Rainer Maria Rilke: "Briefe an Hertha Koenig 1914-1921"

Herausgegeben von Theo Neteler


"Alle diese Wochen lag eine solche Last des Unglücks und der Sorge über mir, ich war in solche Niederungen meines Gemüths geraten, dass es rein ungangbar war."
(Rainer Maria Rilke an Hertha Koenig, München, 25. Juli 1918)

Der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Hertha Koenig fand zu einem beträchtlichen Teil während des Ersten Weltkriegs statt. Rilke litt stark an seinem Militärdienst, aus dem er aus Rücksicht auf seine Gesundheit und durch die Fürsprache von Freunden wieder entlassen wurde. Hernach hatte er mit einer Schreibblockade zu kämpfen und verzweifelte immer mehr.

Hertha Koenig lernte der zu diesem Zeitpunkt schon arrivierte Autor im Jahre 1910 kennen. Er war 34 Jahre alt, seine spätere Briefpartnerin zählte 25 Jahre. Es entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung, die aus wechselseitigem Geben und Nehmen bestand. So ermöglichte ihm Hertha Koenig einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in ihrer Wohnung im Sommer 1915 (München, Widenmayerstraße 32). Von Ende Juli bis Anfang Oktober 1917 verweilte Rilke auf Gut Böckel, das in Familienbesitz der Koenigs war, und welches Hertha Koenig ab 1927 als Verwalterin übernahm. Zudem leistete sie ihm finanziellen Beistand. Rilke seinerseits unterstützte Hertha Koenig in ihrer literarischen Arbeit.

In all den Jahren intensiver Brieffreundschaft wurde nie auf das förmliche "Sie" verzichtet. Ob es sich um ein Vertrauensverhältnis höherer Natur handelte, kann nur gemutmaßt werden. Leider sind die Briefe von Hertha Koenig an Rainer Maria Rilke nicht erhalten. Aus den Briefen von Rilke geht aber nicht nur der leidende Mensch hervor. Er drückt immer wieder seine Hochachtung für seine Briefpartnerin aus, lobt ihre besondere Güte. Seine literarischen Vorlieben schimmern hervor, mehr aber noch seine Sympathie für Picasso. Diese Sympathie teilt er mit Hertha Koenig. In vielen Briefen bekommt Picasso einen Ehrenplatz.

Können Briefe literarische Bedeutung haben? Der Rezensent ist davon überzeugt. Ich verweise nur auf den einzigartigen "Brief an den Vater" von Franz Kafka oder den Briefwechsel zwischen Dostojewski und seiner Frau Anna. Briefe können sehr intim sein und vermögen sehr viel über die Schreiber mitzuteilen. Wenn Sie einen Brief lesen, dann scheint es so, als wären Sie direkt angesprochen, nicht wahr?! Der Brief muss gar nicht an Sie gerichtet sein. Es reicht schon die Tatsache, dass Sie besonders vertrauliche Worte lesen. Kafka schrieb an seinen Vater, und wir mögen das Verhältnis zwischen den beiden buchstäblich spüren. Die Berichte Dostojewskis über seine Kuraufenthalte, welche er seiner Frau in Briefform übermittelte, geben soviel Neues über den genialen russischen Autor bekannt, dass es ein wahrer Genuss ist, ein Zeuge dieser besonderen Worte zu sein.

Kurzum: Mit Rilke und seinen Briefen an Hertha Koenig verhält es sich ebenso. Leid, innere Zerrissenheit, Freude an den Künsten, Zerstreutheit, Einsamkeit, Zerstreuung und Anteilnahme am Tode guter Freunde ergeben ein Konglomerat von persönlichen Aspekten, welche dem Leser den Autor Rainer Maria Rilke vielleicht näher bringen, als dies durch seine literarischen Werke möglich ist.

(Jürgen Heimlich; 11/2009)


Rainer Maria Rilke: "Briefe an Hertha Koenig 1914-1921"
Herausgegeben von Theo Neteler.
Pendragon, 2009. 192 Seiten.
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Herausgegeben und mit einem Kommentar versehen von Hella Sieber-Rilke.
Aus dem Korpus der Briefe an die Mutter wurden bisher lediglich 29 Briefe publiziert; mehr als 1200 Briefe werden in diesen Bänden zum erstenmal der Öffentlichkeit vorgelegt. Sie gewähren bemerkenswerte Einblicke in den Alltag des Dichters, beleuchten seine Vorlieben und Sorgen. Aber auch das komplizierte Verhältnis zu seiner Mutter wird in ein völlig neues Licht gerückt.
Am 4. Dezember 1896 feiert Rilke seinen 21. Geburtstag. Am Tag darauf schickt er seiner Mutter den gerade erschienenen Gedichtband "Traumgekrönt", dem er am 8. Dezember einen Dankesbrief für die Geburtstagssendung folgen lässt: "Ich bin in der Zeit meines Fernseins um zwei Körperjahre, geistig wohl um 10 älter geworden." Die Zäsur, die Rilke hier anspricht und für die das Datum der Volljährigkeit steht, spiegelt sich auch, nach einer Pause von drei Jahren, im Wiedereinsetzen der Korrespondenz mit der Mutter, die bis kurz vor Rilkes Tod im Dezember 1926 nicht mehr abreißt.
Die Beziehung Rilkes zu seiner Mutter ist von ihm selbst und von seinen Biografen stets als prägend erkannt, zum Teil aber auch verzeichnet worden. Die Briefe an die Mutter verschaffen endlich Klarheit: Ob Rilke die Mutter bei ihrer Lektüre und ihren Reisevorhaben berät oder von seiner Tochter Ruth erzählt, ob er sie teilhaben lässt an seinem eigenen unsteten Leben, indem er detailliert Auskunft gibt über die Orte, an denen er sich aufhält - immer entsteht das Bild eines warmherzig liebenden Sohnes, der sich aufrichtig um ihr Wohlergehen sorgt. (Insel)
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Eine ungewöhnliche Frau kämpft um ihren Platz in der Kunst.
Clara Rilke-Westhoff (1878-1954), Tochter aus Bremer Kaufmannsfamilie, war eine der Vorreiterinnen der Frauen in der Kunst. Wie ihre Weggefährtin Paula Modersohn-Becker brach sie mit den Konventionen ihrer Zeit und wählte eine Domäne, die bis dahin vor allem Männern vorbehalten war: die Bildhauerei. Sie geht nach München - um 1900 neben Paris die führende Kunststadt Europas - dann in die Künstlerkolonie Worpswede, arbeitet bei Max Klinger und wird Schülerin Auguste Rodins. Zurück in Worpswede begegnet sie Rainer Maria Rilke. 1901 heiraten die beiden. Zeitlebens leidet die Künstlerin unter dem Spannungsverhältnis ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter und ihrem künstlerischen Schaffen. Heute stehen ihre Skulpturen Seite an Seite mit den Werken Rodins im Pariser Musée d'Orsay. (btb)
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