Bernd Neumann: "Franz Kafka. Gesellschaftskrieger"

Eine Biografie


Hauptstücke über Kafka

Ganz ehrlich: als man die "Kafka-rororo-Monographie" von Klaus Wagenbach (1964) in Händen hatte, glaubte man da nicht, man sei genügend und seriös informiert?! Und dann gab es schließlich das Interpretationsbuch von Oliver Jahraus bei Reclam (2006) sowie Harald Salfellners quasi geografische Einordnung 'Franz Kafka und Prag' (2002) - und nun also auf ein Neues?! Ein mittelprächtig interessierter Leser könnte sich durchaus fragen, weswegen er alle paar Jahre ein anderes Buch über denselben Autor lesen solle. Also gilt es hier, den Erkenntnisfortschritt und die Berechtigung der massiven Detaillierung zu erforschen. Nun wird uns also ein "völlig neuer Kafka" versprochen, der als "überzeugter Beamter seiner Prager Behörde an der Verbesserung der Donaumonarchie intensiv mitgearbeitet hat, was in sämtlichen bisherigen Biografien nicht ins rechte Licht gestellt wurde" (vgl. Klappentext). Überdies "gerät Prag als die städtische Matrix von Kafkas Werk ausführlich ins Bild" (ebd.). Das Buch ist in acht sogenannte 'Hauptstücke' eingeteilt, wobei im Vorwort Kafka in der globalen Popularität mit Goethe verglichen wird.

Wie kommt es nun zu diesem voluminösen Arbeitsnachweis?! Neumann schwelgt in melodramatischer Manier in beängstigend zahllosen Details und behauptet ganz harmlos: "Um soziale Energien, um aktuelle Geistesströmungen, aber auch um im strengen Sinn des Wortes biografische Zusammenhänge geht es." In diesem Satz Neumanns müsste uns eben die Formulierung "aber auch um im strengen Sinn" stutzig machen - denn worum sollte es in einer Biographie sonst gehen?! Dann beginnen wir zu überlegen, wie viele biografische Ausuferungen denn wirklich nötig sind, um das Werk Kafkas verstehen zu können (zu dürfen?)?! Kafka notierte einmal: "Mein Leben lang bin ich gestorben (...) Mein Leben war süßer als das der anderen, mein Tod wird umso schrecklicher sein." Kafka gilt Neumann als "Märtyrer einer Moderne, die nicht mehr schön sein konnte" - und er möchte vermuten, dass aus dem 'Schloß'-Roman Wagners "Parsival" und seine Gralssuche "herübergrüßen".

Interessant klingt, dass Kafkas Romane "auf dem Hintergrund ihrer Deutung durch Hannah Arendt historisch-biografisch verstanden werden" können. Und seit Klaus Wagenbachs Arbeiten "besitzt die Bedeutung Prags als einer Sprachinsel ihre Wichtigkeit für das Verständnis von Kafkas Leben und Werk." Allerdings hat sich Franz Werfels Vermutung, dass kein Mensch außerhalb Prags Kafka überhaupt verstehen werde, inzwischen "als eine Art Jahrhundertirrtum erledigt." Neumann möchte vermuten, dass das Bedrohliche der Stadt Prag weniger in Kafkas Texten zu finden sei, als wohl durch Gustav Meyrinks expresionistischen Esoterik-Thriller 'Der Golem' evoziert wurde. Immerhin verwies Kafka in seinen Briefen immer wieder darauf, "dass er bereits als Schüler suizidgefährdet gewesen sei." Eigenartig mag erscheinen, dass er sich auch schon als Schüler mit Nietzsche beschäftigte und in der Zeit vor seinem Tod mit Wagner. Hierin unterschied er sich allerdings kaum von Thomas Mann, Robert Musil oder Frank Wedekind. Im übrigen liebte Kafka Grillparzers 'Armen Spielmann' lebenslang "als eine Art selbstbiografischen Identifikationstext."

Kafka gilt als "d e r  Asket der modernen Literatur", der seine Nächte "mit nichts als Schreiben" verbrachte. Allerdings genoss er durchaus etliche frühe Jahre das Prager Nachtleben und die Caféhausszene. Auch war er Bordellbesuchen nicht abgeneigt. In mehrfacher Hinsicht, was etwa das Schreiben und den Staatsdienst anbetraf, bezeichnete Kafka Kleist als seinen "Blutsbruder". Überdies wollte er ein "deutsch schreibender Schriftsteller in der Goethenachfolge" sein. Weiter sagt Neumann: "Dass Kafka keinen Dichter so wie Goethe verehrte, ist bekannt. Dass er ihm erotisch nachzustreben versuchte beim Besuch des Goethe-Hauses in Weimar, ebenfalls. Kafka schrieb spontan, planlos, inspiriert von Tagträumen, in einem Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachsein, an der "Grenze zwischen Klarheit und Diffusion." Dieses Schreiben wie in Trance erlebt er als "elendes Glück".

Es mag überraschen oder auch nicht: Kafkas Parabel 'Vor dem Gesetz' stellt innerhalb der Weltliteratur "einen der am meisten interpretierten Texte" dar. Neben diesem großen Thema der Gerechtigkeit beschäftigten Kafka im praktischen Leben die Fragen der Liebe und des Glaubens sowie der Zwiespalt, der taumelnden Donaumonarchie "als tapferer Soldat beizustehen." Nach seinem Tagebucheintrag vom 5. Juli 1916 plagen ihn "Wollust, Feigheit, Eitelkeit". Durch sein Schreiben fühlt er sich nur "in eisige Kälte entrückt". Nach 1917 muss man von einer Art "Autopoiesis" als besonderem Kennzeichen des Kafkaschen Schreibens sprechen. In der gesamten Sekundärliteratur herrscht Einigkeit darüber, dass kein anderer Schriftsteller soviel Einfluss auf Kafka ausgeübt hat wie Goethe. Als eine wesentliche Maxime schält Neumann Kafkas Tagebuch-Eintrag vom 8 Juli 1913 heraus: "Haß gegenüber aktiver Selbstbeobachtung ... sich ruhig ertragen, ohne voreilig zu sein, so leben, wie man muß." Dieses "muss" verlangte freilich nach Kriterien. Für Kafka war alle Literatur ein "Ansturm gegen die Grenze" (16.1.1922). Dabei orientierte er sich in seinem Leben und in seinem Schreiben immer mehr am "Selektieren". Problematisch erscheint dabei sein Verhältnis zu den Frauen und auch zum Judentum. Neumann spricht von einer "leeren Transzendenz" - Kafka selbst formulierte: "Es ist die Freiheit des unbeweibten, nächtlichen Lustschreibers, ein kümmerliches Gewächs, aber immerhin Freiheit." Später noch bekennt Kafka, den psychotische Ängste quälen: "Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn ... für Teufelsdienst." Neumann sieht hierin den Goetheschen Konflikt: Gott und Teufel "in einem einzigen Leib gebunden."

Aufgrund seiner ungeheuerlichen Detailfülle könnte man Neumanns Buch nun als Summe aller möglichen Kafka-Biografien interpretieren - es ist allerdings zu befürchten, dass es weitere dickleibige Kafka-Exegesen geben wird, ohne dass man endlich bestimmte Erkenntnisse anerkennt. Denn spätestens nach diesem Buch hat man den Eindruck, dass es auch den vielen "Interpreten" und "Biografen" eher um ihr "manisches" Schreiben geht, welches übrigens Neumann auch Kafka attestiert. Der Rezensent steigt hier aus, ehe er manisch-depressiv wird.

(KS; 12/2008)


Bernd Neumann: "Franz Kafka. Gesellschaftskrieger. Eine Biografie"
Wilhelm Fink Verlag, 2008. 662 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Bernd Auerochs, Manfred Engel (Hrsg.): "Kafka-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung"

Der wirkungsmächtigste deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Franz Kafkas Werk gilt bis heute als Musterfall der ästhetischen Moderne. Das Handbuch präsentiert die Kontexte, in denen Kafka stand und stellt sein Leben sowie die wichtigsten Werke, Fragmente, Tagebücher und Briefe vor. Dabei wird deutlich, welchen Einfluss z. B. der Prager Kreis, Judentum/Zionismus, Philosophie, Psychoanalyse, Film und Fotografie auf Kafkas Texte hatten. Besonderer Wert wird erstmals auf die Entwicklungsgeschichte des Kafka'schen Werkes gelegt. (J.B. Metzler Verlag)
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