Detlef Opitz: "Der Büchermörder"
Der Fall Tinius
  
Man 
schreibt das Jahr 1813, als ein spektakulärer Kriminalfall die Menschen 
beschäftigt. Der Gelehrte von Weltrang, Johann Georg Tinius, wird vom 
Dienstmädchen eines Mordopfers der Tat bezichtigt und verhaftet. Kurze Zeit 
später legt man ihm noch einen zweiten Mord zur Last. Durch die bei diesen 
Morden geraubten Geldbeträge soll er seine riesige Bibliothek finanziert haben, 
die zwischen 40.000 und 60.000 Bände umfasst haben soll. Nach einem zehn Jahre 
dauernden Indizienprozess wird Tinius als Täter verurteilt. Doch viele Fragen 
bleiben offen. Detlef Opitz unternimmt den literarisch anspruchsvollen Versuch, 
Antworten zu finden, die über 200 Jahre verborgen 
blieben.
Sprachkunstwerk oder künstliche Sprache?
Die Idee, 
einen historischen Kriminalfall literarisch aufzuarbeiten, ist nicht neu. Von 
Wassermanns "Der Fall 
Maurizius" bis hin zu Margaret Atwoods "alias Grace" reicht dabei die 
Bandbreite.
Bei Detlef Opitz begannen die Recherchen zu "Der 
Büchermörder" einfach damit, dass er eine Art Seelenverwandtschaft zum Bücher 
sammelnden Johann Georg Tinius empfand. Denn Opitz bezeichnet sich selbst als 
Bibliomanen, getrieben von der schon fast pathologische Züge annehmenden 
Sammelleidenschaft in Bezug auf Bücher.
Auslöser dieser Affinität zu 
Tinius war ein Brief Goethes, in dem dieser von einer Bibliothek sprach, die 
zwangsversteigert werden solle. So begann Opitz seine Recherchen, deren 
krönender Abschluss nach zehnjährigen Vorarbeiten das vorliegende artifizielle 
Werk ist; welche Koinzidenz bei den Zeiträumen!
Eine 
Einteilung in gängige Genres ist schier unmöglich, da der Autor neben der 
Erzählung der Lebensumstände Tinius', dem Kriminalfall, den Recherchen zu seinem 
Buch usw. sich verschiedenster literarischer Stile bedient, angefangen von 
Augenzeugenberichten bis hin zur Collage. Doch damit nicht genug, legt Opitz 
auch bei der Auswahl der 
Sprachstile 
Kreativität an den Tag, und so findet man zwischen Umgangssprache, verstaubtem 
Deutsch und literaturwissenschaftlichen Phrasen versteckt eine Vielzahl von 
semantischen Spitzfindigkeiten und grandiosen Doppeldeutigkeiten.
Um den 
Genuss zu vervollständigen, beglückt Opitz den Leser noch mit einer Vielzahl 
verschiedenster Personen und Ortsbezeichnungen und wechselt beständig zwischen 
den Zeitebenen.
Fazit:
Für den Einen ein Sprachkunstwerk, für die 
Anderen eine Zumutung. Warum der Autor durch Form und Inhalt die Schicht 
derjenigen, die alle Aspekte des Romans verstehen können, so stark einschränkt, 
ist völlig unverständlich. Offen bleibt auch, ob diese Auserwählten an einem 
derart artifiziellen Roman Gefallen finden.
(Wolfgang Haan; 03/2006)
Detlef Opitz: "Der Büchermörder"
Eichborn, 
2005. 380 Seiten.
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Lien:
https://www.bibliomanie.de/html/tinius.html 
Detlef Opitz wurde 1956 geboren. In der 
DDR lebte er vom Handel mit Büchern, seine eigene Bibliothek verlor er 
allerdings beim Pokern. Der mit dem "F.C. Weiskopf Preis der Berliner Akademie 
der Künste" und dem "Preis der Deutschen Schillerstiftung" ausgezeichnete Autor 
lebt im Berliner Prenzlauer Berg.
Buchtipp:
"Merkwürdiges und 
lehrreiches Leben des M. Johann Georg Tinius, Pfarrers zu Poserna in der 
Inspektion Weißenfels von ihm selbst entworfen" 
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Leseprobe:
"...nicht allein, daß der alte Kaufmann Schmidt 
angefallen worden war, vorne beim Marktplatz, und ausgeräubert, auch nicht 
allein die brachiatische Wuth, wie man ihm das Eisen über den Schädel gezogen, 
nein, erst der Kaltsinn des gottlosen Schurken - mög er sich zum griechischen Pi 
schern, der Hunt! -, erst der vornehme Anstand seines Benehmens just nach der 
greulichen That war es, der vor allem die Gemüther erhitzte. Noch Wochen nach 
dem affrösen Uiberfall, als der recht gar zu bedauernde Kaufmann endlich seinen 
letzten schmerzhaften Atemzug gethan im April, und seinem verschorften Kopfe 
dieser gräßliche Druck entwichen war, wie die Seele einem strengen Gefängniß, 
noch dann mochte wohl dieser oder jener fiebrigen Küchenmamsell das Zünglein in 
bedenckliche Ventilirung gerathen seyn, auch hätte bis in den Sommer hinein, bis 
die Sache sich wieder abgestillet, manch artiger Mann auf der Straße sich mit 
Dolchen und Äxten versehen, immer auf der Acht, daß, wenn in der Dunckelheit ihm 
einer begegnet, mit der langen 
Nase einer, dem man es sonst nie 
ansieht...
Auch wir, frags Gott, sind ob der kaltschnäuzigen Art noch 
heute und wann immer sie uns in den Sinn tritt so aufgeregt und hin- und 
hochgerissen, als daß es uns schwer fallen will, Euch die Geschichte ihrem 
natürlichen Habitus nach zu relationiren. So mag vielleicht ein Gläschen fürnher 
uns das Blut etwas binden und hülfreich sein, die Gedancken zu 
entzwirrn.
Der Kaufmann Friedrich Wilhelm Schmidt stand im 72sten Jahr 
seines Alters. Er wohnte drei Treppen hoch in der Grimmaischen Gasse vier, 
seinem eigenthümlichen Hause, grad gegenüber vom Naschmarkt. Das ist, wir 
wissen, liebe Fräundin, wie sehr Euch die Litteratur doch so am Herzen beliegt, 
das ist nur zwey Häuser entfernt von Nº 6, des erst unlängst mit Tod 
abgegangenen Dichters Seume letzten Quartiers. So unser Herr aber kaum mehr den 
Geschäften anhing und dessenstatt als Rentier ein commodes Auskommen besaß, so 
verließ er auch nur ungern noch sein Logis - mochten es die Tücken und Krimmen 
des Alters seyn, wer weiß das schon, in diesem 11/12er Winter zumal, an dessen 
klirrende Kälte denn auch viele sich noch erinnern mögen - bis in den März 
hinein lag in den Straßen fußhoch der Schnee. Das Jahr schrieb sich aber erst 
den 28sten Januarius in die Kalender, Diensttag, die Uhren hatten des Tages 10te 
Stunde geschlagen, als der Schmidtischen Hausmagd, der Concordie Marie Vetter, 
doch gleich so sinister zumuthe war, wie sie ihrem langwierigen Dienstherrn 
einen Besucher vermeldete, einen, der in Geschäften ein Unterreden begehrte und 
darob extra aus Hamburg herbeigereist kam.
Aus Hammaburg? sann der greise 
Kaufmann, selbst aus dem Norden gebürtig, und schlug sogleich ein längst 
erledigtes Bordereau zu, über welchem er in schönster Erinnerung jener guten 
alten Tage gebeugt saß, als noch die täglichen Geschäfte seinem Leben der Quell 
warn. - 'Nur zu! Tritt er ein!' rief er darauf in Richtung Vorsaal, durchaus 
erfreut über den Ruf, den er wohl noch weithin besaß. 'Tritt er ein! Nur zu, der 
Herr! Was macht der Blanke Hanns?'
'Nicht viel Gutes, leider', erwiderte 
der Fremde und blickte flüchtig nach der Thür hin, wo, in die Hüften gestützter 
Arme, die Magd weiterer Unterweisung harrte, ganz und gar vergäblich. - Weil die 
Capitalien in Hamburg schlecht stünden, so fuhr er bald fort, als nur erst die 
Vetterin endlich abgetreten war, weil derohalben dorten nichts mehr zu machen 
wär und dem Tüchtigen nur ein paar läppische Bagatellen noch über blieben, darum 
wolle er sich hier in Sachsen nach guter Gelegenheit versehen und erbitte sich 
des Hrn. Kaufmanns wohldeliberirten Rath, ob es etwa besser wäre, ein Landgut zu 
erwerben, oder ob man klüger tät in sächsischer Obligation.
Dieser Frage 
entband sich nun ein kleiner Plausch über das Leben im Allgemeinen und die 
Cameralien im Speciellen, der freilich schon frühzeitig in einen Monolog 
convertirte, in dessen Verlauf der an der offenen Flancke der Eitelkeit berührte 
Greis eher dem Ankauf von Werthpapiren das Wort zu reden schien, inweil er zu 
dessen Untermalung ein städtisches Papir auf hundert Reichsthaler unterm 
Schreibtisch hervorzog, um es per Exempel dem Fremden vorzuzeigen.
Aber 
noch inmittelst er das Papir dann wieder einschloß - sank er bewußtlos 
darnieder. (...)