Imre Kertész: "Letzte Einkehr"

Tagebücher 2001-2009. Mit einem Prosafragment.


"Notiere alles. (Was du nicht vergessen hast.)
Tagebuch zu führen ist nicht nur eine metaphysische Pflicht ..."
(Seite 193)

Nach Buchenwald auch den literarischen Ruhm überleben ...

Der 1929 geborene Auschwitz- und Buchenwaldüberlebende Imre Kertész erhielt im Oktober 2002 den Literaturnobelpreis für seinen autobiografisch inspirierten "Roman eines Schicksallosen". Die Auszeichnung, eine unerwartete Wendung im Leben des damals schon Übersiebzigjährigen, erhält er in seiner Wahlheimat Berlin, wo er sich sicherer fühlt als in seiner ungarischen Heimat. Dorthin war er gemeinsam mit seiner Ehefrau schon während der ersten Regierungsperiode Viktor Orbáns (1998 bis 2002) wegen antisemitischer Anfeindungen übersiedelt. Doch der nationalsozialistische Völkermord ist ihm nicht ein tragisches Geschehnis der jüdischen Geschichte allein. Das Wesentlichste ist für ihn der Verlust der europäischen Werte. Dafür sieht er auch nach der Wende von 1989 und dem Umsichgreifen konsumorientierter Lebenswelten genügend Anlässe, nicht nur in Ungarn.

Bis in den Herbst 2002 bestimmen gesundheitliche Probleme den Alltag, vor allem die Mühe, die schwindenden Kräfte des Körpers persönlich anzunehmen, mit der neuen Situation umzugehen. Die Krisen des Alters sind lebensbedrohend wie Auschwitz. Der Parkinsonkranke plagt sich im ungewohnten Umgang mit dem neuen Laptop, den er ohne Faszination für technische Neuheiten und fern von Anglizismen eine elektronische Schreibmaschine nennt. Alter und gesundheitlicher Verfall empfindet er als tiefe Demütigung und Würdelosigkeit. Neben den Ereignissen vom 11. September 2001 erscheint ihm der kurz zuvor diagnostizierte Ausbruch einer Lymphdrüsenkrebserkrankung bei seiner Frau Magda als gleichberechtigte Katastrophe. Die Lektüre von Weltliteratur, von Camus, Nietzsche, Kafka, Miłosz und vielen Anderen begleitet ihn und seine Gedanken. Daneben ringt er um Form und Inhalt eines neuen Werks mit wiederum autobiografischen Zügen.

Nichts von diesem Lebensumfeld ändert sich nach der Ankündigung, dass ihm im Dezember 2002 in Stockholm der Literaturnobelpreis überreicht werde. Und doch ist alles ganz anders. Freilich gehören materielle Sorgen der Vergangenheit an. Doch für einen, dessen preiswürdiges literarisches Werk auch und vor allem der Shoah geschuldet ist, rückt gerade dieser Lebensabschnitt ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Marcel Reich-Ranicki, den er als "Haus-Clown" und "Haus-Juden" der Literaturkritik bezeichnet (Seite 154), nimmt gegen ihn Stellung. Was ist die politisch korrekte Verhaltensweise eines Auschwitzüberlebenden? Am Silvestertag 2002, genau ein Jahr nach Beginn der Tagebuchaufzeichnungen und nur drei Wochen nach der Verleihung des Nobelpreises, notiert er, dass die Schuljugend der südungarischen Kleinstadt Hódmezővásárhely die vom ungarischen Staat verteilten Exemplare des "Romans eines Schicksallosen" demonstrativ zerreißt und als Judenliteratur auf die Straße streut. 1975, nach der Veröffentlichung in einem staatlichen Verlag, wurde das Buch in Ungarn zunächst totgeschwiegen ... Den Jahreswechsel verbringt er allerdings in einem Luxushotel auf Madeira - und empfindet die Situation als höchst absurd. Fast kafkaesk.

"Die Zeiten geraten durcheinander", schreibt er am 17. Jänner 2003. Nicht nur die Zeiten. Er, dessen physische Existenz als jüdischer Jugendlicher keinesfalls sicher war, schrieb als Überlebender ein preiswürdiges Werk über diese existenzielle Katastrophe. Die darob verliehene Auszeichnung, die zunehmende Entfremdung im literarischen Ruhm, lässt ihn ein neues Werk schreiben und als Fragment ins Tagebuch, in die Selbstdokumentation, stellen, "Die letzte Einkehr". "Den Weg zu Ende gehen, im wortwörtlichen Sinn." (Seite 189) Wiederum stellt sich der Text als literarisch bearbeitete Biografie in die Vorstellungswelt der Leser, ohne Erklärung, ohne Philosophie, also ohne all das, was wie selbstverständlich von einem Nobelpreisträger in Reden, Essays und Diskussionsbeiträgen erwartet wird.

Danach, in den Aufzeichnungen der Jahre 2004 bis 2009, wendet sich der Text zunehmend und vornehmlich der Klage, oft auch Anklage, zu, stellt das Leben, das Überleben und den Preis dafür, später auch das Schreiben in Frage. Zwischen Alterssymptomen und Reisen zu Ehrungen sowie noblen Begegnungen mit Intellektuellen oder solchen, die sich dafür halten, haben immer weniger Reflexionen Platz, werden nur noch angedeutet und erfahren für Leser oft nur aus der Lektüre der früheren Tagebucheinträge Sinn. Die letzten zwei Seiten, das so genannte Exit-Tagebuch, handelt vom Abgang, den letzten Dingen und der Überflüssigkeit des eigenen Lebens: "Ich hatte immer ein heimliches Leben, und immer war das das wahre."

Am 29. Juli 2009 schließt Imre Kertész sein fast lebenslanges, mehr als fünfzigjähriges Tagebuch-Schreiben ab. Diese so faszinierenden Aufzeichnungen waren ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Dem Großen, der weder jüdischer noch ungarischer Schriftsteller sein will, ist ein verstörendes Vermächtnis des eigenen Lebens und Schreibens gelungen.

(Wolfgang Moser; 11/2013)


Imre Kertész: "Letzte Einkehr. Tagebücher 2001-2009"
Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm.
Rowohlt, 2013. 464 Seiten.
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Imre Kertész starb Ende März 2016 nach langer Krankheit in Budapest.

Noch ein Lektüretipp:

Anna Mitgutsch: "Die Welt, die Rätsel bleibt"

Essays über Elias Canetti, Paul Celan, Emily Dickinson, Franz Kafka, Imre Kertész, Herman Melville, Amos Oz, Sylvia Plath, Rainer Maria Rilke u.v.A.
Wo der Sprache die Worte fehlen, da beginnt die Literatur.
Der Literatur ist die Sehnsucht nach dem Unsagbaren und der Grenzgang zwischen Sprache und Schweigen nicht auszutreiben. Ihre besten und bleibenden Werke wissen um die Grenze des Sagbaren und nähern sich doch mit Vehemenz immer wieder den Mysterien des Lebens. Wie Literatur das tut, dem versucht Anna Mitgutsch in diesem Band nachzugehen. Ihre Essays reichen von der Bedeutung des Horizonts und des Schweigens in der Kunst über den Zivilisationsbruch der Shoah bis zu den Themen Heimat und Fremde, Exil und Emigration, Freiheit und Macht. Sie berühren Literatur ebenso wie Philosophie und Religion. (Luchterhand Literaturverlag)
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