Saul Friedländer: "Franz Kafka"


Eine nahezu perfekte Einführung in die obskure Welt Kafkas

Saul Friedländer, Historiker und Schriftsteller von Weltrang, Erforscher und literarischer Aufarbeiter des Holocaust, der am 11. Oktober 2012 sein achtzigstes Lebensjahr vollendet hat, ist schon mit zahlreichen Preisen dekoriert worden, u. A. mit dem "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels", dem "Pulitzer Preis" und mit dem "Preis der Leipziger Buchmesse". Und preisverdächtig erscheint dem Rezensenten auch Friedländers vorliegende Kafka-Biografie, wo er mit teilweise neuen Denkansätzen punkten kann. Friedländer beschert uns eine Biografie von geringer Seitenzahl aber von starkem Kaliber. Saul Friedländers Aufzeichnungen zählen, so möchte man meinen, zum Besten, was je über Franz Kafka geschrieben wurde. Das Buch hält nicht nur, was der Klappentext verspricht, es geht vielfach noch darüber hinaus. Dort im Klappentext heißt es: "Sein (Friedländers) Auge sieht manches, was selbst Jahrzehnte der Kafka-Forschung nicht wahrgenommen haben", oder: "... porträtiert er Franz Kafka als Dichter der Scham und der Schuld - und führt zugleich meisterhaft ein in dessen Leben und Werk." Letzteres kann man kann man bedenkenlos unterstreichen, aber wessen könnte sich Kafka schuldig gemacht haben? Wir kommen später darauf zurück.

Es lassen sich eindeutige Parallelen zwischen Saul Friedländer und Franz Kafka aufzeigen, nicht nur, dass beide jüdischer Abkunft sind und aus Prag stammen, auch Anderes ist ihnen gemeinsam. Dazu ist Saul Friedländer Zeit seines Lebens ein begeisterter Kafka-Leser gewesen, der sich intensiv mit dessen Werk auseinandergesetzt hat. Doch seine unverhohlene Sympathie für Kafka versperrt ihm gottlob nicht den Blick auf die Schwächen des geschätzten Autors. Ganz im Gegensatz zu Max Brod, Kafkas erstem Biografen, literarischem Nachlassverwalter und langjährigem Freund, der Kafka am liebsten mit einem Heiligenschein versehen hätte. Brods Darstellungen stehen sogar oft im Widerspruch zu Kafkas Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern, die von Brod vor der Herausgabe wohl systematisch zensiert worden waren.

In einem Brief an eine Freundin bekannte Kafka einmal: "Schmutzig bin ich, Milena, endlos schmutzig, darum mache ich ein solches Geschrei mit der Reinheit." Friedländer vermutet hinter diesem Eingeständnis Schuldgefühle in Zusammenhang mit sexuellen Fantasien und zwar nicht in erster Linie Kafkas homoerotische Neigungen, nein, Friedländer hegt die Vermutung, dass er sich sexuell zu Jugendlichen und Kindern hingezogen fühlte. War Franz Kafka ein Pädophiler, und fühlte er sich deswegen schmutzig und schuldig?

In sechs überzeugenden Kapiteln geht Saul Friedländer dieser sowie anderen Fragen nach. Und die Fragezeichen, die Kafkas Texte nun einmal aufwerfen, schießen in den Romanen und Erzählungen des Autors ja beinahe wie Pilze aus dem Boden. Diesen enigmatischen Kafka ein wenig transparenter zu machen, ist Saul Friedländers Anliegen. Dabei gelangt er und mit ihm der Leser in Tiefen, die man in ihrer Unermesslichkeit nur erahnen, niemals aber ausschöpfen kann.

Kafkas Kindheit und Adoleszenz, was die rein biografischen Daten derselben angeht, werden in einem kurzen Abriss im ersten Kapitel abgehandelt. Kafkas schwieriges Verhältnis zum Vater steht hier im Vordergrund, bezeichnenderweise trägt dieses Kapitel denn auch die Überschrift "Der Sohn". Kafkas Schreiben beinhaltete immer auch die Auseinandersetzung mit seinem Vater. In mehreren Erzählungen Kafkas wie beispielsweise in "Das Urteil", in seiner bekanntesten Erzählung "Die Verwandlung" oder auch "In der Strafkolonie" werden die Söhne vom Vater in den Tod getrieben.

Das zweite Kapitel, überschrieben mit "Der dunkle Komplex des allgemeinen Judentums", handelt von Kafkas ambivalentem Verhältnis zum jüdischen Glauben. Im Gegensatz zu Max Brod und einigen anderen Interpreten vermag Saul Friedländer jedoch keine oder kaum Hinweise in Kafkas Texten auszumachen, die eine tiefere jüdisch-religiöse Bedeutung haben könnten.

Liebe, Sex und Fantasien sind die großen Themen des dritten Kapitels. Friedländer bezeichnet Kafkas sexuelle Präferenzen als "recht polymorph und somit in vieler Hinsicht durchaus individuell geprägt." Sein eigentümliches Verhältnis zu Frauen findet seinen Niederschlag in vielen Texten, in denen Frauen als geradezu gefährliche Wesen dargestellt werden. Nicht allein für Frauen hegte Kafka erotische Empfindungen, auch für eine Anzahl männlicher Freunde wie Oskar Pollak oder Franz Werfel, was aus Kafkas eigenen Aufzeichnungen zweifelsfrei hervorgeht. Und dann waren da noch die von Saul Friedländer ausgemachten und bereits erwähnten pädophilen Neigungen. Saul Friedländer: "Die Gesellschaft kleiner Mädchen war anscheinend ebenso willkommen wie die von kleinen Jungen." Hinzu kamen noch sadomasochistische Fantasien Kafkas, die schon von früheren Biografen erkannt worden waren.

Kapitel 4 "Nachtfahrt" beinhaltet eine psychologisch fundierte Analyse von Kafkas Erzählung "Ein Landarzt". Zusammengefasst in Friedländers eigenen Worten: "Tatsächlich ist die Geschichte selbst ungeachtet aller Exegese immer noch ein Rätsel. Doch dieser kurze Text, eine der vollendetsten Schöpfungen Kafkas, spricht indirekt einige der bedeutendsten Probleme an, auf die er immer wieder zurückkam: einen beschämenden Mangel an Gefühlen und moralischer Verantwortlichkeit, eine verwirrte und verwirrende Sexualität, die Ungreifbarkeit der Wahrheit und vor allem das Böse in der Welt und von der Welt."

In Kapitel 5 "Der Dichter und seine Welten" geht es dann um Kafkas Umwelt, Freundeskreis et cetera. Da wäre natürlich zunächst einmal seine Beziehung zu Max Brod zu nennen, dann die von Brod als "Prager Kreis" bezeichnete Gruppe gleichgesinnter Schriftsteller und Künstler. Des Weiteren beleuchtet Friedländer Kafkas Einstellung zum Gnostizismus und Okkultismus sowie den Einfluss, den Kierkegaard auf den Dichter ausgeübt hat. Wir erfahren, dass Franz Kafka stark hypochondrische Züge hatte, allen voran seine Geräuschempfindlichkeit, was sich natürlich auf die Wahrnehmung seiner Umwelt entscheidend ausgewirkt hat.

Das Schlusskapitel "Eine letzte Suche nach Sinn" versucht noch einmal, Kafkas Weltanschauung auf den Punkt zu bringen. Hier zeigt Saul Friedländer dann Verweise auf, dass Kafka in seinen Texten immer wieder die Begrenztheit und Unzulänglichkeit des menschlichen Verstandes betont, ein Verstand, der einfach nicht in der Lage ist, gewisse Dimensionen des Daseins zu begreifen. Und so muss er sich - wie die Protagonisten in Kafkas Werken - einer Autorität unterwerfen, die er nicht identifizieren und der er auch nicht trotzen kann.

Friedländers Kafka-Buch ist eine hervorragende Einführung in die enigmatische Welt Kafkas, lesenswert aber auch für diejenigen, die sich schon eingehender mit diesem Autor auseinandergesetzt haben. Ein strahlend heller Komet am trüben Himmel des Bücherherbstes 2012.

(Werner Fletcher; 10/2012)


Saul Friedländer: "Franz Kafka"
Übersetzt von Martin Pfeiffer.
C.H. Beck, 2012. 252 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Pius XII. und das Dritte Reich. Eine Dokumentation"

Das Pontifikat Pius' XII. ist bis heute umstritten wie kein anderes im 20. Jahrhundert. Hatte der Papst plausible Gründe, sich in seinen Äußerungen zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zurückzuhalten, oder hat er moralisch versagt? Gab es einen latenten Antisemitismus im Vatikan? Warum hat der "Stellvertreter" selbst die Deportation der Juden Roms widerspruchslos hingenommen, während er andererseits zahlreichen Juden heimlich Hilfe zukommen ließ? Dem Streit der Meinungen hat Saul Friedländer eine historische Dokumentation entgegengesetzt, die bis heute nichts von ihrer Brisanz eingebüßt hat. Sie versammelt die wichtigsten Quellen und bietet eine unverzichtbare Grundlage für jeden, der sich über die Rolle der katholischen Kirche während der NS-Zeit selbst ein Urteil bilden will. Ein aktuelles Nachwort des Friedenspreisträgers erläutert die Kontroverse um Pius XII. im Spiegel der neueren Forschung. (C.H. Beck)
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"Wenn die Erinnerung kommt"
Der Autor, 1932 in Prag als Kind deutschsprachiger Juden geboren, berichtet, wie die Familie nach dem Einmarsch der Deutschen nach Frankreich flüchtete, und - als das Leben dort immer bedrohlicher wurde - wie er unter falschem Namen in ein katholisches Internat gebracht wurde. Seine Eltern kamen um, er selbst wurde gerettet - als vermeintlicher Katholik. Doch dann, als er sich in Paris auf das Abitur vorbereitet, holt ihn die Vergangenheit ein. In einem langwierigen Prozess wendet er sich dem Judentum zu. 1948 wandert er nach Israel aus. (C.H. Beck)
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Weitere Lektüretipps:

Astrid Dehe, Achim Engstler: "Kafkas komische Seiten"

Kafkas Lachanfälle waren legendär. Sie störten seine eigenen Lesungen, brachten ihn bei seiner Beamtentätigkeit in Schwierigkeiten, und selbst beim Pessachfest mit der Familie wurde er von Lachkrämpfen geschüttelt.
Dass Kafka auch Andere erheitern wollte, daran besteht kein Zweifel. Schon seine Freunde Max Brod und Felix Weltsch haben darauf hingewiesen. Dennoch dominierten bisher Lesarten, die mit Kafka die tödlichen Folgen einer Diktatur zu begreifen oder eine lebensfeindliche Philosophie zu illustrieren suchten. Man las die Kafka-Bände so nachtschwarz, wie sie eingebunden waren. Dagegen ist nichts zu sagen - jede Zeit hat ihren Kafka. Nur hat keine den ganzen.
Kafka bleibt Kafka, ein ruheloser, zwanghaft scheiternder Mensch, ein Schriftsteller, zu dessen Kosmos Folter- und Suizidfantasien gehören, Parabeln unendlicher Suche und Maschinen, die durch Schrift töten.
Astrid Dehe und Achim Engstler haben jedoch die zahlreichen komischen Textstellen in seinem Werk gesammelt. Ihre klugen und unterhaltsamen Essays machen es möglich, Kafka ganz neu zu entdecken. (Steidl)
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Gernot Wimmer (Hrsg.): "Franz Kafka zwischen Judentum und Christentum"
Als Anlassfall des biografisch inspirierten Erzählens zeigt sich, neben dem wirkungsästhetischen Standardbekenntnis zur Authentizität, oftmals eine besondere lebensgeschichtliche Konstellation - und hiermit nicht selten eine soziologische Bestimmbarkeit. Da in der Forschung bereits der genaue Umriss der kulturellen Kontur umstritten ist, die sich an der Person Franz Kafka abzeichnet, verwundert es nicht, dass diese ohnehin antithetische Sachlage mit der Werkdeutung noch eine Komplizierung erfuhr. Immerhin bestand zumindest die gemeinsame Grundüberzeugung, dass es sich um eine Prosa handelt, die bereits im Fall eines nicht exegetischen Lesers eine biografische Dimension erahnen lässt und bei der ein in wissenschaftlicher Absicht Lesender sich schließlich unübersehbaren Parallelen zwischen Leben und Werk gegenübersieht.
In der ersten Sektion dieses Bandes wird mit dem Ziel, die kulturellen Umrisse neu zu vermessen, die zwischen jüdischer und christlicher Kultur angesiedelte Position in den Blick genommen, die Kafka selbst- und fremdbestimmt besetzte. Die abschließende Sektion ist einer umfänglichen Werkdeutung gewidmet, die sich durch mitunter methodisch konträre Beiträge zur kulturellen Zwischenstellung vollzieht. Eine Mittlerfunktion nimmt ein dritter, theologisch orientierter Abschnitt ein: in Entsprechung zur metaphysischen Relevanz, von der oftmals die auf Leben und Schaffen bezogene Rede geht. (Königshausen & Neumann)

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Gerhard Neumann: "Kafka-Lektüren"
Die Kafka-Forschung ist ein seit Jahrzehnten fortwährend beachtetes Forschungsfeld, und Gerhard Neumann ist ihr prominentester Vertreter. Das vorliegende Buch dokumentiert die Ergebnisse seiner Forschung, die aus einer mehr als vierzigjährigen Auseinandersetzung mit Franz Kafkas Werk erwachsen ist.
Eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur wird dabei in doppelter Weise erschlossen: durch Lektüren thematischer wie editorischer Zusammenhänge. Denn der Verfasser, Mitherausgeber der kritischen Kafka-Ausgabe, argumentiert als Hermeneut und als Editor zugleich. Durch den hier vorgelegten Band werden die Resultate einer dichten Lektüre von Kafkas Werk der Literaturwissenschaft kompendienartig zugänglich gemacht und nach thematischen Leitbegriffen gebündelt: Leben - Schreiben - Anthropologie - Kunst - Medialitäten. (De Gruyter)

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Malte Kleinwort: "Der späte Kafka. Spätstil als Stilsuspension"
Welche Besonderheiten kennzeichnen die Texte des späten Kafka?
Erstaunlicherweise hat sich die Forschung mit dieser Frage kaum beschäftigt, obwohl eine Antwort darauf viel zum Verständnis Kafkas beitragen kann.
Malte Kleinwort nähert sich bei der Untersuchung der Charakteristika des späten Kafka den Texten aus verschiedenen Richtungen. Es werden Befunde aus der Handschriftenlektüre analysiert, aber auch generelle Fragen zur Möglichkeit eines Spätstils oder Spätwerks erörtert. Darüber hinaus behandelt Kleinwort in der Studie aktuelle diskurstheoretische Diskussionen zur Bedeutung von Kafkas Tätigkeit bei der Prager Arbeiter- und Unfallversicherungsanstalt. Anhand der im Verlauf der Untersuchung aufgezeigten Verschiebungen und Differenzen zwischen früheren und späteren Texten können neue Ansichten von Kafkas Werk gewonnen werden. (Wilhelm Fink)

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