Jakob Wassermann: "Der Fall Maurizius"
Hörspiel mit Roma Bahn, Wilhelm 
Borchert, Peter Broglé u.v.a.
(Hörspielrezension)
Vater und Sohn
"Aber er 
ist unschuldig," brüllt Etzel seinen Vater, Oberstaatsanwalt Baron von 
Andergast, an. "Die Unschuld steht nicht mehr zu Debatte," antwortet ihm in 
ruhigem Ton sein Vater.
Fassungslos, begraben von den Trümmern seiner 
feurigen Rede, steht Etzel im Arbeitszimmer. Sein Vater, und damit die gültige 
Rechts- und Gesellschaftsordnung, hat gewonnen. Maurizius ist begnadigt. Ein 
Wiederaufnahmeverfahren in den Augen seines Vaters nur "Laiengeschwätz". All 
seine Entbehrungen und Strapazen umsonst. Ihm bleibt nur eine Wahl; sich von 
seinem Vater zu distanzieren und zu seiner seit zehn Jahren verbannten Mutter zu 
fliehen. Doch auch den Vater rettet die gespielte Selbstsicherheit nicht mehr 
vor dem Verfall; er geht an seinem zusammengebrochenen Weltbild 
zugrunde.
So fatalistisch endet Jakob Wassermanns im Jahre 1928 
veröffentlichter Roman "Der Fall Maurizius", dessen Geschichte auf einem 
tatsächlichen Kriminalfall aus dem Jahre 1906 beruht. Wassermann benutzte diese 
Vorlage jedoch nicht, um hieraus einen klassischen Kriminalroman zu stricken, 
sondern dramatisierte vorrangig den ungleichen Kampf zwischen dem von 
Gerechtigkeit besessenen Etzel und seinem Vater. Etzel wuchs nach der Scheidung 
seiner Eltern beim Vater auf. Die Mutter wurde verbannt, jeder Kontakt verboten; 
ja nicht einmal ihr Name durfte in Gegenwart des Vaters genannt werden. In völliger Verkennung der Realität hält sich der Vater "für den 
Freund seines Sohnes" und glaubt in ihm einen Verbündeten und Nachfolger 
gefunden zu haben. 
Etzel 
hingegen verabscheut seinen Vater für das, was er seiner Mutter und ihm angetan 
hat. Diese Abscheu kanalisiert sich, als der sechzehnjährige Etzel erfährt, dass 
sein Vater maßgeblich an der umstrittenen Verurteilung von Maurizius beteiligt 
war.
Obsession und Wahn
Etzel fährt heimlich nach Berlin, 
um den damaligen Kronzeugen Waremme aufzuspüren. Von ihm erhofft er, die 
"Wahrheit" zu erfahren. Auch sein Vater beginnt, am damaligen Urteil zu 
zweifeln. Um sich selbst zu beruhigen, fährt er ins Zuchthaus und besucht 
Maurizius. In langen Gesprächen erfährt er jetzt zum ersten Mal von den 
Verstrickungen, Obsessionen und Abhängigkeiten zwischen Maurizius, seiner 
fünfzehn Jahre älteren Frau Elli, deren jüngerer Schwester Anna Jahn und dem 
späteren Kronzeugen Waremme.
Doch dies ist nur ein Aspekt in Wassermanns 
Roman. Neben den unterschiedlichen Auffassungen von Vater und Sohn klagt er die 
Unmenschlichkeit der Strafgerichtsbarkeit an. Die damaligen Zustände in den 
Zuchthäusern waren unhaltbar. Die Gefangenen erhielten von Ungeziefer 
verseuchtes Fleisch und drakonische Strafen bei kleinsten Vergehen. Während der 
gemeinschaftlichen Arbeiten mussten "Gesichtsmasken" getragen werden, die eine 
Unterhaltung unmöglich machten. Einzel- und Isolierhaft waren an der 
Tagesordnung, Entzug von Zeitung und/oder Büchern war fast obligatorisch, um den 
Willen eines Delinquenten zu brechen.
Auch hinterfragt Wassermann die 
Definition von Recht und Unrecht, Schuld und Sühne. Wo endet Unschuld und 
beginnt Mitschuld? Muss nach dieser neuen Definition nicht auch Baron von 
Andergast vor Gericht? Ist nicht er Schuld am Selbstmord des Geliebten seiner 
Frau? Oder unnötig grausam, weil er seinem Sohn die Mutter "weggenommen" 
hat?
Legendäre Hörspielproduktion
Gert Westphal war nicht 
nur ein begnadeter Sprecher, sondern auch ein genialer Regisseur von 
Hörspielproduktionen, wie auch wieder mit dieser Produktion unter Beweis 
gestellt wird.
Neben der perfekten Dramaturgie besticht dieses Hörspiel 
durch die Auswahl der Sprecher, unter denen sich so bekannte Darsteller wie 
Wilhelm Borchert oder Siegfried Wischnewski befinden. Die Musik, Ton- und 
Klangeffekte setzen sich perfekt zu einer Partitur zusammen und verstärken an 
geeigneter Stelle die intertextuellen Bezüge in Wassermanns Roman. Die 
Gesamtheit dieser verschiedenen Komponenten führt dazu, dass dieses Hörspiel bis 
heute nichts von seiner bedrückenden Aktualität als Appell an die Menschlichkeit 
verloren hat.
Fazit:
Homogene Hörbuchfassung einer Anklage und 
zugleich Appell an die Menschlichkeit Justitias. Die Beweisführung rauscht am 
Ohr des Hörers vorbei, und es bleibt ihm überlassen, ein Urteil darüber zu 
fällen, wie ein humanitäres Rechtssystem Verbrechen und Strafe in ausgewogener 
Form gewichten muss.
(Wolfgang Haan; 01/2006)
Jakob Wassermann: "Der
    Fall Maurizius"
    Langen 
Müller, 2003. 4 CDs, Spieldauer ca. 300 Minuten.
Bearbeitung und Regie: Gert 
Westphal.
ISBN 3-7844-4032-0.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Christoph 
  Columbus. Der Don Quichote des Ozeans. Eine Biografie"
  Die fundierte und glänzend recherchierte Lebensgeschichte gilt als eine der 
  besten Biografien, die 
über den rätselhaften 
  Entdecker Amerikas verfasst wurden. Die Vita von Christoph Columbus ist 
  bis heute eine diffuse Verbindung von Legende und Wirklichkeit. Alles ist umstritten: 
  sein Charakter, seine Leistungen, sein Werdegang, die einzelnen Stationen seines 
  Lebens, sogar sein Geburtsdatum. Jakob Wassermann gelang ein überzeugendes, 
  psychologisch stringentes Bild dieses Mannes - spannend zu lesen wie ein Roman. 
  (dtv)
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Leseprobe:
(...) 
Gegen Ende der Mahlzeit rückte Etzel mit der Frage heraus, die er an die 
Großmutter stellen wollte. Er hatte den Mann mit der Kapitänsmütze seither nicht 
wiedergesehen, aber seine Gedanken beschäftigten sich deshalb nicht weniger 
häufig mit ihm. Es war nur nicht anzunehmen, daß gerade Großmutter den Namen 
kannte. Verwechselte sie doch die meisten Namen, sogar die von Familien, bei 
denen sie verkehrte, wodurch sie schon viel Verwirrung angerichtet hatte. Weit 
entfernt, es als eine schädliche Schwäche zu betrachten, lachte sie sich 
halbtot, wenn es ihr passierte, wenn sie Geschlechter, Standespersonen und 
Berühmtheiten verschiedener Kategorien durcheinanderbrachte. Das Mädchen, das 
seit vierzehn Jahren bei ihr bedienstet war und das Nanny hieß, rief sie jeden 
Tag anders, Bertha, Elise, Babett, wie es ihr in den Sinn schoß, denn sie war 
immer das Geschöpf der Sekunde und band sich in liebenswürdiger Felonie an kein 
Abkommen. Trotzdem richtete Etzel die Frage an sie, und um sich den Anschein der 
Gleichgültigkeit der Erkundigung, den Anschein der Unwichtigkeit zu geben, 
musterte er mit erheuchelter Neugier das silberne Salzfaß, als wäre es ein 
Schiff, dem er sich für eine weite Reise anvertrauen wollte.
Maurizius - 
der Name klang der Generalin nicht unbekannt. Sie legte das Dessertmesser hin, 
stemmte die Arme auf die Hüften und blickte mit emporgezogener Stirn, was ihrem 
Gesicht einen etwas törichten Ausdruck gab, ebenfalls auf das Salzfaß. Es war 
ein Name, aus dem Dunkelheit emporstieg. Wenn man ihn nannte oder hörte, wehte 
einem eine modrige Kälte entgegen, wie wenn eine Kellertür geöffnet wird. Unheil 
wurde in die Erinnerung gerufen, versunkene Gesichte gewannen wieder Umrisse und 
erweckten automatisch das Grauen, mit dem sie einst über der Stadt, der Provinz, 
ja über dem ganzen Land gelastet hatten. Es war, wie wenn ein versickerter Sumpf 
durch einen unvorsichtigen Spatenstich seine giftig schillernden Wässer wieder 
an die Oberfläche quirlen läßt. "Was geht dich das an, Junge?" fragte sie 
unwillig, "was hast du damit zu schaffen? Wie kommst du auf den Namen? Die 
Geschichte ist schon nicht mehr wahr, so lang ist es her. Viele Jahre sind 
darüber weggegangen. Wie kommst du darauf?" Etzel sah, welchen Eindruck der Name 
auf die Generalin gemacht hatte. "Was ist es denn?" flüsterte er und rieb 
mechanisch die Flächen seiner zwischen die Knie gesteckten Hände gegeneinander. 
"Erzähl mir doch, Großmama, was das war, ich erzähl dir dann auch, warum ich's 
wissen will." - "Unmöglich, es zu erzählen", versicherte die Generalin. Sie hat 
ihm ja gesagt, es ist viele Jahre her. "Wart mal, laß mich nachrechnen. Dein 
Großvater war bereits tot. Es muß im Trauerjahr gewesen sein, vielleicht etwas 
später. Nicht sehr viel später, denn anderthalb Jahre nach seinem Tode bin ich 
in den Orient gefahren. Also achtzehn Jahre, zwei Jahre, eh du auf die Welt 
kamst. Wie soll ich dir da heute noch davon erzählen können, nach mehr als 
achtzehn Jahren? Was interessiert dich denn so an der Sache?" Statt zu antworten 
fragte Etzel nach einer Weile mit noch leiserer Stimme: "War der Vater dabei im 
Spiel? Im Spiel ist natürlich ein dummer Ausdruck, Großmama, du weißt schon, was 
ich meine." Ängstlich heftete sich sein Blick auf das in einen Ozeandampfer 
verwandelte Salzfaß, das sich indessen gleichsam dem Molo genähert hatte, 
bereit, die Passagiere aufzunehmen. "Dein Vater? Ja ... ich denke ...", war 
die zögernde Erwiderung, die einen kleinen boshaften Unterton hatte; "ich denke 
doch; er war damals noch Staatsanwalt, und mir kommt vor, die Geschichte hat ihn 
erst so richtig hochgebracht. Da irr ich mich wohl kaum, das ist ziemlich 
sicher, er hat sich damals gewaltig ausgezeichnet, ohne ihn wär der Maurizius am 
Ende gar noch straflos davongekommen." Sie schwieg, nestelte an ihrer 
Ärmelkrause und lachte ein bißchen verlegen; sie sah in diesem Augenblick dem um 
siebenundfünfzig Jahre jüngeren Enkel außerordentlich ähnlich.
Aber Etzel 
drängte und drängte. Mit einer sublimierten Schlauheit gab er sich die Miene, 
wie wenn die glühende Wißbegier, die sein ganzes Wesen durchflutete, entfacht 
von einer Erscheinung, zustrebend einem bang geahnten Ziel, wie wenn die bloß 
eine gewöhnliche Bubenneugier wäre. Er rückte seinen Stuhl näher zur Generalin, 
ergriff ihre Hand und legte sie an seine Wange. Dabei bettelte er mit Mund und 
Auge. Die Generalin schüttelte verwundert den Kopf. "Hör mal, Junge, du bist ja 
total verdreht", zankte sie, "mir scheint, du warst in der letzten Zeit heimlich 
im Kino und hast dich mit den Scheußlichkeiten dort um den Verstand gebracht. Es 
soll ja Jungens geben, die davon ganz wild werden. Übrigens, unter uns, ich geh 
auch manchmal hin, verrat mich aber nicht. Na, schau mich nicht so verzweifelt 
an, ich überlege eben, was ich noch von der Sache weiß. Beim besten Willen kann 
ich mich nicht mehr auf alles besinnen. So ein altes Gehirn ist ein Sieb mit 
großen Löchern. Ich will nicht nachforschen, woher dein Interesse stammt; es 
könnte mich am Ende nicht freuen. Also schön, es war eine schreckliche Affäre. 
Die Leute redeten wochenlang von nichts anderem. Um das Für und Wider erhitzten 
sie sich in allen Wirtshäusern und Klubs. Es gab Volksaufläufe; an dem Tag, wo 
das Todesurteil verkündet wurde, mußte Militär ausrücken. Ich war zu der Zeit in 
Homburg drüben, ich erinnere mich noch, der Arzt verbot mir, die Zeitungen zu 
lesen. Auch nachdem der Prozeß längst beendigt und Maurizius, wie hieß er denn 
nur mit Vornamen?, hab's vergessen, und Maurizius zu lebenslänglichem Zuchthaus 
begnadigt war, kam die Geschichte nicht zur Ruhe. Viele glaubten steif und fest 
an seine Unschuld. Vielleicht bloß, weil er selber bis zum letzten Atemzug seine 
Unschuld beteuert hatte. Dazu kam, daß er kein gemeiner Verbrecher war. Nein, 
das war er nicht. Ein Mann der Wissenschaft, manche behaupteten, eine Kapazität 
in seinem Fach. Manche wieder sagten, ein Windbeutel. Immerhin hatte er es trotz 
seiner Jugend, ich glaube, er war noch nicht sechsundzwanzig, als 
Kunsthistoriker schon zu Stellung und Ansehen gebracht. Ich hab sogar ein 
kleines Buch gehabt, das er verfaßt hatte. Ich muß es mal heraussuchen, es liegt 
sicher in einer von den Kisten auf dem Dachboden. Jetzt erinner ich mich auch an 
den Titel: Über den Einfluß der Religion auf 
die
bildende Kunst des neunzehnten
Jahrhunderts. Hat mich interessiert damals; Religion, Kunst, darüber wurde doch 
in allen Salons gequatscht. Wer sollte solch einen Mann für einen Meuchelmörder 
halten! Ich konnt es nie recht glauben, daß er dazu fähig war. Die eigene Frau 
aus dem Hinterhalt in den Rücken schießen. Und unter was für Umständen! Eine 
verworrene Geschichte. Eine gottverlassene, jammervolle Geschichte, von der ich 
natürlich keinen Dau mehr behalten habe. Ich weiß nur, daß alles gegen ihn war, 
Menschen und Sachen. Alles zeugte gegen ihn, Menschen, Sachen, Raum und Zeit. 
Ein lückenloser Indizienbeweis, wie die Juristen es nennen. Das Zustandekommen 
dieses Beweises war das eigentliche Verdienst deines Vaters, dessen entsinn ich 
mich noch gut. Er war sehr stolz auf sein Werk, jung und ehrgeizig, wie er war. 
Ein Glockengießer kann nicht stolzer sein, wenn ihm ein schwieriger Guß gelungen 
ist. Er hatte gewiß alle Ursache dazu; ich stell mir vor, daß so was noch 
heikler ist als Glockengießen. Der alte Geheimrat Demme, der eben kein Esel war, 
sagte mir mal: 'Ein sauberer Indizienbeweis ist für den Kriminalisten, was die 
richtige Berechnung einer Kometenbahn für den Astronomen ist.' Das begreif ich. 
Bis man so weit gelangt, daß eine Tat wahrer redet als der Mensch, der sie getan 
hat, das ist nichts Kleines ..."
Etzel saß da und schaute. Der Mann 
mit der Kapitänsmütze wurde immer rätselhafter. Da er unmöglich der Maurizius 
sein konnte, der verurteilt war, sein Leben hinter Kerkermauern zu verbringen, 
so handelte es sich darum, zu erfahren, in welchem Zusammenhang er mit diesem 
stand. Was wollte er von ihm, was stellte er sich ihm in den Weg, musterte ihn 
mit bösen Schielaugen? Hatte er einen Auftrag? Eine Botschaft? Was für eine 
Botschaft? Wollte er ihn vielleicht als Mittler gewinnen beim 
Trismegistos? Zum 
Spion machen gegen Trismegistos? Schaurige Sache. Wenn irgendwo, da war 
Geheimnis. Man mußte aufpassen. Man mußte bereit sein. Jedes kleinste Zeichen 
war von Wichtigkeit. Während er so saß und sann, überzogen sich seine Wangen mit 
einer Blässe, die sie schimmernd machten wie Perlmutter. Es erzitterte etwas in 
der Tiefe seines Wesens, und er duckte die Schultern wie unter einem drohenden 
Schlag.
"Was ist mit dir, Junge?" forschte die Generalin strengen Tons. 
"Du gefällst mir seit einiger Zeit nicht mehr." Sie erhob sich elastisch, gab 
Etzel einen Klaps auf die Backe, und als er aufstand, schob sie ihren Arm unter 
seinen und ging mit ihm ins Wohnzimmer. Dort zündete sie sich eine Zigarette an, 
reichte auch Etzel eine, und zwar so selbstverständlich, als sei er ihr 
Hausfreund und teile alle ihre Gewohnheiten, dann hakte sie sich abermals in ihn 
ein und wanderte in dem riesigen Raum mit ihm auf und ab. "Jetzt beichte mal", 
fing sie an; "was ist los? Warum siehst du aus, wie wenn dir die Hühner das Brot 
weggeschnappt hätten? Hapert's in der Schule? Vorigen Herbst hast du ja noch 
Aussicht auf den Primus gehabt. Ehrlich gesagt, darauf leg ich wenig Wert. Aus 
Musterschülern werden keine Mustermenschen, Sitzfleisch macht nicht Genie. Genie 
ist Fleiß, sagen die Deutschen. Das könnte ihnen so passen. Ich halte was von 
dir, du bist mein einziger Enkel, ich bin deine einzige Ahnin; hättest du ein 
halbes Dutzend Geschwister, so würd ich mir vielleicht einen andern unter euch 
aussuchen als gerade dich, denn du bist mir ein wenig zu verschlagen und ein 
wenig zu verdöst. Man muß viel da drinnen haben (sie deutete auf ihre Brust), 
wenn man so viel dahinten hat (sie zwickte ihn am Ohrläppchen). Na, ganz egal, 
ich hab dich trotzdem lieb, nur wird mir manchmal angst und bang, wenn ich dich 
anseh."
Sie ist eine herrliche Frau, dachte Etzel. Er lächelte zu ihr 
hinüber (sie waren beide fast gleich groß), blieb mit einem Ruck stehen und 
fragte, noch mit einem Rest jenes Lächelns, um die Bedeutung der Frage 
abzuschwächen: "Du, Großmama, sag mir: Wo ist meine Mutter und warum weiß ich 
nichts von ihr?"
Es wäre vergebliche Mühe, die komplizierte Gedankenreihe 
aufdecken zu wollen, die ihn zu solch gewalttätigem Einbruch in den 
Seelenfrieden der Generalin veranlaßte. Vielleicht ging sie von dem Mann mit der 
Kapitänsmütze aus und dem Bezirk, an dessen Peripherie er sich seit der 
Erzählung der Generalin bewegte; vielleicht war es ein natürlicher Vorgang, und 
es zeigte sich, auf natürliche Weise, einer von den Pfeilern, über die seine 
Schicksalsbrücke lief. Jedenfalls war die Generalin erstarrt vor Schrecken und 
fand ihn wieder einmal außerordentlich frech. Dann wurde ihre Miene höchst 
ärgerlich. Entschieden mißbrauchte er ihre Langmut. Nur um sie zu peinigen, hat 
er einen ganzen Zettelkasten mit Fragen vorbereitet. Nichts ist ihr so verhaßt, 
als wenn man ihr fortwährend Fragen ins Gesicht knallt. Heute das, morgen das, 
übermorgen ein drittes, ihretwegen; aber auf einmal das ganze Bombardement, das 
geht über die Hutschnur. Abgesehen davon, sie hat zu kopiös gegessen, sie muß 
der Ruhe pflegen, sie darf nach Tisch nicht so viel schwatzen, sie hat dann 
Beklemmungen und kann nachts nicht schlafen. Etzelein ist ein netter Junge und 
geht jetzt nach Hause. Schönen Gruß an den Vater. Empfehlungen an die Rie. 
Adieu. Damit schob sie ihn, überbeweglich, überberedt, ins Vorzimmer, nahm 
seinen Kopf zwischen ihre feinen, kühlen Hände, küßte ihn mit komisch gespitzten 
Lippen auf die Stirn und auf die Augen und schlug die Tür schallend hinter ihm 
zu. (...)
(...) Etzel hat im Arbeitszimmer des Vaters das Gesuch des 
alten Maurizius entdeckt. Ein Begnadigungsgesuch. Peter Paul Maurizius, 
ehemaliger Ökonom und Gutsbesitzer, wohnhaft in Hanau, Marktstraße 17, 
stellt an den Herrn Oberstaatsanwalt das Ansuchen um Einleitung und Befürwortung 
der Begnadigung für seinen Sohn Otto Leonhart Maurizius, seit achtzehn Jahren 
und fünf Monaten Strafgefangener im Zuchthause zu Kressa. So die Betitelung der 
Schrift. Über das beschämende Bewußtsein, daß er sich zum Schnüffler erniedrigt 
hat, kommt Etzel mit einiger Rabulistik hinweg. Er empfindet zwar scharf das 
unehrenhaft Krumme des gewählten Weges, aber er rechtfertigt es durch die 
Umstände, die ihm keine Wahl gelassen haben. Es war ein animalisches Wittern und 
Aufspüren gewesen. Der Mann mit der Kapitänsmütze hat dabei eine Rolle gespielt 
wie der Geist im Hamlet. Gib mal gut acht bei dir zu Hause, haben seine kleinen 
boshaften beharrlichen Augen gesprochen, gib acht, und du wirst was finden. Bei 
dieser Mahnung schwebt ihm jedesmal zugleich die Briefschreiberin in der Schweiz 
vor. Gern möchte er den Brief lesen, insgeheim hofft er, ihn in einer Lade, 
einer Mappe zu finden. Gib acht, du wirst was finden, das läßt ihn nicht los. 
Die gebieterische Hand des Trismegistos zeigt sich in der Nacht, leuchtende 
Plastik in der Dunkelheit. Das Bild von der Dynamitkiste im Keller nähert sich 
der Wirklichkeit immer mehr. Doch gibt es noch lästigere Signale. Ein papierenes 
Gespensterwesen geht von dem mit Schriften und blauen Heften beladenen 
Schreibtisch des Vaters aus und verbreitet sich durch alle Räume. Die 
Aktengespenster rumoren in der Andergastschen Wohnung schon lange, nur für 
Etzels Ohren vernehmbar, ein raschelndes, namenloses Schattenvolk, nur für seine 
Augen zu sehen, die in manchen Stunden Schatten besser wahrnehmen als Körper. 
Seine Empfindlichkeit in diesem Punkt hat Züge von Hysterie. Es ist Gefahr 
vorhanden, daß die stete Beschäftigung mit Verdecktem und Verstecktem seinen 
Geist mit Zwangsvorstellungen füllt. Aber da er einmal als Mensch mit dem Funken 
in der Seele geboren ist, Gott weiß, woher ihm der kam, in dem Bezirk 
aufwachsend, wo menschlicher Frevel und Irrtum in allen Graden und Stufungen 
täglich in verruchter Unzahl zur Verantwortung gezogen, wo dem Verbrechen die 
Notbrücke zur Sühne geschlagen wird, über die eine ungeheure Faust den 
Schuldigen mitleidlos schleift, so kann er auf keinen Fall unangerührt bleiben 
von den Gesichten. Vermutlich haben die Aktengespenster schon seine Wiege 
umlagert, und ihr Gewinsel hat ihn in den Schlaf gelullt. In diesem Haus waltet 
das Schicksal in Konzentration, und das sollte er nicht fühlen, Membran zwischen 
der finstern und lichten Sphäre der Welt, die er ist? (...)