Andrea Grill: "Das Paradies des Doktor Caspari"


"Ach, ich sehne mich nach Tränen,
Liebestränen, schmerzenmild,
Und ich fürchte, dieses Sehnen
Wird am Ende noch erfüllt.

Ach, der Liebe süßes Elend
Und der Liebe bittre Lust
Schleicht sich wieder, himmlisch quälend,
In die kaum genesne Brust."

(Heinrich Heine)

Existenznöte eines Evolutionsbiologen: Mit Tränen und Vogeldreck vom Nutznießer zum Nichtsnutz?

"Der einsame Wissenschaftler lebt in den ewigen Tiefen unstillbarer Sehnsucht, denn er ist (unglücklich?) verliebt in die Welt, interessiert sich wahnsinnig für alles". (S. 9/10)
Solcherart sinniert der Protagonist in Andrea Grills Roman, der Evolutionsbiologe Dr. Franz Wilhelm Rosalie Caspari, 1980 in Wien geboren. Er hält sich, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, seit annähernd zehn Jahren auf der indonesischen Insel Mangalemi auf, um die bis zu ihrer erneuten, ihm zu verdankenden Entdeckung als ausgestorben geltende (von der Autorin erfundene) Nachtfalterart  Calyptra lachryphagus zu studieren und vor allem zu züchten.

Mit dem Satz "Das Wichtigste sind die Körper" beginnt der Roman. Doch was tun, wenn der Körper gelegentlich etwas Anderes will als der Forschergeist? Derlei auseinanderstrebende Impulse erschüttern Dr. Caspari häufig. Dem weitverbreiteten Klischee entsprechend, ist der Wissenschaftler eher eigenbrötlerisch, im zwischenmenschlichen Bereich gehemmt bis unfähig (oder eher unwillig), neigt zum andauernden inneren Monolog ebenso wie zum Pendeln zwischen Allmachtsfantasien und Minderwertigkeitskomplexen.

Andrea Grill nahm im Jahr 2007 auf Vorschlag der 1964 geborenen Germanistin Daniela Strigl, die der Wettleseveranstaltung im Oktober 2014 aufgrund von Unstimmigkeiten wegen des Juryvorsitzes nach dem Rücktritt von Burkhard Spinnen (Nachfolger: Hubert Winkels) den Rücken gekehrt hat, mit ihrer von der ratlosen Jury verworfenen Erzählung "Freunde" an den "31. Tagen der deutschsprachigen Literatur" teil. Der Schlusssatz wirkt rückblickend geradezu ironisch: "Nein. Wir haben einander zu oft gesehen, um wirklich Freunde zu werden." Der Text sei eine Einladung, die man weiterdenken könne, aber nicht müsse, so Strigl damals im Rahmen der Jurydiskussion. Bekanntlich erhielt der deutsche Autor Lutz Seiler für seinen Text "Turksib" den "Ingeborg-Bachmann-Preis" des Jahres 2007.
Schwamm drüber, denn der "Bachmann-Preis" hat wahrlich schon bessere Zeiten gesehen!

Laut "Duden" handelt es sich bei einem "Paradies" (auch) um einen "Ort, Bereich, der durch seine Gegebenheiten, seine Schönheit, seine guten Lebensbedingungen o.Ä. alle Voraussetzungen für ein schönes, glückliches, friedliches Dasein erfüllt".
Das fiktive indonesische Eiland Mangalemi wird diesem Anspruch offenbar zunächst gerecht: Ein tropisches Paradies, das dem Evolutionsbiologen beste Voraussetzungen zur Erforschung einer bis vor Kurzem für ausgestorben gehaltenen, von ihm allerdings wiederentdeckten Falterart bietet. Die Falter zeichnen sich den Forschungen Dr. Casparis zufolge durch die Besonderheit aus, vor der Eiablage menschliche Tränen trinken zu müssen.
Dieser erstaunliche Umstand lässt den Forscher zu ungewöhnlichen Mitteln und Methoden greifen: Zu den gelungensten Momenten der beschreibenden Passagen zählen die Schilderungen der fantasievollen Strategien, Tränen zu beschaffen bzw. die Falter direkt an Weinenden trinken zu lassen: Begräbnisbesuche (bis plötzlich niemand mehr stirbt), bewusst sorgenvolle Gespräche mit der braven Haushälterin oder das Erzählen eigenartiger Witze, auf dass die Haushälterin wieder einmal in Tränen (des Kummers oder der Freude) ausbrechen möge, Manipulation eines Fußballspiels, um die Falter am Tränenmeer der enttäuschten Anhänger der Verlierermannschaft laben zu können, ein einmaliger Schulbesuch mit fragwürdigem Verlauf, ...

In seinem Paradies plaudert Dr. Caspari quasi weitschweifig aus seinem inneren Nähkästchen, und zwar in erster Linie mit sich selbst (also dem Leser). Man erfährt allerlei Details, beispielsweise über den Selbstmordversuch des Vaters, der in letzter Zeit Italienisch lernt und seinem Sohn die sprachlichen Fortschritte in E-Mails zur Kenntnis bringt, über die besondere Verbundenheit mit der Großmutter, über die lebensfrohe Schwester, Mutter zweier aufgeweckter Söhne, über Mr. Pants, den örtlichen Tankstellenbesitzer, der für Dr. Caspari eine wichtige Kontaktperson darstellt, über den Schweizer Heinrich, seinen Freund und Finanzier, über die Haushälterin Mrs. Jane Banerjee, über Heinrichs junge Freundin Shambavi, über den befreundeten Forscher Christof und den Gärtner. Hauptsächlich äußert sich Dr. Caspari naturgemäß über "seine" Falter, deren Aufzucht und Hege, über Futterpflanzen und vor allem den Tränenbedarf der Tiere.
Der Evolutionsbiologe hat den Rhythmus der eigentlich nachtaktiven Tiere mittels technischer Vorrichtungen im Haus an seinen eigenen angepasst, ordnet der Fürsorge jedoch gewissermaßen sein gesamtes Leben unter.

Das monoton anmutende Forscherleben an vorderster Front nimmt seinen gewohnten Lauf, bald ziehen allerdings dunkle Wolken auf. Kaum merklich zunächst, doch die düsteren Bedrohungen rücken näher, der Weg führt direkt in eine Sackgasse: Sein Vater teilt ihm mit, dass sich eine seiner ehemaligen Studienkolleginnen umgebracht hat, der geliebten Großmutter geht es immer schlechter, bis sie eines Tages stirbt, sein Freund Heinrich verschwindet über Nacht spurlos, weshalb Dr. Caspari häufig die Gesellschaft der geradezu unerträglich heiteren Freundin Heinrichs, Shambavi (der Name bedeutet übrigens "die Wohlwollende", "die Glückverheißende"), erdulden muss und von der jungen Frau Einzelheiten über die Beziehung erfährt, die er gar nicht wissen will. Kollege Christof soll auf die Insel eingeladen werden, um die gemeinsame Forschung voranzutreiben, die Kosten für das Unterfangen soll Heinrich tragen, doch der ist ja verschwunden!
Außerdem setzt die indische Justiz Dr. Caspari mit brieflichen Vorladungen, einem "Hausbesuch" und schließlich sogar mit einer enormen Strafe zu, weil er in der Nähe von Mumbai Insekten für seinen Kollegen Christof gesammelt und außer Landes gebracht hat. Auch mit seinen Artikeln hat der in wachsendem Ausmaß merklich Frustrierte kein Glück mehr, sie werden allesamt von den kontaktierten Redaktionen abgelehnt, und seine verzweifelte Stellensuche verläuft ebenso im Sand.
Als der wohlhabende Heinrich mit einer verstörenden Geschichte im Gepäck zurückkehrt, sind die Würfel gefallen: Die Insel ist für Dr. Caspari längst kein Paradies mehr.

Andrea Grill lässt den Leser kontinuierlich an den Gedanken und am Erleben des Mittdreißigers, der meint, seine beste Zeit läge bereits hinter ihm, teilhaben, der Roman ist großteils im Präsens geschrieben. Die selbstgewählte Einsamkeit des verschrobenen Forschers wird an manchen Stellen förmlich greifbar, dennoch bleibt der Icherzähler auf Distanz zum Leser.
Die Aussichtslosigkeit in beruflicher Hinsicht, die Hürden seitens örtlicher Behörden, der Tod der Großmutter und nagender Lebensverdruss sind die Zutaten einer veritablen Existenzkrise, die den Roman schlussendlich eine überraschende Wendung nehmen lässt.
Wie erwähnt, herrscht im Hauptteil, solange Dr. Caspari am Wort ist, eine recht gemächliche Gangart, erst gegen Ende gewinnt der Roman an Nuancen und Tempo. So entpuppt sich beispielsweise die Haushälterin unverhofft als Helferin mit erweiterten Kenntnissen, sozusagen als Retterin der Falter (Stichwort: Vogeldreck!).
In einer Art Epilog wird gezeigt, was aus den Hauptfiguren und dem Nachtfalterprojekt geworden ist.

Zum Thema Wissenschaftler im weiteren Sinn ist anno 1999 im Hanser Verlag Harry Mulischs brillanter Roman "Die Prozedur" in deutscher Übersetzung erschienen, der dem geneigten Leser an dieser Stelle ausdrücklich ans Herz gelegt sei. Auch Mulischs Roman weist übrigens Wien-Bezüge auf.
In "Die Prozedur" scheitert ein weltberühmter nobelpreisverdächtiger Biochemiker, der Leben aus der Retorte geschaffen hat, ebenfalls im und am Dasein als Mensch; aber wie er scheitert, und wie viele Ideen der Autor auf nur 268 Seiten untergebracht hat, ist  - Mulischs Kreativität und Gewitztheit sei Lob und Dank! - grandios.

Andrea Grills ordentlicher Gegenwartsroman, dessen naturwissenschaftliche Schwüle bisweilen zu Ermattung führt, fügt diesem Genre einen weiteren Band hinzu.

(kre; 07/2015)


Andrea Grill: "Das Paradies des Doktor Caspari"
Zsolnay, 2015. 284 Seiten.
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Dr. Andrea Grill wurde 1975 in Bad Ischl geboren. Sie studierte Biologie an der Paris-Lodron Universität Salzburg. 2003 erfolgte die Promotion an der Universität Amsterdam. In den Jahren 2004-2005 war sie Lehrbeauftragte an der Universität Neuchatel, Schweiz; 2006-2007 Marie-Curie Stipendiatin am Istituto Nazionale per la Fauna Selvatica, Bologna, Italien.
Seit 2011 ist sie Elise-Richter Stipendiatin an der Universität Wien.
Sie schreibt Romane, Erzählungen und Gedichte, arbeitet als Übersetzerin aus dem Albanischen und veröffentlicht in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Für ihre Werke, die ins Albanische und Russische übersetzt wurden, erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u.A. den "Förderpreis zum Bremer Literaturpreis" (2011) für ihren Roman "Das Schöne und das Notwendige" und zuletzt den "Förderpreis für Literatur der Stadt Wien" (2013). Andrea Grill lebt in Wien.
Netzpräsenz der Autorin: www.m-orld.org

Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):

"Safari, innere Wildnis"

Mit "Safari, innere Wildnis" legte Andrea Grill nach "Happy Bastards" ihren zweiten Lyrikband vor. Kugelgeister und ein Herzkitz begegnen uns darin, es riecht nach Holz und nach Linden, es zwitschert, flüstert, knistert und schnattert. Mit wenigen Worten gelingt es Andrea Grill, ein dichtes Netz an sinnlichen Eindrücken zu weben. Die Gedichte sind, wie die Autorin selbst, in verschiedenen Sprachen beheimatet, wie selbstverständlich stehlen sich italienische, französische, englische Gedichtzeilen dazu. Fasziniert und staunend folgt man dieser sprühenden, leichtfüßigen aber doch tiefgründigen Poesie. Jemand kauft Seelen am Naschmarkt, jemand drückt auf die Klingel des Lebens, aber nur "1x". Und im Gedicht "Wir glauben nicht" heißt es zuversichtlich: "birneessend kann die Welt nicht untergehen". (Otto Müller)
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"Das Schöne und das Notwendige"
Zwei Freunde, die vor dem finanziellen Ruin stehen, fassen einen gewagten Plan: Sie wollen in den Kaffeehandel einsteigen und mit einem originellen Einfall die mitteleuropäische Kaffeekultur revolutionieren.
Die geniale Idee hat nur einen Haken: Für ihre Umsetzung benötigen die beiden Männer eine asiatische Schleichkatze. Ein nachtaktiver, pelziger Bewohner der Baumkronen indischer Regenwälder. Denn auf dem Speiseplan dieser Katze stehen unter anderem Kaffeebohnen ...
Woher bekommt man aber ein solches Tier, und wie hält man es in einer Wohnung im fünften Stock?
Andrea Grill erzählt mit großer Leichtigkeit, hintergründig und berührend. Ihr Roman ist eine literarische Ernte der überraschenden und manchmal auch bitteren Früchte des Lebens. (Otto Müller)
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"Zweischritt"
Die schönsten Städte ihrer Welt sind jene, die sie kaum gesehen hat. Die Ich-Erzählerin reist viel von Berufs wegen. Sie ist Wissenschaftlerin, jagt in den verschiedensten Regionen der Welt nach Eichhörnchen, denen sie Haarbüschel ausreißt, um DNA-Sequenzen zu erstellen und daraus die Landkarte der genetischen Vielfalt zu zeichnen. Als wir ihr begegnen, fliegt sie nach Brasilien. Neben ihr sitzt Moor. Wie die Städte, die sie begeistern, weil sie sofort wieder abreisen muss, fühlt sie sich zu ihm hingezogen - weil sie ihn nicht kennt und auch nicht kennen zu lernen vorhat. "Alle suchten etwas, das sie Liebe nannten. Niemand, den ich kannte, wusste, was es war. Wer sie fand, sprach nicht darüber", sagt sie. Ihre Gedanken gehen immer wieder zu Moor, spielen damit, ihn noch einmal zu treffen - oder wandern zu dem Freund, den sie immer wieder in einer bestimmten Stadt sieht. Ist das wirklich ein Anderer?
Der Text gleitet frei zwischen Erlebtem, Geträumten, Dialog und Erzählung, führt uns Möglichkeiten vor, die "immer wunderbarer sind, als man vermutet, und zugleich bis ins Detail vorhersagbar". (Otto Müller)
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"Tränenlachen"
Die Geschichte einer Österreicherin und eines Albaners ... Österreichs und Albaniens.
Ein Anruf aus der Ferne weckt ihre Erinnerungen: an den Albaner Galip und wie sie ihn, kurz nach seiner Flucht nach Österreich, 1991 kennenlernte. Wie sich in Momente der Vertrautheit immer wieder ein Gefühl der Fremde einschlich, bis der Albaner aus dem Leben der jungen Österreicherin verschwand. In Briefen will sie ihm ihre gemeinsame Zeit noch einmal vor Augen führen. Es zeichnet sich ab, wie die politische Geschichte eines Landes die Geschicke des Einzelnen prägen kann. Galip war durch die Liebe zu ihr mit dem fremden Land verbunden, eine Heimat ist es ihm nie geworden. Und auch Albanien konnte ihm kein wirkliches Zuhause mehr sein. 2007 bricht die Österreicherin erneut nach Albanien auf, das sie und Galip früher gemeinsam bereisten. Seine Familie nimmt sie auf, als sei keine Zeit vergangen. Doch das Land hat sich verändert. Und ein vom Dach gefallener Toter ist zu identifizieren.
Andrea Grill skizziert mit feinen Linien die Beziehung zweier Menschen, in der sich zwei Kulturen begegnen. Es ergibt sich ein bezauberndes Gespinst aus Liebe und Freundschaft, enttäuschten Hoffnungen und der Verwunderung über das Unbekannte. Ein Roman über Grenzen aller Art und ihre Willkür. (Otto Müller)
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Ein von Andrea Grill übersetztes Buch:

Mimoza Ahmeti: "Milchkuss"

Mimoza Ahmeti erzählt die erstaunliche Geschichte einer Frau im gegenwärtigen Albanien, die ganz und gar ins Leben eintauchen möchte und sich dabei in Affären flüchtet, in Düften verliert und nach dem besonderen Moment heischt, der sie das Leben ungezügelt genießen lassen soll.
Dieser Roman entführt den Leser nicht nur in die Psyche einer geheimnisvollen Frau, die Realität Albaniens und die Kunst des stimmungsvollen Verzweifelns am Miteinander, sondern auch in den Sprachkosmos von Mimoza Ahmeti.
Andrea Grills Übersetzung wahrt die sprachlichen Facetten einer Autorin, die das Geschehen mit lyrischem Geschick ausdrucksvoll verzaubert. (Otto Müller)
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