Maxim Biller: "Der perfekte Roman"
Das Maxim-Biller-Lesebuch

Mit dem Alltag abrechnen - die "metaphysische Wut":
Erinnerungen, Entlarvungen, Entwicklungen
Vierzehn Texte eines Autors, der sich nicht hinter dubiosen Anpassungen verbirgt


Wenn Sie eine Schwäche für kauzige (was immer man darunter im Einzelnen verstehen mag) Charaktere und bizarre Wendungen, Freude an abwechslungsreichen Ausgangssituationen, punktgenauer Sprache und Interesse an kritischen Tönen, die bleibende Eindrücke hinterlassen, haben, ist dieses Buch genau die richtige Lektüre für Sie: Texte, die zuvor in Zeitungen und anderen Erzählbänden erschienen sind. 

Maxim Biller, aufgrund seiner Herkunft und Abstammung zweifellos prädestiniert, das Scheuklappendenken ebenso wie das Scheitern vieler seiner Mitmenschen zu erkennen und lauthals anzuprangern, tut dies großteils schonungslos, doch keineswegs ohne Mitgefühl für die knifflige Situation des Einzelnen innerhalb des jeweiligen Sozialgefüges. Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass sich Biller unermüdlich mit vornehmlich mit Juden/dem Judentum an sich zusammenhängenden Belangen befasst und seine persönlichen Erfahrungen in alle seine Geschichten einfließen; kein Grund, die Texte voreilig in der Schublade "Vergangenheitsbewältigung" verschwinden zu lassen. Denn Biller kann mehr als das: Er polarisiert, attackiert, nennt Dinge ohne Umschweife beim Namen und scheut sich nicht, gelegentlich anzuecken; im Gegenteil hat es den Anschein, der Autor wachse über sich hinaus, indem er sein Umfeld provoziert und solcherart zum Nachdenken zwingt.

Die erste Kurzgeschichte, "Der perfekte Roman", erzählt von den Schicksalen zweier Männer, deren Wege sich immer wieder kreuzen, zu Zeiten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Isi Pulwer, ein jüdischer Schriftsteller, betätigt sich eingangs der Geschichte als besessener Fotograf, der von seiner Wohnung in Tel Aviv aus das Treiben der Gäste im gegenüberliegenden Hotel festhält, jedoch die belichteten Filme nie entwickeln lässt, sondern diese im Keller hortet. Eines Tages traut er seinen Augen nicht, als er Geherman, seinen "Lieblings"-Erzfeind aus lange zurückliegenden Tagen, erblickt. Das Auftauchen dieses Herrn Geherman, eines Opportunisten und Wendehalses aus Berufung, dessen offiziell weiße Weste insgeheim zahlreiche dunkle Flecken aufweist, raubt Pulwer einmal mehr seine Ruhe. Zahlreiche, bewegend und detailliert ausgeführte Rückblicke auf die politischen Ereignisse in Ost und West seit den 1940er Jahren sowie die Berührungspunkte der Lebensläufe der beiden Figuren, Pulwer und Geherman, bilden den Rahmen der Geschichte, die nach einigen überraschenden Wendungen geradezu versöhnlich endet. 
"Rosen, Astern und Chinin" ist die Geschichte der Einladung eines Dichterfürsten zum Essen bei der Mutter des Icherzählers. Diese denkwürdige Bewirtung kommt - nach einigen Schwierigkeiten, sonst würde ja das Salz in der literarischen Suppe fehlen - nicht nur zustande, sondern verläuft auch zur allgemeinen Zufriedenheit, nachdem die Mutter ihrer Begeisterung für die Gedichte Marina Zwetajewas freien Lauf gelassen hat und die Speisenfolge geklärt ist ("Das Huhn gekocht oder gebraten? Zum Nachtisch Leikach oder Apfelkompott oder vielleicht beides?") - denn um die Gesundheit des Dichterfürsten Joseph Heller, amerikanischer Jude mit deutsch-russischen Vorfahren, ist es nicht allzu gut bestellt. Auch sorgt ein Freund der Familie, welcher der Mutter unschicklich zugetan ist und mit seinem eigenwilligen Hund namens Jossif (eine Hommage an Stalin) anreist, für Turbulenzen, doch das gemeinsame Abendessen wird letztlich ein großer Erfolg.
"Ein ganz normales Leben" erzählt von einem Mann, der Frau und Kinder bei einer Bombenexplosion verloren hat und nun mit seiner neuen Partnerin und den Kindern aus dieser freudlos-spröden Beziehung einen Tag am See verbringt. Er starrt die ansehnliche Kehrseite einer jungen Frau an, wird darob vom Freund der Dame verprügelt und hat fortwährend das dumpfe Gefühl, dass etwas geschehen wird. Sein Gefühl täuscht ihn nicht, und der Tag endet mit der Rückkehr des Mannes aus der verlorenen Vergangenheit in die unvollkommene Gegenwart, die er endlich doch besser akzeptieren kann.
In "Der Joint" berichtet Maxim Biller von seinen Jugendzeit-Erlebnissen mit gleichaltrigen Deutschen, wobei er deren Lebensart und Ansichten kritisch hinterfragt und alles in allem deutlich missbilligt; "Cilly" ist ein morbider Leckerbissen für jene Leser, die Sexualität, Siechtum und Tod im leicht absurd angehauchten Dreierpack konsumieren möchten; "Deutscher wider Willen" - dieser Titel ist selbsterklärend; es handelt sich um Erinnerungen Maxim Billers und Überlegungen zur Identitätsfindung.
"Motti Wind" hat einen Anfall in einer Kneipe, muss die angerichtete Unordnung aufräumen und entpuppt sich als Kinderschänder; in "Ein Meister aus Deutschland" setzt sich Maxim Biller mit Person und Wirkung des Schriftstellers Ernst Jünger ("metaphysischer Preuße") auseinander; "Auschwitz sehen und sterben" fasst die bei einer Reise nach Polen gewonnenen Eindrücke einer Reisegruppe zusammen. In "Land der Väter und Verräter" erzählt Maxim Biller von der vollkommen missglückten Auswanderung eines Ehepaars von Moskau nach Haifa, von halsbrecherischen Beistandspflichten, ehebrecherischem Beischlaf, riesengroßen Insekten und schrecklichen Träumen; in "Tischmann wird älter" entwickelt sich ein Sonderling zum Klebeband-Fetischisten, dessen Leidenschaft vor nichts und niemandem Halt macht; "Finkelsteins Finger" beschreibt das Entstehen einer Geschichte in einer Geschichte und befasst sich mit der seltsamen bis einsamen Stellung des Literaten in der Gesellschaft; "Die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit" beginnt mit einem weiteren Rückblick auf die Jugendjahre Maxim Billers und weitet sich zu einer umfassenden Analyse der Zustände in Deutschland aus, wobei der Autor u. a. die "deprimierende Temperamentlosigkeit und Gleichförmigkeit unseres geistigen und künstlerischen Lebens" sowie die "moralische Gleichgültigkeit", Feigheit und die langweilige Meinungsdiktatur mit geschliffenen Formulierungen attackiert, und selbstverständlich bleibt auch der Literaturbetrieb nicht ungeschoren. 
In der letzten Geschichte, "Drei Partien Scheschbesch", gewährt Maxim Biller Einblicke in fehlgeschlagene Beziehungen und auch in jene Überlegungen, die dazu geführt haben, dass er - trotz (aufgrund?) der zahlreichen Missstände - doch in Deutschland bleibt.

Fazit: Anspruchsvoller Lesestoff, der mit interessanten Denkansätzen und hintergründigem Humor aufwartet.

(Irmgard Ernst; 06/2003)


Maxim Biller: "Der perfekte Roman"
Mit einem Nachwort von Claudius Seidl.
dtv, 2003. 270 Seiten. 
ISBN 3-423-13087-3.
ca. EUR 9,50.
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