Walter Schwery: "Das Böse oder die Versöhnung mit dem Dunklen Bruder"

Herausgegeben von Thomas Arzt


C. G. Jungs Schatten und der Weg zur Individuation

Wege zur Versöhnung des Menschen mit sich selbst zu suchen und aufzuzeigen, anders formuliert: die Integration seiner Schattenseite, seines "Dunklen Bruders", des Bösen also, in das Gesamtbild seines Selbst; das ist die Zielsetzung Walter Schwerys, wie er sie in seinem Buch "Das Böse oder die Versöhnung mit dem Dunklen Bruder" dargelegt hat. Schwery fußt dabei ganz auf der Lehre C. G. Jungs, er offeriert uns so gut wie nichts Eigenes und liefert hier eine kompakte, komprimierte Darstellung dessen, was Jung in seinem Spätwerk "Mysterium Coniunctionis" im Stil einer manchmal nur schwer verständlichen Offenbarung seinen Lesern unterbreitet hat. Nun gibt es aber Publikationen wie Sand am Meer, die sich dieses Themas bisher mehr oder weniger ausführlich angenommen haben. Ist das vorliegende Buch Walter Schwerys demnach als überflüssig zu betrachten?

Mitnichten. Walter Schwery ist es gelungen, den kolossalen Stoff C. G. Jungs sinnvoll zu straffen, dabei das Wesentliche herauszustellen und jedem verständlich zu machen. Ein lesenswertes Buch also auch für Nicht-Psychologen. Es handelt sich hierbei in der Tat um eine sehr gute Einführung in die Gedankenwelt C. G. Jungs, der im Original nicht immer leicht zu lesen und zu verstehen ist. Des Buches Haken jedoch, an dem man etwas Kritik aufhängen könnte, ist sein Preis. Denn selbst wenn es sich um die beste Einführung in Jungs Psychologie des Schattens handelt, die mir persönlich bekannt ist, sind die knapp 20 Euro, die der Leser dafür berappen muss, doch ein ziemlich stolzer Preis für eine Taschenbuch-Ausgabe von lediglich 82 Seiten. Und von diesen 82 Seiten kann man die jeweils ersten und letzten zehn auch noch abziehen, denn dort finden sich Impressum, Inhaltsverzeichnis, ein Foto von C. G. Jung, Register, Literaturverzeichnis und so weiter. Bleiben also noch gut 60 Seiten Text übrig. Aber Qualität hat schließlich ihren Preis, so mag man nun entschuldigend einwenden. Und Qualität kann man diesem Buch gewiss nicht absprechen.

Bevor der Autor auf den von Jung beschriebenen Prozess der Individuation zu sprechen kommt, nimmt er seine Leser mit auf einen Ausflug in die Religionsgeschichte, unter Betrachtung des besonderen Aspektes vom Kampf der beiden polaren Prinzipien des Guten und des Bösen. Er informiert also darüber, wie die unterschiedlichen Religionen mit dem Problem des Schattens, mit ihrem "Dunklen Bruder" umgegangen sind und noch heute umgehen. Dann weist er uns den Weg, den Jung vorgezeichnet hat, nämlich den der Versöhnung mit seinem Schatten, den Weg der Bewusstmachung des Schattens als einen vom Ich unterschiedenen, autonomen psychischen Inhalt. Deshalb bekommt er den Namen "Dunkler Bruder", der verhindern soll, dass ich mich als Mensch mit ihm identisch fühle, der es erlaubt, vernünftig mit dem Bösen in mir, das er ja repräsentiert, umzugehen. Schwery vergleicht das mit dem Rumpelstilzchen aus dem Märchen, das ja auch seine Macht verliert, nachdem es erst einmal als das Rumpelstilzchen benannt werden kann.

Bei einem Buch, das sich mit der dunklen Seite des Menschen befasst, darf der aktuelle Bezug zur Gegenwart natürlich nicht fehlen. Laut Walter Schwery kann man unsere Zeit sogar als das "Dunkle Zeitalter" betrachten, das sowohl von der östlichen als auch von der westlichen spirituellen Tradition vor langer Zeit schon vorausgesagt worden ist. Da ist dann die Rede vom Krämergeist, vom Materialismus, von seelischer Verelendung, von Isolation und Vermassung sowie von moralischer Dekadenz. Das alles resultiert nach Ansicht des Autors nicht zuletzt aus der Unterdrückung des Schattens, der in einer Art Sündenbockpsychologie verdrängt und auf andere Individuen oder Völker projiziert wird. Schwery propagiert daher eine neue Ethik, deren unser gerade anbrechendes Jahrhundert dringend bedarf. Und der Weg dorthin ist exakt der Weg, den Jung als Individuationsweg bezeichnet hat. Es ist eine Ethik, die nicht nach Vollkommenheit, sondern nach Ganzheit strebt. In dieser Hinsicht kann Schwerys neue Publikation sogar als eine Art Lebensratgeber verstanden werden, als einer der wenigen, von dem der Leser auch profitieren kann.

Für diejenigen, die mit der Psychologie C. G. Jungs einigermaßen vertraut sind, bringt diese neue Publikation Walter Schwerys sicherlich nichts Neues, für diejenigen, für die Jung noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt ist, möchte ich das Buch trotz seines vergleichsweise hohen Preises zum Kauf empfehlen.

(Werner Fletcher; 03/2008)


Walter Schwery: "Das Böse oder die Versöhnung mit dem Dunklen Bruder"
Studienreihe zur Analytischen Psychologie, Band 2.
Herausgegeben von Thomas Arzt.
Königshausen & Neumann, 2008. 82 Seiten.
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