(...)
»Ekelhafter Typ«, fauchte Linda in Richtung des
Mannes. Dann beugte sie sich zu Anna und kniff ihr in die Seite.
»Der ist doch selber ein Berggespenst!«
Anna lächelte tapfer und blickte wieder aus dem Fenster.
Was war denn das?
Zwischen einem großen Felsen und einer besonders
verkrüppelten Tanne tauchte plötzlich eine Gestalt
auf. Es war ein großer Mann, der von Kopf bis Fuß
grün gekleidet war. Auf seiner linken Schulter saß
ein schwarzes Eichhörnchen und über der rechten
Schulter hing ein großen Sack, in dem sich irgend etwas
heftig bewegte.
»Schau mal, da«, sagte Anna aufgeregt.
»Da ist ein Mann in der Schlucht!«
»Wie bitte?«, fragte Linda ungläubig und
setzte sich Anna gegenüber, um einen Blick auf diese
Entdeckung zu werfen. »Hat der Typ vorhin also doch keinen
Unsinn erzählt? Wo ist denn dieser Mann?«
Sie blickte neugierig nach unten.
»Ganz nah am Fluss, bei der komischen Tanne da«,
erklärte Anna und versuchte, so genau es ging in die Richtung
des Mannes zu zeigen.
»Es ist so dunkel. Man sieht ja gar nichts. Welche Tanne
denn?«, fragte Linda gespannt.
»Na, da! Es ist die einzige Tanne, die nicht gerade ist. Der
Stamm hat so eine komische Zickzack-Form.«
Linda verengte ihre Augen zu Schlitzen, um in der Dunkelheit besser
sehen zu können.
»Ich glaube, ich seh sie! Ist es die, die über den
Fluss gebogen ist?«
»Ja, genau«, bestätigte Anna.
»Und gleich links neben ihr steht der Mann. Er hat ein
Eichhörnchen auf der Schulter und einen Sack, in dem irgendein
Tier oder so was drin ist. Komisch, nicht?«
»Du, ich sehe da nichts«, sagte Linda
enttäuscht. »Du musst dich irren. Es ist viel zu
dunkel, um wirklich etwas erkennen zu können.«
»Nein, nein! Ganz sicher!« Anna wurde ungeduldig.
»Da! Jetzt bewegt er sich!«
Und tatsächlich: Der seltsame Mann machte mächtige
Sätze über den Fluss und dann von Fels zu Fels. Dabei
bewegte er sich so sicher und flink, dass Anna der Atem stockte. Jeden
Augenblick erwartete sie, dass der Mann auf den vom Regen rutschig
gewordenen Felsen ausgleiten und sich das Genick brechen
würde. Und dann würde auch er nach Taustadt
gespült. Aber das Gegenteil war der Fall. Mit unglaublicher
Sicherheit hüpfte der Mann mit seinem Eichhörnchen
und dem Sack die Schlucht hinauf. Es sah fast so aus, als wäre
er ein Felsbrocken, der anstatt hinab-, die Schlucht hinaufpolterte.
Nach einem besonders weiten und beeindruckenden Sprung über
den Fluss blieb der Mann wieder stehen und sah sich um.
»Hast du gesehen, wie der gehüpft ist?«,
keuchte Anna, vor Spannung ganz
zittrig.
»Hör bitte auf, ja?«, sagte Linda streng
und blickte ihre Tochter mit verschränkten Armen an.
»Da ist nichts! Gar nichts!«
»Ganz bestimmt!«, versicherte Anna und klopfte mit
dem Finger aufgeregt gegen die Scheibe.
Noch einmal ließ sich Linda erweichen, nach unten zu schauen,
doch auch diesmal erkannte sie nicht das Geringste.
»Na gut«, sagte sie dann ruhig, aber sichtlich
gereizt, »fast hätte ich dir geglaubt. Aber nun ist
Schluss! Ich habe keine Lust auf deine Scherze! Oder soll ich glauben,
mit meiner Tochter stimme etwas nicht?«
»Aber …«
Linda warf ihrer Tochter einen Blick zu, der klar zum Ausdruck brachte,
dass jedes weitere Wort überflüssig war. Dann setzte
sie sich wieder an ihren Platz.
Dass Linda ihr nicht glaubte, obwohl sie die Wahrheit gesagt hatte,
machte Anna wütend. Aber das war schon öfter der Fall
gewesen. Schon häufig hatte Anna Dinge gesehen, die
für andere Menschen unsichtbar zu sein schienen. In den Augen
der Leute waren das alles nur Hirngespinste und sie lästerten
hinter vorgehaltener Hand, Anna sei krank. Kein anderes Kind wollte mit
ihr etwas zu tun haben. Natürlich besitzen viele Kinder eine
überbordende Fantasie,
aber die war nie so
spektakulär und befremdlich wie Annas Entdeckungen. Jeder, dem
sie diese Entdeckungen zeigen oder schildern wollte, reagierte mit
einem verdrießlichen Gesichtsausdruck und wandte sich von ihr
ab, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Es bereitete
Anna großen Kummer, dass sie von niemandem ernst genommen
wurde. Und manchmal, selten zwar, jedoch für Anna schmerzlich
bewusst, dachte auch Linda Fink, dass mit ihrer Tochter etwas nicht
stimme.
Annas Äußeres trug zu diesem verletzenden Urteil
nicht unbedingt vorteilhaft bei. Sie war zwar ein hübsches
Mädchen, doch hatte sie geradezu unheimlich große
blaue Augen, die einen zu durchbohren schienen. Ihr gerades
schulterlanges Haar war pechschwarz und sie war sehr dünn. So
dünn, dass Linda sie schon zu einem Arzt geschleppt hatte, der
jedoch keine körperlichen Mängel bei ihr feststellen
konnte. Im Gegenteil: Anna strotzte nur so vor Kraft und Gesundheit.
Der Einzige, der sie nie auch nur einen Augenblick in Frage gestellt
hatte, war ihr Vater Hiram gewesen. Ihm hatte Anna alles anvertrauen
können, was in den Augen anderer Ausgeburten krankhafter
Zwangsvorstellungen waren. Auch er schien Dinge gesehen zu haben, die
augenscheinlich nicht existieren konnten. Doch Anna wusste nicht, ob er
dabei geschwindelt hatte, um ihre Laune zu heben, oder ob er
tatsächlich irgendetwas Außergewöhnliches
gesehen hatte.
Und genau in solchen Situation wie jetzt vermisste Anna ihren Vater
mehr als irgendwann sonst.
Anna verscheuchte diese traurigen Gedanken und beschloss, nicht weiter
auf ihre Mutter einzureden, die nun gelangweilt in einer Zeitung
blätterte, die im Abteil auf dem Boden gelegen hatte. Statt
dessen interessierte es sie, wie es mit dem Mann in der Schlucht
weiterging.
Als sie aber wieder aus dem Fenster blickte, war der Mann verschwunden.
Aufgeregt suchte sie den Fluss ab und entdeckte ihn auf einem
höher gelegenen Felsen wieder.
Er streichelte sein Eichhörnchen.
Auf einmal flog ein großer Adler in die Schlucht und landete
neben dem Mann auf einem abgestorbenen Baumstamm. Der Mann beugte sich
zu dem mächtigen Vogel hinunter und Anna schien es, als ob die
beiden miteinander redeten. Dann, wie vom Blitz getroffen,
stieß sich der Mann von seinem Felsen ab und verschwand
pfeilschnell in den dunklen Schatten der Bäume. Der Adler
erhob sich wieder in die Luft und Anna verfolgte mit angehaltenem Atem
seinen majestätischen Flug.
Anna liebte Vögel, besonders Adler. Oft hatte sie zusammen mit
ihrem Vater diese wunderbaren Bewohner des Himmels beobachtet und sie
in ihren Gedanken in ferne unbekannte Länder begleitet. Sie
wusste sofort, um welche
Art Adler es sich handelte: Es war ein Kaiseradler. Die Federn auf
seinem Kopf glänzten golden, dass es beinahe so aussah, als
trüge er eine Krone. Sein übriges Gefieder schimmerte
graubraun und seine weissen Schulterflecken verstärkten
nur noch den Eindruck von Erhabenheit. Beim Anblick des Adlers kam Anna
ein Gedicht ihres Vaters in den Sinn, das er ihr immer wieder
vorgetragen hatte und sie mittlerweile auswendig konnte:
Wär ich ein
Vogel, so würd ich gern ein Adler sein
Flög wie ein König in das weite Himmelsreich hinein
Fern ab von des Menschen Hohn
Der Wind wär mein Weg, eine Wolke mein Thron
Und einen Namen würde ich mir geben
Adolar würd ich heissen und fortan in
Freiheit leben
Wie sehr
wünschte sich Anna, ebenfalls
fliegen
zu können.
Einfach in die Höhe zu steigen, durch unendliche
Wolkenlandschaften zu gleiten, weit weg von allen, die mit dem Finger
auf sie zeigten und sie auslachten. Doch sie wusste genau, dass das
nicht möglich war. Sie verlor den Adler aus den Augen, denn
auch er verschwand in den langen Schatten des Morgengrauens.
Enttäuscht sank Anna in ihren Sitz zurück. (...)
aus "Anna Fink" von Boris Zatko
Band 1: "Die Fanfare des Königs":
Als
Anna Fink mit ihrer Mutter ein sonderbares Haus erbt, ahnt sie noch
nicht, dass sie in eine ungeheuerliche Verschwörung geraten
ist. Und als sie beschließt, den merkwürdigen
Machenschaften nachzuspüren, wird ihr Verstand auf eine harte
Probe gestellt. Aber je näher sie der Wahrheit kommt, desto
klarer wird: Schafft sie es nicht, das
Rätsel der
geheimnisvollen Erbschaft zu lösen, wird sie nie erfahren, wer
sie in Wirklichkeit ist.
Boris Zatko, geboren 1973, lebt und arbeitet als freier Autor in Basel.
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