Nähert er sich nun Shambala, wird den Entschlossenen kein Hindernis mehr schrecken. Böse Geister und Dämonen zähmt er augenblicklich, und zwar einzig mit seiner grenzenlosen, allumfassenden Geisteskraft. Während er diese Macht in sich spürt, erblickt der Reisende abermals hohe, schneebedeckte Berge, die an gewaltige weiße Lotosblüten erinnern. Das werden die Grenzen des Königreichs Shambala sein.

Lobsang Palden Jeshe zufolge leben in den Städten, die sich am Fuß dieser Berge erstrecken, Menschen, die beide Geschlechter in sich vereinigen: In ihren Körpern sind die männlichen Organe auf der rechten, die weiblichen auf der linken Seite. Über ähnliche Wesen berichtete auch Manlungpa, der erste, der nach Shambala unterwegs war. Er präzisiert das so: "Die dort Lebenden sind Mann und Frau in einem Körper. Das männliche Geschlechtsorgan befindet sich auf dem rechten Schenkel, das weibliche auf der Innenseite des linken. Man sagt, dass alle drei Monate aus dem linken Schenkel ein Kind geboren wird …". Das androgyne Wesen symbolisiert in fast allen esoterischen Theorien die Rückkehr der gespaltenen, von Gegensätzen gemarterten und zerrissenen Existenz in ein Ursprünglich-Vollkommenes, eine Welt, welche ganz ist und einheitlich. M. E. Eliade schreibt, dass "diese Nostalgie nach einstiger Vollkommenheit und Seligkeit sämtliche Lehren und Techniken antreibt, die das coinzidentia oppositorum in einer Person anstreben". Der Sadhak setzt seine Reise fort. Nachdem er die lotosförmigen Berge überschritten hat, gelangt er in ein wundersames Tal, das sich "Ewig glücklich" nennt. Und schon erscheint auch, leuchtend und funkelnd, Shambalas Hauptstadt Kalapa am Horizont. Bevor er die Stadt betreten darf, muss sich der Reisende den letzten rituellen Reinigungsprozessen unterziehen, Weihrauch, Blumen opfern, Mantras sprechen und meditieren. Je nach geistiger Verfassung kann das ein oder sieben Tage dauern, zwei Wochen oder selbst einen Monat. Erst wenn er völlige innere Reinheit spürt, betritt der Sadhak die Stadt der Freiheit und Glückseligkeit.

Nachdem der III. Panshen Lama die schwere und langwierige Reise erschöpfend beschrieben hat, sind Shambala selbst und dessen Hauptstadt Kalapa nur einige wenige Abschnitte gewidmet. Shambala, so heißt es, habe die Form eines Mandalas, ein Ring aus Bergen umgibt es, eine Mauer mit acht Türmen zur Verteidigung, es bestehe aus 28 Städten, Kalapa, wo alle Gebäude aus Edelsteinen sind, in der Mitte. Überall in der Umgebung grünt und blüht es, Vögel zwitschern, Lebewesen von nie gesehener Schönheit bevölkern es. Die Bewohner sind mit den höchsten Mächten im Bunde und sprechen Sanskrit, die Sprache der Götter.

E. M. Bernbaum, der über Shambala eine gründliche Studie verfasste, weist darauf hin, dass die hier vom III. Panshen Lama geschilderte Pilgerreise an den Erleuchtungsprozess Buddhas erinnert, Marga genannt, was so viel bedeutet wie Weg oder Reise. Das Motiv der Pilgerschaft, im physischen wie im metaphysischen Sinn, findet sich in allen Weltreligionen. Deren Verkünder - Buddha, Christus, Mohammed - sie alle waren unermüdlich Umherziehende, die nie einen festen Wohnsitz hatten. Und zu allen Zeiten, in allen Ländern der Welt gab es Menschen, die, von Sehnsucht getrieben und nach Wahrheit dürstend, in Hoffnung oder Verzweiflung, aus Liebe zu Gott, oder nachdem sie ihn verloren hatten, allein, paarweise oder in ganzen Scharen sich auf den Weg machten. Bereits in grauer Vorzeit waren Frauen und Männer, bevor sie Wissende, Schamanen, Geistkrieger wurden, verpflichtet, geheimnisvolle Reisen zu unternehmen. Davon zeugen Märchen und Lieder, die sich in den Weiten Sibiriens erhielten, unter australischen Ureinwohnern, Inuit (Eskimos), nordamerikanischen Indianern oder Mexikos Magiern. Pilgerreisen waren populär im alten Ägypten, im heidnischen Griechenland oder im römischen Imperium, sie wurden zum unverzichtbaren Bestandteil spiritueller Praxis in den Ländern des Ostens. Man denke an die jedem Muselmanen vorgeschriebene Reise nach Mekka, oder die sich im heutigen Indien lebenslang auf Wanderschaft befindlichen Saddhu, die den Spuren Mahavyras folgenden Dschainen, oder die tibetischen, koreanischen, chinesischen Buddhisten, welche die Orte aufsuchen, die an Buddha Shakjamun erinnern.

Auch das Christentum hat sich eingeschrieben ins große Geschichtsbuch der Pilgerschaft, und mit nicht wenigen Seiten. Zum Höhepunkt wurde das 11. Jahrhundert, als Tausende und Abertausende Heim und Herd verließen, um ins Heilige Land zu gelangen und die Orte, welche einst die Füße des Erlösers berührt hatten. Kranke gesundeten, Feiglinge wandelten sich zu tapferen Rittern, und Sünder zu Heiligen. Und diese Reisen waren kein Zuckerlecken, überall lauerten Gefahren, äußere wie innere. "Dem Fahrenden atmet der Teufel im Nacken, und vor Augen grinst der Tod." Doch die Strapazen des Weges brachten auch stets neuen Lebenssinn und eröffneten neue Lebensperspektiven, eine bis dahin nicht erfahrene, anders vielleicht auch nicht erfahrbare, grenzenlose Freiheit.

Pilger reisten (reisen und werden reisen) auf den Spuren diverser Götter, Propheten und Heiliger, sie suchten und suchen den Gral oder das leuchtende Shambala, aber in Wirklichkeit, so bleibt hinzuzufügen, handelte es sich immer um eine Reise an die Ränder des eigenen Ichs. Der Psychoanalytiker Shelden B. Kopp schrieb in seinem Buch "Triffst du Buddha auf deinem Weg, dann töte ihn", dass jede Art von Pilgerschaft, die innere wie die äußere, Gefahren birgt. Für alles, was wertvoll ist, muss man zahlen, und die Entwicklung der Persönlichkeit, ist eines der wertvollsten Dinge auf dieser Welt, dessentwegen man seine Unschuld und Ahnungslosigkeit opfert, sein Sicherheitsgefühl, seine anscheinend unanfechtbaren Überzeugungen, Hoffnungen und Illusionen.

In allen tibetischen Texten wird behauptet, dass Shambala die Form eines achtblättrigen Lotos hat, so ist es in den sakralen Darstellungen und Mandalas wiedergegeben. Und die mystischen Traktate des Tantrismus verweisen darauf, dass das in Herzgegend lokalisierbare energetische Zentrum des Menschen, Tshakra genannt, ebenfalls die Form eines achtblättrigen Lotos besitzt. Gerade hier, im Herzen, ist jenes Licht, das wir sterbend erblicken. "Bedarf es noch eines genaueren Hinweises, wo Shambala zu suchen ist ?" fragt Samdhong Rinpoche, und fügt hinzu, dass dem, der dieses mystische Land in sich entdeckt, das andere Shambala, das äußere, ebenfalls Realität wird. Als ein Ort der Glückseligkeit auf dieser Erde, hier und jetzt.

 

 

ERSTER TEIL

 

LAMA

 

"…und dann muss man einundzwanzig Tage in nördlicher Richtung wandern. Auf diesem Weg wird es kein Grün geben, kein Gras, nicht einmal vertrocknete Baumstümpfe. Auch kein Wasser. Erst danach wird der Reisende einen dichten Wald durchqueren. Es folgt die Wüste der Einsamkeit, in der Schlangen, Tiger und ähnliches Getier leben. Für sie braucht man zwölf Tage. Dann wird am Horizont Gandhara auftauchen, ein Berg, und zugleich Gebieter aller Berge. Er ist bewachsen mit verschiedenen Heilkräutern, und geflügelte Löwen leben dort, die jeden Tag auf Beute gehen. Ebenso gibt es riesige Tieren, die Antilopen ähneln, und die sich "wandelnde Körper" nennen. Sie können ihr Aussehen verändern, wie und wann es ihnen gefällt…"

Lobsang Pallden Jeshe: "Der Weg nach Shambala"

 

NAMASTE, DELHI

 

Man sagt, es gäbe zwei Arten von Pilgern: Die, denen das Ziel am wichtigsten ist, und die anderen, bei denen die Reise selbst im Mittelpunkt steht. Ich zähle mich zu den letzteren. Den Kopf gegen das Bullaugenfenster gelehnt, kann ich darüber denken, wie ich will. Endlich setzt die Aeroflot-Maschine, nachdem sie zwölf Studen lang ihre Passagiere in Angst und Schrecken versetzte, zur Landung auf Indiens heiligem Boden an. Abgesehen von einigen lärmend in die Heimat zurückkehrenden Indern bin ich die einzige, die hier Station macht. Ein paar nicht ganz nüchterne russische Geschäftsleute, die noch immer ihre im Duty-Free-Shop von Sharso erbeuteten Kostbarkeiten sortieren, fliegen weiter, Richtung Bangkok. Nach Shambala, so scheint es, ist niemand unterwegs.

Das Flughafengebäude von Delhi empfängt uns mit irgendeinem die Nasenschleimhäute reizenden Desinfektionsmittel. "Sicher mal wieder eine kleine Pest", scherzt ein neben mir stehender Mann unklaren Alters und unklarer Nationalität. Aber er spricht englisch. "Namaste", begrüßen uns die ersten Bediensteten, die beim Lächeln das prächtige Weiß ihrer Zähne zeigen. "Namaste! Namaste! Namaste! …"

Die Warteschlange vor der Passkontrolle bewegt sich unsäglich langsam. Ein junger Mann in Militäruniform blickt mit melancholischen Stieraugen in mein Dokument, dann in seinen Computer, als würde er dort der Ewigkeit begegnen. Oder der großen Leere. Endlich sind alle bürokratischen Hürden überwunden, ich trete hinaus in die noch immer hitzeflimmernde Stadt. Diesmal erfahre ich nicht, was mich bei der ersten Ankunft in Atem hielt: Das Gefühl, in ein unübersehbares Zigeunerlager geraten zu sein. Der Eingang zum Flughafen erscheint wie leergefegt, alles ist still und ruhig, weder Rikshas noch Bettler noch Straßenhändler sind zu sehen. Die Zeitungen haben schon davon berichtet, dies sei die neue Regierungspolitik. Einzig eine Armada gelbschwarzer Taxis lauert auf Beute.

"Black und yellow Taxi, madam?!" Wie aus dem Boden gewachsen, baut sich der Autobesitzer vor mir auf. Er ähnelt einem Barkeeper, oder auch einem Illusionisten eines drittklassigen Varietés: Weste aus glitzerndem Brokat, mit reichlich Brillantine versetztes Haar, Ringe an jedem Finger, farbiges Glas wohl, vielleicht auch funkelnde Edelsteine. Den kurzen, aber heftigen Handel um den Fahrpreis verliere ich und zwänge mich in den Wagen. Mich quält er mit den üblichen Fragen. Ich muss beteuern, Indien zu lieben, die Inder zu vergöttern, und danach lange und monoton das mir hartnäckig angebotene Haschisch ausschlagen.

Ich liebe Indien wirklich, will daher, wie jede Liebende, ungestört das langersehnte Glück der Begegnung erfahren. Durch das geöffnete Wagenfenster dringt heißer Wind, dazu diverse Gerüche, irgendein nur diesem Lande eigenes süßsaures Aroma. Vielleicht rochen so, als die Welt erschaffen wurde, die ursprünglichen Gewässer und Sümpfe. Diese subtilen Aromen verdrängt bald der schreckliche, allumfassende und, so scheint es, gleichfalls ewige Smog, hin und wieder durchsetzt von Weihrauchdüften.

Mir ist, als blickte ich durchs Fenster auf den alles in seinen Bann schlagenden magischen Tanz Shivas, der Tod und Leben unter seinen Sohlen hat. Heiligkeit geht einher mit Verrufenheit, tiefste Betrachtung mit völliger Sinnlosigkeit, Seligkeit mit Schrecken. Hier kann man das, was die altindischen Texte bezeugen, gleichsam mit Händen greifen: Das ist des Lebens, sei es das von Mensch oder Tier, Wert und zugleich Wertlosigkeit. Da ist die Verflechtung von Zeitlichkeit und Ewigkeit, und alles bis zur Weißglut erhitzt. Da ist eine Welt, die jeden Augenblick vergeht und sich wieder neu erfindet, in der es nichts Beständiges gibt, alle ihre Manifestationen sind zugleich Traum, schillernde Buntfarbigkeit, Schleier der Maja …

Aber die Zeit für derlei Gedankenspiele ist zu Ende, denn der Barkeeper-Illusionist, nachdem er mir billigen Zigarettenqualm ins Gesicht geblasen hat, erklärt die Fahrt für beendet. "Wir können nicht weiter, Madam!" Wir stehen an einer lärmenden Kreuzung zwischen Neu- und Alt-Dehli. Gerade in Alt-Dehli befindet sich mein Hotel, dort ist zugleich der wichtigste Orientierungspunkt für die weitere Reise, die Bushaltestelle. Mir wird mitgeteilt, dass die Taxifahrer dieses Stadtteils in den Streik getreten sind. Und Streikbrecher (in einer dieser Maschinen sitze auch ich) würden mit Steinen beworfen. Das gibt uns auch der Fahrer eines entgegenkommenden Wagens mit unzweideutigen Gesten zu erkennen, die verraten, dass man uns nicht nur steinigen, sondern töten wird. Das macht auf mich keinen Eindruck. Nachdem sich der Barkeeper-Illusionist mein Bitten und Flehen angehört hat, gibt er mit einer ringfunkelnden Handbewegung den Befehl weiterzufahren, aber nach einigen Metern stehen wir erneut. Ich suche irgendwelche Zeichen wüster Konfrontation mit unseren Vorgängern und werde fündig: Blutflecke auf dem staubigen Pflaster. Beim näherem Hinsehen entpuppen sich diese jedoch als zertretene Blüten, handtellergroß und leutend rot schmücken sie graue, blätterlose und weitausladende Bäume in ganz Dehli.

Nun redet der Barkeeper-Illusionist hastig auf mich ein, er sei für seine Fahrgäste prinzipiell auch zu sterben bereit, aber mein Leben und meine Sicherheit sei ihm teurer als alles. So blieb mir nur, auf halbem Wege auszusteigen und den vereinbarten Preis zu zahlen. Wie zum Hohn zog auch noch eine mit bunten Decken, Fransen, Troddeln und Glöckchen geschmückte Kamelkarawane an mir vorüber - Richtung Alt-Dehli.

Um nicht die Wut der Streikenden auf mich zu ziehen, hat man mir dringend geraten, nichts zu benutzen, was Gelb-Schwarz daherkommt und Räder hat. Bleiben nur die Rikshas, zweirädrige, von hinten geschobene manchmal ärmliche, dann wieder idiotisch luxuriöse Karossen, in denen man dennoch selten bequem sitzt. Und schon treten sie in ihre Pedale und nähern sich mir aus allen Straßen Dehlis, Geiern ähnlich, die ein gefallenes Opfer wittern. Wieder Gefeilsche. Die von mir vorgeschlagenen zehn Rupien rufen heftigsten Protest hervor. Ein zum Skelett abgemagerter Alter mit großen zornigen Augen hebt beschwörend beide Hände zum Himmel und schleudert eine Sandale von den sicher seit seiner Geburt ungewaschenen Füßen: Fünfzehn! Aber ich fahre für zehn, ohne mich allzusehr als Ausbeuterin und Sklavenhalterin fühlen zu müssen. Ein flinkes Bürschchen kutschiert mich, mit schwarzem, vor Schmutz glänzenden Hemdkragen, um die Hüfte ein gemustertes Band geschlungen. Er redet zu mir mal in Bengali, mal in Hindi, und nachdem er unerwartet zu singen begonnen hat, kommen wir dermaßen in Fahrt, dass ich mich schon still von dieser Erde verabschiede. Das Gefährt laviert zwischen Lastwagen, Bussen und PKWs, Motorrädern, Radfahrern, Fußgängern, Hunden, Heiligen Kühen, Büffeln, Elefanten, Kamelen, rollt quietschend von Hügeln herunter, holpert durch Schlaglöcher, legt sich in plötzliche Kurven … Diesmal geht alles gut, aber es ist noch zu früh, um aufzuatmen.

An diesem Tag scheint mir der Gott, der über die Verkehrsmittel wacht, wenig gewogen zu sein. Es stellt sich heraus, dass Busse, die ins Gelobte Land unterwegs sind, nach Dharamsala nämlich, bereits eine Woche im voraus ausgebucht waren. Weil sich alle, auch ich, danach drängten, die traditionelle Neujahrsmesse Seiner Heiligkeit des Dalai Lama zu hören. Doch nicht umsonst zähle ich mich bereits zu den altgedienten Indienreisenden, weiß daher, dass ich mich mitten auf dem zentralen Busbahnhof postieren und eine besorgte Miene zur Schau tragen muss. Und schon sind sie zur Stelle, Besitzer privater Klapperkästen, die sich noch Busse nennen, und einer wie der andere wahre Telepathen. "Madam, Dharamsala!? Dharamsala, Madam?" O,ja, sie werden mich auf Teufel komm raus nach Dharamsala befördern, selbst wenn sie dafür ganz Indien durchqueren, vielleicht die Welt umrunden müssten. Einem von ihnen - Tänzertyp im geblümten Hemd, die Nägel der linken Hand kirschrot lackiert - vertraue ich mich an. Folge ihm in ein Gebäude, Treppen hoch und runter, dann enge Korridore, wieder Treppen, wieder Korridore. Endlich betreten wir ein enges, verqualmtes Zimmer, randvoll mit laut redenden und heftig gestikulierenden Männern. Die Atmosphäre erinnert weniger an die private Touristenagentur "Hari Travels", wie das kaum sichtbare Täfelchen an der Wand verkündet, als an eine träge Mafiahöhle. An den Wänden Plakate mit einer lächelnden, Michael Jackson ähnlichen, aber mir unbekannten Gottheit, einigen indischen Filmstars, ein von Fliegen befallenes Gandhi-Porträt, ein völlig vergilbter Krishna, anstelle der orangenen Blumengirlanden prangen irgendwelche aufgespießten alten Quittungen. Schließlich an prominenter Stelle ein Abbild des Busses, frontal, von der Seite: Special Super Continental Luxurious Coach with Push-Back-Seats.

Ich kaufe ein Ticket, der Geblümte geleitet mich wieder nach draußen, mitten hinein in das die Bushaltestelle umwogende Markttreiben. Die Sonne sticht, und plötzlich spüre ich, dass da etwas mit meinen Augen passiert. Um mich herum gelbe, rote, zartblaue, violette Gesichter, orangene, grüne, blaue Haare, purpur- und türkisfarbene Hände, die traditionell weißen Gewänder mit starken Flecken, und selbst Hunde, Heilige Kühe und Stiere schimmern in allen Farben des Regenbogens. Erschrocken reibe ich mir die Augen, schaffe kaum, die rosa-, fliederfarbenen, smaragdenen Hände abzuwehren, die wiederum kleine Farbbeutel umklammern, welche durch die Gegend fliegen. "Holi!!!" Der Geblümte kichert. "Happy Holi!" Ich atme auf. Holi - das ist eines der wichtigsten indischen Feste, über das ich nur soviel weiß, dass da die Leute einander tagelang mit grellbunten und zudem sehr klebrigen Farben beschmieren. Denjenigen, denen Kleidung, Haut und Haare lieb sind, empfehle ich, zu Hause zu bleiben. So stehe ich nun, umtost von dieser Farborgie und warte auf den versprochenen Superluxusbus. Offen gesagt: Ich kann mir nicht vorstellen, wie der hierher gelangen könnte, die Straße ist nicht mal für Radfahrer passierbar. Unweit von mir hocken meine Mitreisenden - drei oder vier indische Familien, die wie auf Verabredung zu gleicher Zeit ihre Neugeborenen zum Weinen bringen. Das Leben kocht und brodelt, oft im wahrsten Sinne des Wortes. Auf improvisierten Feuerstellen, mitten auf der Straße, köcheln Tee und Milch, auf einem heißen Stein wird Brot gebacken, hier, auf der Stelle. Es beginnt zu dämmern. Sehnsüchtig sehe ich mich nach dem Bus um, oder wenigstens nach einem weißen Gesicht, einem weiteren Touristen, der sich hierher verirrt haben könnte, um die aufkommende Unruhe zu dämpfen. Wieder taucht der Geblümte auf und teilt mit, der Bus käme nicht. Es sei eben Feiertag, Holi. Happy Holi! Wieder winkt er mir, ihm zu folgen. Wir bahnen uns einen Weg durch die Menge, besteigen ein motorradähnliches Vehikel, und aus allen seinen unentzifferbaren Antworten auf meine hysterischen Fragen entnehme ich nur soviel, dass wir einen anderen Bus suchen. Er ist irgendwo. Wirklich, wirklich, Madam! Die in der Dunkelheit in Licht und Feuer getauchte Stadt erscheint als ein elementares, als ein kosmisches Etwas, wo es sinnlos ist, sich zu verweigern oder gar die Konfrontation zu suchen. Es lohnt auch nicht, sich zu fürchten. Da ist nur ein Ausweg: sich diesem Element hinzugeben, bedingungslos. Auch wenn ich Unverständnis riskiere, wiederhole ich hartnäckig: Vertrauen, nicht Verdacht und Misstrauen halte ich für eine unentbehrliche Eigenschaft eines Reisenden durch die Länder des Ostens. Wer sich von paranoischer Furcht überwältigen lässt, wird sich in Dehli, Kalkutta, Bombay nicht mal aus dem Flughafengebäude oder einem Bahnhof wagen. Und wem ein Unglück widerfuhr, der sollte keine Hoffnung setzen auf die verschlafen wirkenden Militärs mit ihren vorsintflutlichen Gewehren, die an jeder Ecke stehen. Deren Mission ist keineswegs, für Ordnung zu sorgen. Wir haben es nur mit einer weiteren Variante zu tun, das Arbeitslosenproblem zu lösen. Wir rattern durch die engen, holprigen Gassen Alt-Dehlis, und da ist das Gefühl, die von mir immer wieder propagierte Zutraulichkeit könnte diesmal enttäuscht werden. Die am Straßenrand Schlafenden erscheinen mir bereits wie die Opfer eines Gemetzels. Und da rollt auch noch eine gespenstische Karosse vorüber, ein Vehikel auf drei Rädern, über und über geschmückt mit bunten Glühbirnen, Blumen und Girlanden, Fähnchen und Wimpeln. Inmitten dieser Pracht, vor einem ebenfalls beleuchteten Altar, hockt ein langhaariger, graubärtiger Mensch im orangefarbenen Heiligengewand, behangen mit Amuletten und - tritt in die Pedale.

Unser Gefährt ist zum Stehen gekommen, der Geblümte überredet mich, ihm zu folgen, der versprochene Bus befinde sich irgendwo in der Nähe. Ich weigere mich kategorisch. Krampfhaft halte ich mich an meinem Rucksack fest, entschlossen, mich auf nichts einzulassen. Vorsicht überwiegt das Vertrauen. Ich gebe Anweisung weiterzufahren, aber nun springt der Motor nicht an, wie absichtlich. Die reinste Konspiration ist das. Alle Neugierigen aus dem Viertel drehen sich bereits nach uns um. Im bläulichen Licht einer Straßenlaterne tanzt eine Irre: Gesicht einer alten Frau, Mädchenkörper, stechender Blick. Ein tadellos gekleideter, bebrillter Herr, der irgendeinem indischen Politker ähnelt, erkundigt sich, ob er mir irgendwie dienen könnte. Ich meine nicht, deshalb schweige ich. Die Irre fängt nun auch noch an zu singen, es klingt schauerlich: "… tamasoomaajyotirgamayaaa …". "Was singt sie?" frage ich den dienstbeflissenen Herrn. Der hört eine Weile hin, übersetzt. "Hilf mir aus der Dunkelheit, hilf mir, ans Licht zu gelangen, führ mich aus der Welt des Scheins hin zur Wahrheit … ." "Das ist aus den Upanishaden, Madam".

Aber da springt der Motor der Melone wieder an, und nachdem wir noch ein paar Dutzend Meter zurückgelegt haben, erreichen wir einen geräumigen Hof, in dem - o, Wunder - wirklich ein Bus steht. Der Geblümte triumphiert Mein Rucksack gelangt eilig auf das Busdach. Ich ergattere einen Platz mit der Nummer neun. Sonst ist kein einziger Reisender zu sehen. Ich werfe einen Blick auf den Geblümten, der draußen glücklich raucht, und wittere wieder irgendeine Falle. Ich warte lange. Der Geblümte verschwindet. Es ist völlig dunkel geworden. Am Himmel funkeln wunderbar große und klare Sterne. Ich trete hinaus in den Hof. Dort ist kein lebendes Wesen, einzig ein weißer Büffel, ganz versunken in seine Wiederkäu-Medidation.

Und dann überkommt mich augenblicklich ein seltsames, mit Worten schwer wiederzugebendes Gefühl, das ich auf meinen Reisen immer stärker (schmerzhafter?) erfahre. Es ist das blitzartige Gefühl absoluter Lebensfülle um mich herum, und zugleich das der völligen Leere. Vielleicht bezeugen das die "Upanischaden" "... Wie in der Grenzenlosigkeit des Raumes, so finden sich auch im Herz des Menschen Himmel und Erde, Agnis und Vajus, Sonne und Mond, Sterne und Blitze, alles, was im Universum existiert, und was nicht existiert, hat Platz in dieser Leere".

Da, plötzlich, als wäre ein Zauberstab in Aktion getreten, beginnen sich die Reisenden zu sammeln. Umsonst habe ich mich geängstigt. Es sind sogar mehr, als in den armen Bus zu passen scheinen. Sie sind beladen mit gewaltigen Bündeln, plärrenden Kleinkindern, gackernden Hühnern und erbärmlich meckernden Schafen. Alles Einheimische. Nicht einer aus dem Westen. Mit Mühe und Not gelingt es mir herauszufinden, dass diese Leute zu irgendeinem Kali-Tempel unterwegs sind. Kali - das ist die schwarze, schöne und grausame Gattin Shivas, erotische Göttin des Todes und der Zerstörung, meistens dargestellt mit einer Halskette, bestehend aus abgeschlagenen Köpfen, bluttriefendem Mund, die lange Zunge herausgestreckt … Ja, heute werden ihr wieder Opfer gebracht. Von irgendeinem Dharamsala hat nicht einer meiner Mitreisenden gehört. Wohin fahre ich also? Mein Kopf beginnt heftig zu arbeiten. Ein Liedchen von Wladimir Wysotzki fällt mir ein, jenes über australische Eingeborene, die den braven Entdecker und Weltreisenden James Cook verspeisten.

Der Fahrer zündet vor einer mit Pfauenfedern geschmückten Gottheit eine Weihrauchkerze an. Die Gottheit lächelt vom Podest eines Altars herunter, der nahe der Frontscheibe des Busses eingerichtet ist. Der Motor heult auf, ächzend rollt das Gefährt in die Nacht hinaus, die bevölkert ist von einem nicht nachlassenden Strom von zwei-, vierbeinigen und motorisierten Geschöpfen. In der geöffneten Vordertür des Busses steht jetzt ein Bursche mit Trillerpfeife. Das Pfeifkonzert, das er veranstaltet, wirkt Wunder und hilft dem Fahrer, sich in einem Straßenchaos zu orientieren, das einem Bewohner westlicher Großstädte nicht einmal in den wildesten Träumen begegnet. Eine indische Legende berichtet, dass einst Gott Krishna zur Flöte griff und mit wundersamen Lauten das bis dahin vorherrschende Weltenchaos in allumfassende Harmonie verwandelte …

Doch wohin fahre ich denn nun? Schließlich biegt der Bus in eine Schnellstraße ein. Und dann fangen meine Mitreisenden an zu singen. Das Misstrauen schwindet, Vertrauen triumphiert. Leute, welche Lieder singen, die aus der Tiefe des Herzens zu kommen scheinen, werden doch nichts Böses im Schilde führen?

Gegen fünf Uhr morgens werde ich geweckt. Pathankot, von wo aus, so behauptet man, es nur noch ein Katzensprung sei nach Dharamsala. Weit und breit weder ein Städtchen noch ein Dorf, aus dem Bus springe ich in die Dunkelheit wie in einen Abgrund. Aber es scheint, ich werde bereits erwartet. Etwa zwanzig Rikshafahrer sind bereit, mich, die einzige hier abgestiegene Reisende, geradezu in Stücke zu reißen, samt meinem Rucksack, der auch nicht der stabilste ist. Ich sitze bei dem, der gewonnen hat. Nach einigen Minuten Gerumpel über holprige Wege taucht auch Pathankot auf - finster und wie ausgestorben, eine indische Variante der surrealistischen Visionen eines De Chirico. Einzig die Bushaltestelle wirkt lebendig. Und wieder werde ich ordentlich durchgerüttelt, diesmal in einem himmelblauen Postwagen. Es dämmert bereits. Allmählich tauchen silberfarbene Berge aus dem Dunkel. Und dann, plötzlich, ein gewaltiger roter Sonnenball. Es werde Licht! Wir stehen und trinken Tee, die Füße im taubenetzten Gras. Vogelgezwitscher.

Niemand ist in Eile. Es beginnt ein neuer Tag, geprägt von jenem gemächlichen und zugleich zähen östlichen Lebensrhythmus, an den sich Europäer nur schwer gewöhnen. Der Bus, der jetzt nur noch dahinschleicht, hält in jedem Dorf, um, wie es heißt, uns "unter die Leute zu bringen", unter ihnen mehr und mehr Bettler. Sie wissen, dass man über zehn Tage hinweg, während die Vorlesung des Dalai Lama stattfindet, in Dharamsala und Umgebung prächtig verdienen kann. Immer höher geht es in die Berge, und durchs Fenster sind schon die ersten in Purpur gekleideten Gestalten zu sehen - tibetische Mönche. Und dann bin ich überwältigt von einem unaussprechlichen Gefühl, das ich nie je woanders erfahren habe. Es ist das Gefühl zurückzukehren, heimzukehren. Ins eigene Haus.

 

 

TASHI DELEK, DHARAMSALA!

 

Javaharlal Nehru, der 1960 ein Stück bergigen Landes im Staate Pradesh im Nordhimalaja dem verbannten Dalai Lama übergab, dazu tausend weiteren Flüchtlingen aus dem okkupierten Tibet, hatte sicher nicht erwartet, dass das bis dahin völlig unbekannte Städtchen Dharamsala bald Indiens Lhasa genannt werden würde, ausgestattet mit allen Attributen einer "Hauptstadt der Magie und Mystik". Gewiss, das wird einem nicht sofort gewahr. Den Neuankömmlingen bleibt es vielleicht auch ganz verborgen.

Bereits das dritte Jahr bewege ich mich in dem geheimnisvollen Orbit von Dharamsala, heimgesucht von einer Nostalgie, die mir selbst nicht recht begreiflich ist. Ständig kehre ich hierher zurück. Jedesmal, wenn ich mich herauswinde aus dem klapprigen Bus und, den Rucksack übergeworfen, die ersten wankenden Schritte tue, bin ich gerührt von dem tibetischen "Tashi Delek!", der traditionellen Begrüßung. Übersetzt bedeutet sie eher, dass man sich Glück, Gesundheit, Erfolg wünscht. Selbst von denen, an die ich mich gar nicht mehr erinnere, werde ich gleichsam erwartet, als wäre ich eine von hier, die nur vorübergehend irgendwo im Ausland war: Tashi Delek!

Keineswegs bin ich die einzige, die an diesem herrlichen Frühlingsmorgen hier eintrifft. Da gibt es noch ein gutes Dutzend hartnäckiger Pilger, welche die Namen der billigsten Hotels und Herbergen, sie heißen "Shambala", "Mandala" oder "Shangrila", wie ein Zauberwort vor sich hertragen und mit von Schlaflosigkeit geröteten Augen irgendwo unterzukommen suchen. Wer das erste Mal in diesen Regionen weilt, sollte sich auf einen leichten Schock gefasst machen, dann nämlich, wenn der, den man im Westen Portier nennt, die Tür zum zugeteilten Appartment aufschließt. Man wird einen Betonfußboden erblicken, ein wackeliges Bett mit schmutziger Matratze, oder ohne diesselbe, dazu die Wände in schreienden Farben, mit sich ausbreitenden Wasserflecken, welche die letzte Regenperiode hinterließ.

Anderswo haben die Wände Ohren, hier reden sie. Zuerst erfährt man, ob es in dieser Behausung Flöhe, Läuse oder anderes blutsaugendes Getier gibt. In einer Ecke werden sich die vormaligen Bewohner verewigt haben, mit diversen Kritzeleien. Da kann eine Warnung stehen, die man beherzigen kann, also Hals über Kopf auszieht und sich eine andere Bleibe sucht. Winke dieser Art haben meist sensible Westler hinterlassen Aber die Wände berichten auch von denen, die hier Momente des Glücks erfuhren. "Thubden und Dolmar sind dankbar für süße Stunden" oder: "Dieses reizende Zimmer hat uns für immer zusammengebracht". Darunter ein durchbohrtes Herz mit Lotosblüten. Nur ein Unglücklicher, der viele Ausrufezeichen braucht, schreit seine grenzenlose Einsamkeit heraus.

Nachdem ich es aufgegeben habe, das Zimmer nach meinem Gusto umzugestalten, greife ich, als wäre es ein Dopingmittel, zu Lobsang Palden Jeshes "Reise nach Shambala", eine schon recht zerlesene Kopie, um noch einmal zu überdenken, was ich eigentlich hier zu tun habe. Und was uns Ankömmlinge aus dem Westen hierher treibt.

Wie gesagt, wir leben im Kalijuga, einer Ära der Entartung und des Niedergangs. Wie in den altindischen sakralen Texten prophezeit, beschleunigt sich gegen Ende dieser Periode das Lebenstempo immer mehr, die Zeitspirale zieht sich zusammen, die Menschheit, vergeblich auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Desaster, vernichtet sich zunehmend selbst. Es wird kein Weltkrieg sein, der das Ende bringt, eher diverse Formen individueller Selbstzerstörung: Alkohol, Drogensucht, Depressionen, die Aufgabe des eigenen Ichs in neuen totalitären Sekten usw. Kalijuga hat besonders im Westen seine Spuren hinterlassen, und die Massenpilgerschaft der Söhne und Töchter aus diesen Breiten gen Osten hielten nicht wenige der Himalaja-Weisen für ein verhängnisvolles, die Apokalypse vorwegnehmendes Symptom. Welche Propheten begannen die Reise ins Gelobte Land? W. B. Yeats? Hesse? K. G. Jung? A. Huxley? J. Kipling? Vielleicht Allan Ginsburg, bärtiger Erzengel einer Lost Generation, der sich in Kalkutta psychedelischen Orgien hingab? Oder J. Kerouak, der dieser seltsamen Pilgerschaft eine wahre Hymne widmete, "Dharma Bums", sein vielleicht poetischstes und keuschestes Buch. Vielleicht die Beatles, die sich enthusiastisch in die Transzendentale Meditation vertieften, die sie dann besangen in ihrer "Magical Mystery Tour"…? Schließlich und endlich, nach den berühmten oder unbekannten einzelnen, begann eine wahre Flut. Die Hippies kamen.

Der Ansturm der Blumenkinder verschlug selbst den vielerfahrenen Indern die Sprache. Anfangs erschienen die Fremden wie Götter: engelsgesichtige junge Mädchen, die gleichsam die ewige Jugend verkörperten, langmähnige Jünglinge, die Flöte spielten, goldgelockte Kleinkinder, einzig aus Liebe gezeugt, jener ausschließlichen Beschäftigung, der sich die wunderlichen Ankömmlinge widmeten. Doch ähnlich wie in den buddhistischen Parabolen von den sechs Ebenen des Samsara begannen die Gesichter der Götter zu altern, ihre Kleidung zu bleichen, sie selbst gingen zugrunde an einer Überdosis Heroin, an Krankheiten, Auszehrung oder geistiger Verwirrung. Sie brachten Dreck und Chaos. Schließlich, einem Regenbogen ähnlich, verflüchtigte sich die verblüffende Erscheinung. Man sagt, das Land der Gurus und Weisen habe einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen. Aber, leider … Der Zustrom aus dem Westen verminderte sich keineswegs, im Gegenteil. Er begann, und das in drohender Progression, zuzunehmen. Indische Journalisten zitierten auf den ersten Zeitungsseiten die Propheten ihres Landes, die schon in grauer Vorzeit geweissagt hatten, die wahre Apokalypse beginne da, wo Ost und West aufeinanderprallen und sich vermischen, zwei mächtige, aber einander völlig konträre Zivilisationen. Statt sich zu ergänzen, ruinierten sie sich gegenseitig. Ist die Apokalypse also bereits im Gange, hier und jetzt?

"Rishi Bhumi" oder "Das Land der Weisen", wie Indien noch immer genannt wird, erwartet jetzt einzig noch respektable, wohlhabende Touristen, die sorgfältig ausgewählte Reiseziele ansteuern und ordentlich Geld ausgeben. Die nach einer Woche die Heimreise antreten, spätestens aber nach einem Monat, und ohne den Willen, bald zurückzukehren. Heruntergekommene Romantiker, bleichgesichtige Weisheits- und Wahrheitssucher oder sonst nach Erleuchtung Dürstende sind ganz und gar unerwünscht. Die, welche ihr Visum verlängern wollen, oder ein Mehrfachvisum anstreben, werden mit bürokratischen Hürden konfrontiert, die selbst einem gewieften Geschäftsmann, der mit Diamanten oder den Zähnen des bengalischen Tigers handelt, zu schaffen machen. Doch die auf den ersten Blick schwächlichen Dharma-Pilger erweisen sich als durchtrieben und trotzen den größten Hindernissen. Ganz zu schweigen von denen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen, gestählt und gehärtet vom Sowjetsystem. Fazit: "Die Skeptiker vermehren sich kaum, aber die Zahl der Enthusiasten wächst und wächst". So, verwundert, Indiens Soziologen und Psychologen.

Denn was eigentlich erwartet diese Begeisterten auf Indiens heiligem Boden? Die Antwort lautet: eigentlich nichts! Und je mehr Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen sich anstauten, desto schwerer ist es, sich deren Scheitern einzugestehen. Darüber spricht man nicht, auf keinen Fall. Darüber wird geschwiegen an jenen Orten, wo die Westler sich treffen, in verräucherten Teestuben, den Speisesälen der Herbergen, im wahnwitzigen Gewühl der Bahnhöfe, oder in der Schlange stehend, um geduldig die segnende Hand eines Gurus zu erwarten.

Daran erinnert man sich nicht gern, wenn man untereinander seine Landstreichererfahrungen austauscht, tantristische Praktiken rühmt und die allerorts ins Kraut schießende Magie und Mystik. "Seid ihr aller Siege müde, dann kommt hierher, um mit uns zu verlieren!!!" Diese Losung, ein Vorschlag der berühmten indischen Schriftstellerin Gita Mehta, sollte über allen von Westlern besuchten Ashrams und Klöstern stehen. Oder den Behausungen der am meisten verehrten Gurus.

Wie anders? Meist sind wir alle, die wir in Indien Befreiung und Erlösung suchen, unserem Schicksal überlassen, oder, um es präziser und unbarmherziger auszudrücken, der absoluten Einsamkeit anheimgegeben. Denn all die gelehrten Lamas, Priester und Gurus in den Hochtälern des Himalajas warten wirklich nicht auf uns mit all unseren egomanischen Beichten, unseren Neurosen und Depressionen. "Konfrontiert mit der totalen Gleichgültigkeit" bestätigt einer meiner Freunde, der seit einem Jahrzehnt den Osten durchwandert, "beginnt man wieder zu funktionieren. Zu Hause hat man sich wie tot gefühlt. Schon deshalb lohnt es sich, hierher zu kommen. Um sich selbst zu entdecken. Und um schließlich unüberwindbar zu werden."

Leider haben nicht alle Märchen ein glückliches Ende. Wem es nicht gelingt, sich wie Phönix aus der eigenen Asche zu erheben, bekommt mitunter Besuch von einem Gast, der manchmal im Tanzschritt daherkommt, aus dem Hinterhalt agiert oder sich wie ein Raubvogel vom Himmel stürzt - dem Irrsinn. Indische Psychiater, die in Ashrams, Klöstern oder einfach von der Straße westliche Pilger aufsammeln, die den Verstand verloren, vermuten, dass die plötzliche Gemütsverwirrung nur eine desparate Form ist, Aufmerksamkeit zu erlangen, Mitgefühl, ein Minimum an Geborgenheit. Botschaften westlicher Länder wandten sich wiederholt an die indische Regierung mit der Bitte, ihren ungezählten Gurus und Heiligen, die diverse Dachschäden bei Sorbonne- und Oxfordabsolventen verursachten, doch irgendein "Qualifikationszertifikat" auszustellen. Es kommt vor, dass Unglückliche, die auszogen, um Antworten auf die ewigen Fragen des Lebens zu finden, physische oder sexuelle Gewalt erfahren, in den Rauschgifthandel verwickelt werden, ihrem geistigen Lehrer das gesamte Vermögen vermachen, zuweilen, aus Erniedrigung und Verzweiflung, Selbstmord begehen. Jedoch, wie in allen mystischen Schlachten und Kreuzzügen, tritt an die Stelle eines Gestrauchelten gleich der nächste. Ein Arzt der französischen Botschaft in Dehli, betraut mit der undankbaren Aufgabe, all die Ausgezehrten, Fixer, Wahnsinnigen, und schließlich auch die Toten, zurückzubefördern in ihre Heimatländer, bekannte einer Journalistin gegenüber, man solle nur die letzteren zurückschicken. Alle anderen würden sich wieder einfinden. Der Osten sei ihnen ins Mark gedrungen, in jede Hirnzelle, in die Tiefe der Seele, unheilbar.

Das kann ich nur bestätigen.

Carl Gustav Jung, der sich eingehend mit der Weltsicht des Ostens befasste, hat vor den Gefahren gewarnt, mit denen ein Europäer konfrontiert ist, wenn er versucht, den Raum des Orients zu umfassen, einen Kosmos, welcher der eigenen Kultur fremd ist. Er erörtert, ob es denn möglich sei, das eigene Wertesystem völlig zu verändern, oder ob der Mensch des Abendlandes, vom Orient fasziniert, stets zur Imitation verdammt bleibt. Die meisten, schrieb Jung, schmückten sich mit den indischen metaphysischen Theorien wie mit bunten Federn. Und gingen damit in die Irre, weil sie die "magischen" Ideen herauslösten aus dem Kontext östlicher Weltanschauung, diese also nur äußerlich adoptierten, so wie man sich Schmuck anlegt, oder ein Parfüm verwendet. "Die Menschen sind zu allem entschlossen, ganz gleich, wie absurd es ist, nur um der Konfrontation mit dem eigenen Ich aus dem Wege zu gehen", behauptet dieser Denker, dem die Konfrontation mit dem eigenen Ich zur Lebensaufgabe wurde.

Die, welche das Stadium bloßer Imitation überschreiten, riskieren ebenfalls. In den Tiefen des Unterbewusstseins schlummern Kräfte und Energien, die, erst einmal entfesselt von den östlichen esoterischen Theorien, den Alltagsverstand überfluten und zugrunde richten können. Die Macht der Archetypen, verborgen in den Randzonen unseres Wesens, vergleicht Jung mit der Kraft des Atoms. Je tiefer ein Forscher in die mikroskopische Struktur der Materie eindringe, behauptet er, desto größer sei das zerstörerische Potential, das er selbst in den kleinsten Teilchen des Universums vorfinde. Dasselbe könne derjenige erwarten, der in tiefere Seelenschichten vordringt. Plötzlich kommt es zu einer Explosion, die Persönlichkeit bricht auseinander, zerfällt in nicht wieder zu integrierende Teile, der Wahnsinn hält Einzug. Oder die Heiligkeit? Es ist kein Geheimnis, dass viele Entdeckungen und Durchbrüche solchen Grenzsituationen der Seele und des Verstandes zu verdanken sind: Trancen, Ekstasen, Halluzinationen oder prophetischen Träumen. Und kann der, der erst einmal die Grenzen alltäglichen Begreifens überschritt, sich anschließend noch immer "normal" verhalten? Man erinnert sich der 84 Mahashidda Indiens, berühmt und berüchtigt durch ihr exzentrisches, dem profanen Verständnis "verrücktes" Betragen. Oder an die, eine indische Tradition fortsetzenden, "Göttlichen Wahnsinnigen" Tibets, deren Betrachtungen, dem logischen Verstand nicht fassbar, auch heute noch Wegweiser für alle das eigene Shambala suchende Pilger sind.

Wie die unsichtbare Grenze erkennen, welche die Erleuchtung trennt von anderen, zerstörerischen Geisteszuständen? Bevor man aufbricht zu einer Reise ins eigene Unterbewusstsein, sollte man "Sicherungen" haben: eine stabile, gut ausbalancierte psychische Struktur und inneres Gleichgewicht. Dasselbe rät den Shambala-Reisenden auch der III. Panshen Lama. Doch sollte man keineswegs Buddhismus und Psychoanalyse gleichsetzen oder miteinander verwechseln. Namkei Norbu Rinpotshe zufolge "hilft das Dharma dem Individuum, dem Samsara zu entfliehen", die Psychotherapie hingegen hilft, besser darin zu leben. So ist auch der buddhistische Blick auf die Seelengesundheit ein anderer als der im Westen, wo man gewöhnlich den für "normal" und "psychisch stabil" hält, der am besten an das Sozium angepasst ist. Doch leider, psychische Gesundheit bedeutet noch keineswegs eine gesunde Seele. Nicht umsonst behauptet Buddha, alle Menschen seien wahnsinnig, mit Ausnahme derer, die den Weg zur Transzendenz beschritten. Auf diesem Weg gibt es viele, die sich berufen fühlen, aber nur wenige Erwählte. Schön und süß ist es, dies zu vergessen …

Nach Meinung der Einheimischen ist einer der Gründe, unter denen die Westler leiden, die in ein Land kommen, das im Rhythmus der Ewigkeit pulsiert, der Wille, oder vielleicht auch die Angewohnheit, alles leicht und schnell zu bekommen. Es ist das bekannte "instant coffee" oder "ready made"-Syndrom. Und man zweifelt auch nicht, dass man alles, was man heiß begehrt, auch umgehend bekommt, für Geld, für sehr viel Geld. Die schon erwähnte Gita Mehta schrieb sarkastisch, die indischen Gurus, nachdem sie das leidenschaftliche Gottsuchertum der Westler erfahren hatten, hätten sogleich einen Vorschlag zur Hand gehabt: "Ihr habt Geld", so hieß es, "und wir haben Zeit. Vielleicht tauschen wir?" Dann wurde eine Losung ausgegeben, zuvor nie gehört im Land der Weisen: "Religion - nur für Reiche!" Noch ein Symptom, welches das Ende von Kalijuga anzeigt.

Na, und wie begegnen die Tibeter, die in Indien Zuflucht fanden, den Ankömmlingen aus dem Westen? Die würden wohl sagen, dass alle diese Probleme nicht in der Außenwelt zu suchen sind, sondern in uns selbst. Die Psychonauten, die es gen Osten zog, verloren demzufolge bereits ihre Geistes- und Verstandesharmonie, falls sie diese überhaupt je gehabt haben. Dann würden sie noch etwas über die Gesetze des Karmas hinzufügen - was man einst gesät hat, das wird man ernten - und raten, die Ursachen allen Übels in bösen Taten zu sehen, begangen vor hundert, oder auch vor fünfhundert Jahren.

Die, welche die Ursachen ihres Fiaskos in der Außenwelt finden wollen, können sich mit der noch immer populären Schwarzen Magie trösten, oder dem Dämonenwesen. Da läuft durch Dharamsala schon den dritten Tag eine elegante Französin, beladen mit einem Sack voller Geldstücke, und gibt jedem Bettler, dem sie begegnet, eine Rupie. So empfahl es der "Mo"-Zauber eines Lamas, sich von bösen Geistern freizukaufen.


Deutsch von Klaus Berthel