Tanja Kinkel: "Venuswurf"
Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten - die machthungrige Herrin und die rechtlose Sklavin. Eine Intrige, die sie aneinander schmiedet. Und ein Wunsch, den beide teilen: Endlich ihr Schicksal in die Hand zu nehmen ...
Die Zwergin 
Tertia, 
  die immer in die große Stadt wollte, bekommt diesen Wunsch erfüllt, als sie 
  von ihrem Vater an einen Sklavenhändler verkauft wird, der einen der kleineren 
  Märkte Roms beliefert. Hier kommt sie zunächst in den Besitz des Freigelassenen 
  Lycus, der in der Subura eine Garküche und ein Bordell betreibt - und nebenher 
  auch eine Mimentruppe bei Festen und Beerdigungen auftreten lässt. Schon an 
  diesem ersten Tag lernt sie römische Prominenz kennen, nämlich den Dichter und 
  Ritter Ovid, dessen "Liebeskunst" in 
  aller Munde ist und darum auch im Bordell immer wieder zitiert wird. Ihn, der 
  ihr den Namen Andromeda gibt, soll sie im weiteren Verlauf der Geschichte immer 
  wieder treffen, um nicht nur sein Leben, sondern auch das Entstehen seines Werkes 
  "Metamorphosen" zu begleiten.
  
Aus dem Hause Lycus, wo sie eine Menge neuer und wichtiger 
Dinge lernt, wie etwa Verhütungstechniken, Akrobatik und Schauspielkunst, kommt 
Tertia bald in einen Patrizierhaushalt auf dem Palatin, wo sie sich fast wie im 
Himmel fühlt, auch wenn sie deutlich merkt, was es bedeutet, eine Sklavin zu 
sein. Und sie wird immer mehr in die politischen Verstrickungen im Rom des 7. 
Jahres nach Christus hinein gezogen, das immer noch unter der Ermordung des 
"göttlichen Julius" wankt und in dem die politische Nachfolge ungeklärt 
ist.
Schließlich wird sie Haussklavin der Julilla, einer Enkelin des 
Augustus, die nach der Verbannung ihrer Mutter versucht, wieder mehr politischen 
Einfluss zu bekommen. Ein Ansinnen, bei dem ihr Andromeda und auch ein anderer 
Zwerg helfen sollen. Doch ihre Ziele sind durchaus nicht nur von edlen Motiven 
und Mitteln bestimmt, und so muss die anfangs noch ein wenig unbedarfte 
Andromeda zu einer kleinen römischen Mata Hari werden, um sowohl ihr eigenes 
Leben, als auch das vieler Anderer zu schützen. Denn diese kleine Person hat ein 
großes Herz, das auch nahezu Unverzeihliches verzeihen kann.
Aus der 
Perspektive der vom Land kommenden Sklavin beschreibt Tanja Kinkel die ewige 
Stadt von der untersten Ebene bis zu den elysischen Gefilden des Palastes des 
Princeps. Man lernt die wichtigsten Figuren aus Politik und Kultur der damaligen 
Zeit kennen und auch einige der bedeutendsten Entwicklungen im Römischen 
Reich.
Aufgrund der zusätzlichen Informationen über Leben und Gesetze im 
alten Rom sowie des Kartenmaterials ist "Venuswurf" in mehrerlei Hinsicht eine 
lehrreiche Erfahrung, die sich dazu noch sehr nett liest. Geschichtsunterricht, 
wie man ihn sich nur wünschen kann und vielleicht sogar einmal in der Schule 
ausprobieren sollte.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 03/2006)
Tanja 
Kinkel: "Venuswurf"
Knaur Verlag, 2006. 494 Seiten.
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Leseprobe:
  
  Es war laut, das fiel ihr als Erstes auf. Ungeheuer laut. Zu Beginn ihrer Reise 
  hatten die anderen miteinander geschwatzt, bis ihre Stimmen in Dunkelheit, Erschöpfung 
  und Angst versickerten. Die Nacht war immer noch nicht vorbei, aber mittlerweile 
  hörten sie von allen Seiten Geräusche. Von Rädern, die kein Loch und keinen 
  Stein auf der Straße ausließen. Von Fuhrwerk um Fuhrwerk, das hinter ihnen, 
  vor ihnen oder neben ihnen von Rindern, 
Eseln oder Menschen gezogen wurde. Flüche, 
  Knirschen und Scharren, das sie nicht einordnen konnten. In ihren Dörfern hatte 
  es selbst an Erntetagen nicht so viel Lärm gegeben, und ganz gewiss nicht in 
  der Nacht.
  
  "Heb mich hoch!", forderte Tertia, nachdem sie sich vergeblich auf die Zehenspitzen 
  gestellt hatte, um durch die Spalten des Verschlags zu spähen, und berührte 
  den Mann, der an ihrer Seite kauerte, mit dem Ellbogen. "Wir müssen in der Stadt 
  sein. Ich will die Stadt sehen!"
  
  Selbst sitzend war er noch größer als sie. "Warum?", fragte er dumpf. "Hast 
  du es so eilig, verkauft zu werden?"
  
  "Ich werde nicht verkauft", sagte Tertia scharf. "Ich werde gerettet."
  
  Er schnaubte verächtlich und beachtete sie nicht weiter. Dafür äußerte sich 
  die einzige andere Person, die aus dem gleichen Dorf wie Tertia stammte. "Du 
  hast Glück, dass deine Eltern dich nicht schon längst losgeworden sind", sagte 
  Fausta verächtlich.
  
  "Das sind nicht meine Eltern", erwiderte Tertia in einem hohen Singsang. "Sie 
  haben mich als Kind gefunden, wie Romulus und Remus. In Wirklichkeit bin ich 
  die Tochter eines griechischen Königs, und er wird in der Stadt sein, um mich 
  zu retten." Ihre Geschichte hatte zu Beginn der Reise einige der anderen 
zum 
  Lachen gebracht, aber mittlerweile nicht mehr.
  
  "König der Missgeburten, meinst du wohl", sagte Fausta. Dann versank sie wieder 
  in dem gleichen dumpfen Schweigen, das der Rest der Gefangenen sich teilte.
  
  Es roch nach Schweiß, nach Angst und Pisse, 
  und trotz ihrer Aufregung spürte Tertia, wie ihr Magen sich zusammenkrampfte. 
  Aber sie wusste auch, dass die anderen sie zwingen würden, in ihrem Erbrochenen 
  zu sitzen, nicht einmal aus Bosheit, sondern weil sonst kein Platz in dem engen 
  Verschlag war. Der Händler hatte dafür gesorgt, dass sein Karren an allen Seiten 
  von hohen Wänden begrenzt wurde, für den Fall, dass jemand an Flucht dachte. 
  Es gab noch nicht einmal die Möglichkeit, den Kopf darüber in die frische Luft 
  zu strecken. Also versuchte sie alles, um sich zu beherrschen. Und dabei auch 
  einen Gedanken zu unterdrücken: dass sie sich ihr neues Leben anders vorgestellt 
  hatte.
  
  Inmitten von Lärm und Gestank zählte sie an den Fingern ihre wichtigsten Zahlen 
  ab: Drei mal fünf, so alt war sie. Drei Kühe, die sich ihr Vater 
für das Geld 
  kaufen konnte, das er für sie bekommen hatte. So viel Geld, wie sein Bruder 
  in zwei Jahren in der Legion verdiente, hatte er zu Tertias Mutter gesagt. Auf 
  eine dritte Drei brachte sie es nicht, denn sie war nur zwei Fuß und einen Spann 
  hoch. Mit vier Jahren war sie nicht mehr weiter gewachsen. Tertia hatte sich 
  schon lange damit abgefunden, dass sie nie größer werden würde. Und sie wusste, 
  dass Fausta Recht hatte: Es war ein Glück, dass man sie damals nicht einfach 
  aussetzte. Ein Mädchen, das ein Zwerg war, konnte nur ein unnützer Esser bleiben, 
  den nie jemand heiratete und der noch nicht einmal richtig auf dem Hof zupacken 
  würde. Aber was Fausta nicht wusste, war, dass es keinen Grund gab, Tertia zu 
  bedauern. O nein. (...)