Roger Willemsen: "Deutschlandreise"


"Die größten Erfindungen wurden im Zeitalter der Unwissenheit gemacht, wie der Gebrauch des Kompasses, das Schießpulver und die Buchdruckerei, und zwar vom dümmsten Volke, nämlich den Deutschen." (Jonathan Swift)

Roger Willemsen startet durch und begibt sich auf die Reise. Sein Ausgangspunkt und Ziel ist Deutschland. Was ihn antreibt, ist der Versuch, eine Befindlichkeit auszumachen, die in der Allgemeinheit verpackt ist. Er beschließt, den Dingen auf den Grund zu gehen ohne Vorsatz. Sich einfach treiben zu lassen von einer Stadt zur nächsten. Die Menschen wahrzunehmen und sie aus sich herausgehen zu lassen. Nie geht es dem Autor darum, einen Zustand darzustellen. Ein Zustand ist von kurzer Dauer; darum verweilt der Mensch auch lieber und bezeichnet dies als einen Zustand, wenngleich die vorantreibende Zeit dagegen spricht. Viele Unsinnigkeiten, die Menschen in Zügen und Bussen, in Hotels und sonst wo artikulieren, sind in der "Deutschlandreise" versammelt. Und noch weit mehr.

Selten ist ein Buch so demaskierend wie dieses. Die Menschen in ihrem Sosein werden vom Scheinwerfer des Beobachters Willemsen beobachtet und in einen Kontext zu ihrem möglichen Sein gestellt. Was ist alles nicht? Was könnte sein? Weshalb ist der so? Warum erzählt sie mir das? Gibt es einen Grund dafür, dass er so wurde? Die uninteressante Schale des homo sapiens wird aufgeweicht, und es wird in die Tiefe gegangen. Es ist insbesondere die Sprache, die Menschen aufmacht. Sie sind offen und merken es gar nicht. Sie erzählen Stuss und vernichten damit ihre Außenwelt. Ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch. Ein Mensch ist so etwas wie ein Versuch, der gelingen kann, oder eben nicht. Die Sprache der Werbung ist amüsanter als die lächerlichen Formeln, derer sich ein Manager am Telefon bedient. Ist das noch Sprache? Ist das noch Selbstbild? Ist das noch echt? Authentizität findet Roger Willemsen nie bei Menschen, die darauf getrimmt sind, ihr Abziehbild als Selbstdarstellung zu beziffern. Ja, es ist Geld, Kapital, Marktwert, Gier, Schrecken und Irrsinn, die einander abwechseln. Auf der anderen Seite sind die Gestrandeten, oft Wehrlosen, der Gesellschaft Verdächtigen. Diese Menschen besitzen nicht die Welt sondern immer noch sich selbst. Sie sind auf sich selbst gestellt und unverbraucht. Roger Willemsen versteht die Welt oft nicht, wenn er durch Deutschland reist. Er wundert sich auch nicht, dass die Deutschen so ein seltsames Völkchen sind. Nie aber würde er sagen, dass Deutschland seine Heimat sei.

Für den Sprachakrobaten Willemsen gibt es keine Kleinigkeiten. Er reist und entdeckt die Menschen in deren kleinem Kontinent. Das kann eine Bar sein. Ein Taxi. Oder ein Hotel. Wenn ein Karpfen in einem Waschbecken aufwächst; ist das dann seine Heimat? Kann ein Einkaufszentrum, ein Andreaskreuz oder ein Kaufmannsladen eine Heimat sein?

Die Eindrücke, die Roger Willemsen gesammelt hat, sind imposant. Auf nur wenig mehr als 200 Seiten spannt sich ein Bogen durch die deutsche Geschichte, die Menschen, Gebäude, Gedanken, Ereignisse und Verhalten einschließt. In einem beeindruckenden, kurzweiligen Stil fortschreitend, fällt hier Sprache auf fruchtbaren Boden. Es ist ein Konglomerat, das eine menschliche Innenschau bloßlegt, die jene Mär von deutscher Gründlichkeit als eine Steigerung erfährt, welche durch sich selbst verkleinert wird. Immer diese Deutschen, die sich so groß machen und überall die Ersten und Besten sein wollen! Und darauf beharren, dass dies nun einmal so sei ...

Es ist kein Zufall, dass der folgende Witz von keinem Deutschen in Deutschland erzählt wurde sondern weit weg in Bali:
"Was ist der Unterschied zwischen einem deutschen Touristen und einem deutschen Terroristen? Der deutsche Terrorist hat Sympathisanten."

Ja, die Deutschen sind schon ein merkwürdiges Volk, und es tut gut, wenn ein Autor einen wunderbaren Schuss Selbstironie in den Cocktail seiner Sprache legt, um die Grenzen seiner Wahrnehmung überschreiten zu können.

Ich hatte die große Freude, den Autor anlässlich einer Lesung in Wien am 24. Oktober 2002 zu hören. Der Mann, der so unendlich schnell seine Gedanken zu formulieren versteht, las bezaubernd langsam im Vergleich zu seiner sonstigen Sprechgeschwindigkeit. Nach der Lesung wurde er vom Veranstalter der Lesung, Richard Jurst, befragt, und da war sie wieder: diese unheimliche Sprache, die sich mit Siebenmeilenstiefeln ausbreitete und das Publikum mitriss. Zwei Episoden waren besonders witzig anzuhören und mögen hiermit erzählt werden. Zum Einen: Die Frage nach seinem ersten Joint führte zu einer Geschichte, die allein das Eintrittsgeld x-fach wert gewesen wäre. Er hatte mit 17 einen Freund, der ihm seinen ersten Joint anbot. Das war aber nicht das Entscheidende. Als weit interessanter erwies sich der Keks, den er sich mit seinem Freund  teilen konnte und der ein wenig komisch schmeckte. Unmittelbar nach dem Verzehr desselben beschlossen die zwei 17-Jährigen, eine Partie Schach zu spielen. Und da passierte das Wunder: Sämtliche wohlbekannte Schachregeln waren ausgeschaltet. Die Figuren verselbstständigten sich; das Pferd machte sehr weite Sprünge, oft über das Feld hinaus, und dennoch gab es Regeln, die - gerade erfunden - von beiden Spielern befolgt wurden. Roger Willemsen glaubte im Übrigen, dass sein Gegenüber ständig versuchte, unter seinem Sessel durchzukriechen, ohne den Boden zu berühren. Am nächsten Tag erwies es sich, dass der Keks eine halluzinogene Droge beinhaltet hatte, die eine derartige Wirkung verbreitete, dass der ruhig auf seinem Platz sitzende Freund als ständiger Sesseldurchkriecher erschien. Alles Einbildung; auch, dass dieser Kerl dauernd unruhig nach links und rechts ausscherte. Zum Anderen: Die Frage nach seinem furchtbarsten Interview führte zu Madonna. Er hatte sie seinerzeit gefragt, worauf sie besonders stolz sei. Und die selbsternannte Pop-Ikone antwortete: "Die Menschen sexuell befreit zu haben." Worauf Willemsen meinte: "Haben Sie auch eine Botschaft für die Impotenten?" Madonna war daraufhin sehr verwirrt und meldete sich zu Wort, indem sie darauf hinwies, dass die Europäer recht ungewöhnliche Fragen stellen würden. Ihr wäre das nicht unbekannt, denn ihre Psychotherapeutin käme aus Argentinien.

Roger Willemsen begeisterte sein Publikum durch viele weitere Anekdoten und nahm sich nachher genüsslich Zeit, um meine an ihn gerichteten Fragen zu beantworten. Er erwies sich als seriöser, witziger und überaus netter Gesprächspartner, der im Übrigen freundlich immer wieder sehr ausführlich Bücher und CDs signierte (denn nur eine Unterschrift und eine kleine Widmung hätte er nicht über's Herz gebracht).

Wer bereit ist, sich mit Roger Willemsen auf die Reise durch Deutschland zu begeben, dem kann ich nur versprechen, dass er überaus vergnügt und von neuen Gedanken beseelt am Ende des Buches bzw. der CDs anlangen wird. Der Autor verfügt über eine wunderbare Sprache, und es ist ein ebenso imposantes Vergnügen, ihm mittels der CD zuzuhören. Er hat ja ein etwas ambivalentes Verhältnis zu Deutschland, was ich jedoch nicht als verwunderlich ansehe. In jedem Fall ist er ein Glücksfall für Deutschland, von dem sich die Mehrzahl anderer Autoren mehr als ein Scheibchen abschneiden können. Roger Willemsen ist zwar ein bekennender "Verschrobener", aber ein sehr sympathischer für jene Menschen, die sich nicht von ihm angegriffen fühlen, weil er deren Banalität oder Zerstörungskraft entlarvt hat.

(Jürgen Heimlich)


Roger Willemsen: "Deutschlandreise"
Fischer. 208 Seiten.
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Ein Buchtipp:

Willi Winkler: "Deutschland, eine Winterreise"

Achthundert Kilometer sind es zu Fuß vom atheistischen Hamburg ins erzkatholische Altötting.
Willi Winkler hat sich im Winter 2013/14 auf diese Wallfahrt begeben - die ihn durch ein erstaunlich unbekanntes Deutschland führte. Für Wochen war er aus der Welt. Keine Finanzkrise, kein Kanzler-Machtwort, keine Fußballergebnisse, nichts. Dafür erfährt Winkler, dass Deutschland weiter geteilt ist: Im Norden kennt niemand das Altöttinger Gnadenbild, und von der Walhalla an der Donau aus gesehen liegt Hamburg irgendwo hinter den sieben Bergen Norwegens.
Winkler bezwingt die Lüneburger Heide und die Grenze zur ehemaligen DDR, besucht den Halberstädter Dom und Luthers Sterbehaus in Eisleben, stapft im Fichtelgebirge durch tiefen Schnee. Er trifft Niedersachsen, richtige Sachsen, Thüringer und Bayern, Totengräber, Jäger, FC-Nürnberg-Anhänger, Waldarbeiter und Stammtischhocker. Die meisten erklären ihn für verrückt: von Hamburg nach Altötting? Zu Fuß? Im Winter?
Aber Deutschland im Winter ist auch fast menschenleer, und unvermutet taucht hinter Einkaufszentren wieder eine Landschaft auf. In der Morgensonne warten selbst die Windparks auf einen neuen Caspar David Friedrich, und neben der ICE-Trasse fließt die Saale fast noch so, wie Goethe sie sah. Eine abenteuerliche Pilgerreise, nach der man Deutschland ganz neu erlebt.
Willi Winkler, geboren 1957, war Redakteur der "Zeit", Kulturchef beim "Spiegel" und schreibt heute für die "Süddeutsche Zeitung". Zahlreiche Buchveröffentlichungen. 1998 erhielt Willi Winkler den "Ben-Witter-Preis", 2010 den "Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus", 2013 den "Michael-Althen-Preis". (Rowohlt)
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