Thomas Geiger (Hrsg.): "Laute Verse"

Gedichte aus der Gegenwart


Poetische Demografie

Vielleicht trägt ja der "Welttag der Poesie", den die UNESCO seit 2000 jeweils am 21. März zelebrieren lässt, dazu bei, dass verstärkt poetische Werke jüngerer Autoren publiziert werden. Präsentiert werden im vorliegenden Band jedenfalls "Gedichte aus der Gegenwart" (Untertitel) - die Autoren sind zwischen 1957 und 1982 geboren, der Herausgeber ist übrigens Jahrgang 1960 - leichtfertigerweise könnte man also definieren: Gegenwartsautoren sind diejenigen, die momentan leben und eventuell noch nicht zur älteren Garde (?) gehören. Nun, der Älteste in dieser vorliegenden Sammlung und womöglich auch der Beste - Thomas Kling - ist allerdings bereits 2005 verstorben. Soviel zur Generationenarithmetik - wobei man konzedieren muss in dieser poetischen Demografie: welche wichtigen "älteren" Lyriker würden einem eigentlich auf Anhieb einfallen außer H.M. Enzensberger, Oskar Pastior oder Volker Braun?!

Es gibt in Deutschland mittlerweile eine ungeheuerliche Flut von selbsternannten "Lyrikern", die sich in eigenfinanzierten Büchern und Zeitschriften sowie in Internetforen einer wie auch immer zählbaren "Öffentlichkeit" aufzudrängen versuchen. Qualitätsmaßstäbe werden selten genug ernstgenommen - die Gipfelleistung der "Alles ist erlaubt"-Mentalität liefern die ebenso inflationär sich ausbreitenden "Poetry Slams", deren "Stars" zur vermeintlich lukrativeren Unterhaltungsschiene hindriften. So müsste man eigentlich sprechen: oh Deutschland, traurig’ Lyrikland! Das massenhafte Zeilenumbruchgestammel irgendwo zwischen Rilke und Bukowski hat uns eben noch keinen glaubwürdigen Ersatz gebracht für Benn oder Kästner, für Huchel oder Krolow - oder doch?!

Nun ist es so, dass die wirklich Guten meist sensibel sind und somit mehr im Verborgenen agieren - die Marktschreier, die heute legionenweise unterwegs sind und "performen", wollen eigentlich weniger "literarisch" sein als lässig oder authentisch - oder sie meinen es gut. Sie wollen letztendlich unterhalten oder rühren. Immerhin meint Geiger dem allgemeinen Urteil der Literaturkritiker entnehmen zu können, dass "der Grad der Reflexion über das Schreiben bei den Lyrikern höher sei als bei den Prosaautoren." Da erhebt sich freilich die Frage, nach welchen erkennbaren Kriterien es der Herausgeber wagen wollte, aus dem großen Sumpf einige Blüten hervorragen zu lassen. Immerhin gibt es als Nagelprobe von jedem Poeten hier eine Stellungnahme bzw. einen Interpretationsansatz - quasi als Nachweis, wie bewusst man tatsächlich so oder so gedichtet habe! Laut Klappentext ist die Auswahl "repräsentativ", und die Texte seien "vital ... unterhaltsam ... klug" - geboten werde ein "ebenso spielerischer wie wortmächtiger Blick auf unsere Gegenwart."

Abgesehen von der dezidiert der Lyrik verschriebenen Zeitschrift "Das Gedicht", welche im Jahre 1999 eine "Liste der Jahrhundert-Lyriker" lieferte und dem Jubiläumsheft 600 des "Merkur" über den Lyrikstandort Deutschland seien hier nur zwei Projekte aus den letzten Jahren angeführt, die sich ebenso auf Gegenwartslyrik konzentrierten: einerseits die mittlerweile zweibändige Anthologie "Lyrik von Jetzt" (herausgegeben von Björn Kuhligk und Jan Wagner), die sich als "dokumentarisch" bzw. "positivistisch" versteht und dem Problem auszuweichen versucht, welche Autoren "der Literaturbetrieb nicht oder noch nicht legalisiert hat." Zum Andern der Band "Die Struktur der modernen Lyrik" von Hugo Friedrich, welcher die "Moderne" beginnen lässt mit Baudelaire und Rimbaud. So lernen wir, dass "Moderne" und "Gegenwart" keineswegs identische literaturbeschreibende Begriffe sind und dass sich aus unterschiedlichsten Kriterien auf längere Sicht hin ein angeblich zuverlässiger "Kanon" aufstellen ließe.

Sicherlich kann man sich nicht allein auf Albert Ostermaiers "ratschlag für einen jungen dichter" verlassen, wo es heißt: "als dichter mußt du wissen wie / man leute killt köpfe zwischen / zeilen klemmt sie plätten satz für / satz das ist das blei das du hast." Bei Hugo Friedrich klingt ein fundamentaler Wesenszug moderner Lyrik an, den er seit Baudelaire z.B. auch bei T.S. Eliot oder Benn in Definitionen findet: moderne Lyrik lebt von der dissonanten Spannung aus Unverständlichkeit und Faszination - oder wie es Benn eben sagte: "Dichten heißt, die entscheidenden Dinge in die Sprache des Unverständlichen erheben." In die gleiche Richtung argumentierend hat Charles Simic einmal gesagt: "In einem guten Gedicht verschwindet der Dichter, damit der Leser des Gedichts zum Leben erwachen kann." Freilich versucht Geiger durch die beigefügten erläuternden Texte der Autoren dem Duktus der Unverständlichkeit entgegenzuarbeiten, um damit ein "Patchwork von gegenwärtigen Minipoetiken" zu liefern - etwa weil er den "modernen" Leser der Gegenwart für nicht mehr so geduldig einschätzt?!

Mit etwas gutem Willen könnte man sagen, dass einige der Namen der hier versammelten neun Poetinnen und fünfzehn Poeten den Kennern geläufig sein mögen: Marcel Beyer, Nico Bleutge, Durs Grünbein, Thomas Kling, Silke Scheuermann, Sabine Scho oder etwa auch Jan Wagner. Ein gewisser Henning Ahrens etwa erklärt zur Entstehung eines Gedichts, dass die Intuition dem Sinnlichen (einer realen Situation) vorausgehe, worauf dann noch die Reflexion (das Erheben von etwas Persönlichem ins Allgemeine) folge: "Das Ziel ist ein gehaltvoller, komplexer, vor allem aber in sich stimmiger Text; alles andere, auch die Verständlichkeit, ist zweitrangig." Immerhin konzediert er noch eine "Prise Selbstironie". Für Matthias Göritz ist es "die Einsicht in ein kleines Detail", sind es "ein, zwei Worte und ihre mitreißenden Mehrdeutigkeiten", welche ein Gedicht im "Strom des Schreibens" entstehen lassen. In Erinnerung an obig zitierten Charles Simic fällt eine noch radikaler klingende Formulierung von Durs Grünbaum auf: es gibt "kein lyrisches Ich, das sich behaupten könnte, es gibt den Dichter nurmehr als Komma und Kolon." Das erinnert freilich an die Maxime des nouveau roman, als man den Erzähler "verschwinden" lassen wollte.

Hendrik Jackson stellt die immer wieder virulente Frage: wie entstehen Gedichte? Und er antwortet sehr vorsichtig: "Aus dem Nichts heraus? Vielleicht eher in ein Nichts hinein . . . " Er sieht jedenfalls als seine Aufgabe: "ein bedeutungsvolles, komplexes Gedicht, das zugleich schlicht ist." Mit Thomas Kling kann man ergänzen - es geht um die "Wortauswerfung" und um die "Wortverwerfung". Man könnte mit Sabine Schos lyrischer Chuzpe fragen: "Mustn' it schwing?" Denn für Lutz Seiler gilt das "aufmerksam-zerstreute Hinschauen." Volker Sielaff äußert sich sehr grundsätzlich und lakonisch: "Jedes Gedicht ist immer wieder das erste. (...) Das Gedicht ist ein Versuch, mit den Worten zu tanzen." Etwas Wesentliches wie eigentlich Selbstverständliches, was man v.a. Amateurdichtern nicht oft genug sagen kann, bemerkt Jan Wagner: "Weniger im allgemeinen Bewußtsein ist die Tatsache, daß nicht nur das Schreiben eines Gedichts zu seinem Dasein beiträgt, sondern auch der Verzicht auf das einmal Geschriebene - also das Kürzen." Und er erläutert scheinbar ohne Bedauern, wie er einmal ein ursprünglich dreißigzeiliges Gedicht auf vier Zeilen zusammenstrich.

Womöglich könnte man die Gedichtszeilen von Uljana Wolf auch in eben diesem Sinne verstehen: "mein trotz ist mein werkzeug / und meine verstummung." Wenn wir etwas von den prominenteren Autorinnen und Autoren lernen können, dann ist es die Disziplinierung der überbordenden Mitteilungslust. Nicht jeder Inhalt und nicht jede Formulierung sind notierenswert - und schon gar nicht notwendigerweise unverzichtbare Weltbotschaften. Wenn der Autor - und v.a. der Lyriker - es lernt, "laute" aber auch "leise" Verse zu fabrizieren als Konzentrat ausgiebiger Musenexzesse, dann werden die Leser und Kritiker dankbar und aufgeschlossen bleiben.

(KS; 04/2009)


Thomas Geiger (Hrsg.): "Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart"
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