Thomas Fuchs: "Unter Freunden"
Das
Internat Hausenthal ist eine von Thomas Fuchs erfundene Lehranstalt,
zwischen Kassel und Bad Hersfeld gelegen. Das ursprünglich
alte landwirtschaftliche Gut wurde umgebaut und wird seit vielen Jahren
von einem Pädagogen namens Liebig in strengem Regime
geführt. Kilometerweit entfernt von der nächsten
menschlichen Behausung sollen die Kinder von Reichen und Schwerreichen,
die im regulären Schulbetrieb abgestürzt sind,
abgeschirmt von der Außenwelt in einem durchorganisierten
Programm zum Realschulabschluss geführt werden. Die
Gründe, warum die Jugendlichen hierher gekommen sind, meistens
nicht gerade freiwillig, sind vielfältig. Aber
darüber wird nicht gesprochen. Außer dem betroffenen
Schüler kennt nur der Schulleiter die ganze Geschichte.
Und wie das so ist in abgeschlossenen Systemen mit geringem Kontakt zur
Außenwelt, entwickelt sich in diesem Internat ein Kosmos ganz
eigener Art. Dazu kommt, dass hier Jugendliche zusammen leben, die,
jeder auf seine Art, die Erfahrung gemacht haben, Verlierer zu sein.
Hausenthal ist für jeden von ihnen die allerletzte Chance. Und
jeder weiß das. Dieser Druck, der auf den Schülern
lastet, macht das ganz Spezifische an der Gruppendynamik dieser Schule
aus, die Thomas Fuchs in seinem neuen Jugendroman perfekt eingefangen
hat. Denn die Jugendlichen suchen natürlich nach Beziehungen,
besonders in dieser kasernierten Umgebung, doch sie tun es vorsichtig,
als "gebrannte" Kinder.
Erzählt wird nun die Geschichte von Leo und Sara. Beide sind
am selben Tag in Hausenthal angekommen, und die beiden
Sechzehnjährigen verstehen sich von Anfang an. Fast bis zum
Ende des Buchs ist man nicht sicher, ob sich ihre vorsichtige, aber
sehr intensive Beziehung und ihr grenzenloses Vertrauen zueinander in
eine auch sexuelle Liebesbeziehung wandeln wird.
Leo und Sara jedenfalls blicken
sehr schnell durch in Hausenthal und entlarven die zahlreichen
Alias-Geschichten ihrer Mitbewohner als Ammenmärchen. Ein
Schüler jedoch scheint sich von allen anderen abzuheben. Er
heißt Greg
und ist ein Junge, der anderen zuhören kann, der, wenn er
andere in seinen Wohnbereich einlädt, einen perfekten
Gastgeber abgibt, einer jedenfalls, zu dem Leo schnell Vertrauen
entwickelt. Sara beobachtet das mit Sorge. Zum einen ist sie auf diese
aufkeimende Freundschaft zwischen den beiden Jungen
eifersüchtig, zum anderen entfaltet sich immer mehr das wahre,
hintergründige Wesen dieses charismatischen
Mitschülers. Durch genau diese vertrauenerweckende Art ist
Greg in den Besitz vieler großer und kleiner Geheimnisse
seiner Mitschüler gekommen und nutzt sie aus, indem er sie
alle in ein Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten einwebt.
Sogar seinen Wohnbereichslehrer hat er im Griff, nachdem er einen
anonymen Brief kursieren ließ, in dem dieser Lehrer der
sexuellen Belästigung von Mädchen beschuldigt wurde.
Und nun erzählt Thomas Fuchs spannend und auf hohem
psychologischen und soziologischen Niveau die Geschichte einer
Befreiung. Er erzählt mit Saras Worten nach, wie Sara und Leo
versuchen, sich vom Einfluss Gregs zu befreien. Dass sich Leo
zunächst dafür gänzlich unterwerfen muss,
erhöht die Spannung ungemein, und es bleibt bis ganz zum
Schluss offen, ob der mutige Plan gelingt.
Interessant für den 1954 geborenen Rezensenten war bei diesem
Buch, dass der Autor versucht, seinen jugendlichen Lesern einen Teil
der Geschichte der RAF nahe zu bringen. Greg hat nämlich
Fotoreproduktionen aus dem 1989 entstandenen Zyklus "18.Oktober 1977"
des Dresdner Künstlers Gerhard Richter an der Wand
hängen. Als Leo ihn darauf anspricht, erzählt Greg
mit leuchtenden Augen von Andreas
Baader wie von einem großen Idol. Er beschreibt
begeistert, wie ein in Stammheim in Isolierhaft sitzender Mann quasi
ein ganze Nation erpresst und erst recht seine Mitgefangenen so von
sich abhängig gemacht hat, dass sie sich alle auf seinen
Befehl hin am 18. Oktober 1977 in ihrer Zelle umbringen und damit
erneut das Land in große innere Konflikte stürzen,
weil natürlich die beabsichtigte Wirkung sofort eintritt:
viele, besonders linke Intellektuelle, sprechen von Mord durch den
Staatsschutz.
Die aktuelle Debatte um die Begnadigung von Christian Klar zeigt, wie
dieser Mythos der RAF, die ja nichts anderes war als eine
verbrecherische Terrororganisation, noch heute die
Öffentlichkeit spalten kann.
Dieser Versuch des Autors, Jugendlichen einen Teil
bundesrepublikanischer Geschichte, eingewoben in einen Romanstoff, nahe
zu bringen, ist lobenswert. Besser verständlich wäre
es allerdings für die jungen Leser, hätte Thomas
Fuchs am Ende des Buchs sowohl die Geschichte der RAF als auch von
Andreas Baader näher erläutert hätte und
wenn er den Künstler Gerhard Richter vorgestellt
hätte.
Jedoch ist unabhängig davon ein wunderbares und psychologisch
ausgefeiltes Buch entstanden, das man für Jugendliche beider
Geschlechter nur empfehlen kann.
(Winfried Stanzick; 02/2007)
Thomas
Fuchs: "Unter Freunden"
Thienemann Verlag, 2007. 268 Seiten. (Ab 13 J.)
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Thomas
Fuchs, 1964 in Kassel geboren, studierte Geschichte und Politik. Neben
Kinder- und Jugendbüchern schreibt er Hörspiele, auch
mit Kindern. Er moderiert Kindersendungen, arbeitet als Radiojournalist
und war bis 1999 Kinderfunkredakteur beim DeutschlandRadio Berlin".
Lien zu Thomas Fuchs' Netzseite: http://www.thomasfuchs.info
Leseprobe:
Leo sah mich müde an. "Aber wie gesagt, es geht im Grunde auch
gar nicht um dich. Und auch nicht um Ned. Es geht um mich. Entscheidend
war der Satz mit dem im Stich gelassenen Freund. Ich bin Greg in den
letzten Wochen aus dem Weg gegangen und jetzt hat er mir gezeigt, was
passiert, wenn man sich von ihm löst. Du bist für Ned
wichtig geworden, wichtiger als Greg, und er hat sich von ihm
abgewendet. Das nimmt jemand wie Greg nicht einfach so hin."
"Und deswegen schickt er Leute in den Knast?" Ich schüttelte
den Kopf. "Schwachsinn!"
"Sara, bitte glaube mir." Leo sah mich durchdringend an. "Soll ich dir
von Sven erzählen? Was meinst du, wer dafür
verantwortlich war, dass die damals den Bacardi bei ihm gefunden haben?
Greg. Dass Luca mich damals beim Crosslauf ausgebremst hat - Greg!"
"Woher weißt du das?", unterbrach ich ihn geschockt.
"Das mit Sven hat Greg mir selbst gesagt. Was hinter der Geschichte im
Wald steckt, weiß ich seit letzter Woche von Luca. War nicht
schwer. Etwas gedroht und er hat ausgepackt. Ich war seit Neds Abgang
recht aktiv. Und wenn man nur etwas an der Oberfläche kratzt
und die Augen aufmacht, dann kapiert man recht schnell: Greg hat hier
in Hausenthal die Fäden in der Hand. Warum, denkst du, ist
Marion vom Schülerparlament zurückgetreten? Warum hat
Marvin seine Koffer gepackt und ist weg? Glaubst du ernsthaft, dass er
schwul ist und hier gemobbt wurde? Sara, Marvin war bei uns in der
Klasse. Hat sich da irgendjemand an seinem Schwulsein gestört?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich könnte dir noch stundenlang weitere Beispiele
aufzählen. Hast du gewusst, dass Greg Geld verleiht? Eine
Menge Leute in Hausenthal haben bei ihm Schulden! Man kann
über ihn von Franka Einkäufe erledigen lassen. Greg
hat in Bad Hersfeld in einer Packstation ein Postfach. Sara, Greg
manipuliert die gesamte Schule. So sieht es aus."
"Kannst du das irgendwie beweisen?", gab ich zurück.
"Nein. Aber das muss ich auch nicht. Denn ich weiß genau, was
da abläuft. Weil er mich auch so manipuliert hat. Du und ich,
wir sind Teil von seinem Spiel."
"Wie, manipuliert?", fragte ich irritiert. "Ich dachte, du und Greg,
ihr seid total eng."
"Waren wir auch. Bis ich kapiert habe, was für ein Schwein der
Kerl ist. Der tickt nicht richtig. Greg spielt mit Menschen. Der will
alle kontrollieren. Und das macht mir Angst."
"Du spinnst!", entgegnete ich. "Warum sollte er?"
"Warum, weiß ich nicht. Noch nicht." Leo zuckte mit den
Schultern. "Aber Fakt ist, du musst aufpassen, du und ich, wir
müssen ganz, ganz vorsichtig sein. Wenn Greg was merkt, sind
wir auch dran. Dann passiert uns was Ähnliches wie Ned."
"Pah, ich kiffe nicht! Das damals im Wald war die Ausnahme."
"Es reicht, wenn sie was bei dir finden."
"Wieso sollten sie?"
"Weil es dir jemand untergejubelt hat."
Ich schwieg.
"Dass Ned gehen musste, war eine Warnung für mich. Greg ist
sauer auf mich, weil ich nicht mehr nur der Musiker sein will, den er
aus mir gemacht hat."
Ich schwieg weiter, wusste jedoch, dass er zumindest mit dieser Aussage
recht hatte.
"Ich habe mich wegen Greg verändert und, ehrlich gesagt, ich
gefalle mir nicht mehr."
"Hättest du mich gefragt, hätte ich dir das schon
früher sagen können."
"Das denke ich mir."
"Und nun?"
"Ich möchte wieder zurück zu mir, aber nun
weiß ich, Greg wird das nicht zulassen."
Ich dachte an meine erste richtige Begegnung mit Greg zurück,
an den Abend mit dem Käsefondue. Damals hatte Greg wie ein
Zeremonienmeister die Runde gesteuert. Oder an den Geburtstag, die
Faschingsparty. Mit Greg als König inmitten seiner
Untergebenen. Andere Situationen fielen mir ein, in denen er Sven,
John, Franka oder Jennifer herumkommandiert hatte. Ich dachte an den
armen Ned. Ich sah Leo neben mir, erinnerte mich daran, wie er
früher war und jetzt mit seiner Matte, dem
lächerlichen Flaumbärtchen, den Klamotten, die
lebende Karikatur eines Gitarristen, und sagte: "Das muss
aufhören."