Andreas Horvath: "JAKUTIEN. Sibirien von Sibirien"

Taiga, Tundra und Eismeerküste - das schlafende Land


Den Bildband aufschlagend, erblickt man eine aus dem Jahr 1651 stammende historische Karte, genauer jenen Ausschnitt einer solchen, welcher die oberhalb der Chinesischen Mauer gelegene Landmasse - in verfälschten Proportionen - abbildet. Den Allermeisten war und ist Sibirien (Tatarisch "Sibir" bedeutet "schlafendes Land") terra incognita - einige assoziieren den Landstrich möglicherweise mit Verbannung und Sklavenarbeit, daher vorweg einige Fakten:
Jakutien (Sacha) ist die größte Republik der Russischen Föderation, annähernd so groß wie Westeuropa, allerdings von lediglich knapp mehr als 1,1 Millionen Menschen bewohnt! (Paradiesisch, zumindest was die Bevölkerungsdichte betrifft ...) Die Hauptstadt heißt Jakutsk, moderne Infrastruktur gibt es kaum, die Region ist extremen Temperaturschwankungen (von bis zu 100° C) ausgesetzt, und Sibiriens mächtigster Fluss ist die Lena. Der Permafrostboden (ein bis in eine Tiefe von 1500 Metern reichender Eispanzer) birgt sagenhafte Mengen verschiedener Bodenschätze, beispielsweise Gold, Diamanten, Erdöl, Erdgas und Kohle. Im Jahr 1991 erklärte Jakutien seine Unabhängigkeit.
Diese und andere interessante Details bietet das Kapitel "Das schlafende Land", im Anschluss an einige einleitende Fotos, die erste Impressionen der immensen landschaftlichen Weite, der Unwegsamkeit und der bizarren Kargheit vermitteln.

Die durchwegs schwarz-weißen und großformatigen Fotos dokumentieren schlichte Architektur wie auch Industrie- und Wohnbauruinen aus Beton (neben anderen Hinterlassenschaften der Sowjetunion), viele davon im unveränderlich scheinenden Stadium der Rohbauskelette befindlich verewigt. Die Abbildungen zeigen den ewigen übermächtigen Morast, der die Fortbewegung mühsam werden lässt, melancholische Ruhe, und immer wieder die zerfurchten Gesichter der Ortsansässigen, die ihre Augen unbeteiligt an der Kamera vorbei in die Weite schweifen lassen. Der Horizont scheint schier endlos, aus den Wolken fällt diffuses Licht, das sich in den Pfützen spiegelt, und über allen menschlichen Ansiedlungen hängen die Nabelschnüre der Modernität: elektrische Leitungen; der Permafrostboden verunmöglicht die unterirdische Verlegung dieser und anderer Leitungssysteme. Kühe liegen mitten im Dorf, ernste, den Eindruck eines schwermütigen doch keineswegs erloschenen Wesens vermittelnde Frauen und Männer blicken gewissermaßen durch den Fotografen hindurch, die Begleittexte fassen ihre Schicksale in kurze Absätze; beispielsweise jenes von Ludmila Olejnikowa, die mit ihrem Mann nach Jakutien kam, weil dieser beim Kartenspiel verloren hatte ... Verschneite Holzhäuserzeilen, vermummte Gestalten dazwischen, windschiefe Lattenzäune, irgendwann zwischen Frost und Tauen mürbe geworden, ein Mädchen posiert in einem Metallgerüst über Hammer und Sichel, der gähnende, 350 Meter tiefe Krater einer Diamantengrube, eine Katze sitzt mit dem Rücken zum Betrachter vor einer trüben Fensterscheibe .... Aber es gibt natürlich auch heitere Seiten: Musizierende Männer mit strahlenden Gesichtern, badende und herumtollende Kinder, kostümierte Mädchen, prächtig gekleidete, anmutige Frauen, ...

Der Fotograf und Filmemacher Andreas Horvath wurde 1968 in Salzburg geboren, wo er ein Fotostudio betreibt und an der Fachschule für Kunst unterrichtet. Er hat Jakutien Ende des 20. Jahrhunderts wiederholt bereist und seine Eindrücke in stimmungsvollen Aufnahmen festgehalten. "Vielleicht kommt Ostsibirien unserer Vorstellung vom Ende der Welt sehr nahe. In so mancher Hinsicht scheint die Welt dort aufzuhören. Aber diese Sicht wurzelt in einer oberflächlichen, einseitigen Vorstellung von der Welt: und die Fotografie eignet sich hervorragend dazu, einseitige Konzeptionen mit kleinen Ausschnitten aus der Realität zu konfrontieren." (Andreas Horvath)

Der gesammelte Ruhe ausstrahlende Bildband mit seinen auf das Wesentliche konzentrierten Texten darf getrost als Anleitung zur Entdeckung der Langsamkeit verstanden werden.

(Felix; 05/2003)


Andreas Horvath: "JAKUTIEN. Sibirien von Sibirien"
Mit Texten von Monika Muskala (Deutsch/Englisch).

Benteli, 2003. 
160 Seiten, 110 Schwarzweiß-Abbildungen.
ISBN
3-7165-1295-8.
ca. EUR
46,-. Buch bestellen