Alberto Moravia: "La Noia"


Gleichgültigkeit versus Langeweile oder Widerwillen gegen die Wirklichkeit

"Am Anfang war die Langeweile." So fundamental sieht sie der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855). "Die Götter langweilten sich, darum schufen sie die Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva geschaffen. Von diesem Augenblick an kam die Langeweile in die Welt und wuchs an Größe in genauem Verhältnis zu dem Wachstum der Volksmenge. Adam langweilte sich allein, dann langweilten sich Adam und Eva und Kain und Abel en famille, dann nahm die Volksmenge in der Welt zu, und die Völker langweilten sich en masse. Schließlich bauten die Völker aus Langeweile den babylonischen Turm." Kierkegaard zufolge ist die Langeweile nicht irgendeine beliebige Befindlichkeit des Menschen, sondern sie ist für die Entwicklung der menschlichen Kultur insgesamt verantwortlich.

Dieser Gedankengang hat durchaus seine Berechtigung, denn in der Langeweile begehren wir etwas vom Leben, was wir in dem gegebenen Zeitpunkt nicht bekommen oder herstellen können. Und je quälender die Langeweile ist, desto mehr scheint es den Menschen nach etwas Autokratischem zu verlangen, nach etwas ganz Besonderem. Dabei kann der Mensch vielleicht sogar eine gewisse Sinnerfahrung entwickeln, die jene Sinnkrise, welche mit der Langeweile verbunden ist, zumindest immer wieder vorübergehend aufheben kann.

Schon viele Philosophen (z. B. Jean-Paul Sartre mit "Der Ekel"), Künstler und Psychologen haben sich mit diesem menschlichen Phänomen auseinandergesetzt. So auch Alberto Moravia (1907-1990), einer der bekanntesten und erfolgreichsten italienischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, mit seinem Roman "La Noia", der nach eigenen Angaben in einer persönlichen Krise entstand und für den er 1961 den angesehenen italienischen "Viareggio-Preis" erhielt. Der Titel wurde dankenswerterweise nicht ins Deutsche übertragen, denn "Die Langeweile" - so die korrekte Übersetzung - gibt keinesfalls das wider, was von Moravia gemeint war. "La Noia" charakterisiert vielmehr eben dieses Lebensgefühl, die allgemeine Grundstimmung in der "bestellten" Wohlstandswelt der Moderne: Unbefriedigtheit, Lebenslähmung und Lebensüberdruss, Weltekel, einhergehend mit Entfremdung - eine "metaphysische Langeweile", wie sie der deutsche Psychiater und Philosoph Karl Theodor Jaspers (1883-1969) bezeichnete.

Sexuelle Obsessionen
Moravias Protagonist, der fünfunddreißigjährige Maler Dino, Sohn einer reichen Mutter, lebt in Rom und ist von eben dieser Langeweile, dieser "Art Unvergnügen oder Unangemessenheit oder Spärlichkeit der Realität" befallen, die zuerst seine Beziehung zu den Dingen und dann die Dinge selbst zerstört, sie für ihn sinnlos und unverständlich macht. "La Noia" entsteht bei ihm "aus dem Gefühl der Absurdität einer Wirklichkeit", die unzureichend ist und ihn "nicht von ihrem wirklichen Dasein zu überzeugen vermag." Durch die finanziellen Zuwendungen seiner Mutter muss er zwar nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen, trotzdem distanziert er sich von ihr und deren gesellschaftlichem Leben, das er aufs Verächtlichste hasst. In seinem Atelier, weitab der großen Villa seiner Mutter an der Via Appia, lebt er ein zurückgezogenes Leben in einem Zustand von Fremdheit und Ablösung. Letztendlich gibt er sogar seine Malerei aus diesem Gefühl der Sinnlosigkeit, dem "Fehler der Beziehung zu den Dingen" auf. Er selbst bezeichnet sich als eine Art Ruine oder Trümmerrest, an dessen Zustand seine Mutter einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet hat. Dino empfindet nur noch Widerwillen, Ekel und Abscheu mit seinem Leben.

Als er die siebzehnjährige Cecilia kennenlernt, die bis zu dessen Tod Geliebte und Modell eines älteren Malers war, wird sein Leben in den Grundfesten erschüttert. Seine Langeweile trifft auf ihre zwiegespaltene schlichte Belanglosigkeit, ja Gleichgültigkeit sowie ihre Unfähigkeit, die Welt um sich herum wahrzunehmen und Gefühle zu entwickeln ("Sie hatte nur Appetit auf das Geschlechtliche, ohne sich dessen aber voll bewusst zu sein. Infolgedessen ließ sie sich gänzlich passiv treiben."). Eine sexuelle Obsession beginnt, die in ihren Grundzügen der vorangegangenen manischen Beziehung Cecilias ähnelt ("Wenn ich sie über die Vergangenheit und über Balestrieri ausfragte, fragte ich sie über die Zukunft und über mich selbst aus."). Dino verfällt Cecilia zunehmend, vor allem als das triebhaft gesteuerte Mädchen beginnt, ihn mit einem Schauspieler zu betrügen. Vergeblich versucht er sie "zu besitzen", in ihr Seelenleben einzudringen, um vielleicht dadurch aus dem Käfig der Langeweile zu entfliehen. Doch weder durch Geld noch durch einen Heiratsantrag kann er die Liebe oder zumindest das Interesse Cecilias gewinnen. Erst ein schmerzhafter Ausbruchsversuch lässt ihn Rechenschaft über seine Situation ablegen und ein neues Leben als Möglichkeit ins Auge fassen.

Handlungsunfähigkeit der Charaktere
Mit seinem ureigenen Duktus, der großartig von den beiden Übersetzern Percy Eckstein und Wendla Lipsius ins Deutsche übertragen wurde, zieht Alberto Moravia den Leser in seinen Bann. Obwohl es im Buch kaum eine Handlung gibt, vermag der italienische Altmeister auf magische Art zu faszinieren. Viele Seiten beinahe besessen genauester Beobachtungen seelischer Schlachtfelder und eigener Reflexionen des Ich-Erzählers Dino wechseln sich mit einem eigenartigen Frage-Antwort-Spiel des obsessiv veranlagten Pärchens ab. Moravia baut seine Protagonisten auseinander und zerlegt sie in ihre Einzelteile. Ihr Geheimnis jedoch, das verrät er nicht.

So wie in "La Noia" steht im Mittelpunkt von Alberto Moravias Gesamtwerk immer der Mangel an Kontakt mit der Realität, aus dem die Langeweile, die existenzielle Krise des Individuums, die passiv-gleichgültige Handlungsunfähigkeit der Charaktere entsteht. Moravias Welt scheint eine stillstehende und pessimistische zu sein, in der es offenbar keine anderen Werte außer Sex und Geld gibt und in der Hoffnung und wahre Liebe Fremdworte sind. In einem Interview bekannte der Autor: "Es ist nicht wichtig zu leben. Es ist aber auch nicht wichtig zu sterben. In gewissem Sinne ist für mich überhaupt nichts wichtig. Ich meine, es ist natürlich wichtig, dass man die Zeit irgendwie ausfüllt. Man muss sich beschäftigen. Manchmal denke ich, ich lebe, um zu erfahren, warum ich lebe, und ich schreibe, um zu erfahren, warum ich schreibe. Aber ich bin noch nicht dahintergekommen. [...] Jeder soll tun, was ihm Spaß macht. In gewissem Sinne bin ich gegen nichts und für alles. Es gibt viele Wege, ein Mensch zu werden ... oder ein Wurm."

Realitätsmangel und daraus entstehende Langeweile stehen im Mittelpunkt dieses bereits 1960 geschriebenen Romans Alberto Moravias. Der italienische Autor versetzt den Leser in eine Welt, in der ein schwacher, unfähiger, hilfloser und gehemmter Ich-Erzähler zur Gleichgültigkeit und Langeweile verdammt ist, eingeschlossen in Einsamkeit und Traurigkeit. Dabei versteht es Moravia gekonnt und großartig, die Physiognomie seiner Protagonisten auf beeindruckende Art und Weise als Spiegel derer seelischen Verfassung einzusetzen. Gleichzeitig reflektiert er kritisch die hohle Welt des begüterten Bürgertums.

(Heike Geilen; 07/2009)


Alberto Moravia: "La Noia"
(Originaltitel "La Noia")
Aus dem Italienischen von Percy Eckstein und Wendla Lipsius.
Verlag Klaus Wagenbach, 2009. 336 Seiten.
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Alberto Moravia, am 28. November 1907 als Alberto Pincherle als Sohn eines aus Mähren eingewanderten Architekten in in Rom geboren, begann 1925 nach schwerer Krankheit (Knochentuberkulose) zu schreiben. Moravia, das lateinische Wort für Mähren, wurde sein Pseudonym. Bereits sein Erstlingsroman "Die Gleichgültigen" (1929) fand große Beachtung. Seit 1941 von der Zensur stark behindert, erhielt er wenig später wegen seiner immer offener demonstrierten antifaschistischen Haltung Schreibverbot. Nach 1944 war Moravia politisch und literarisch eine der wichtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten Italiens.
Er starb am 26. September 1990 in seiner römischen Wohnung am Tiberufer an Herzversagen.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Die Gleichgültigen"

Moravias provozierender, weltberühmter Erstlingsroman über den erotischen Reigen einer Familie: Während sich die Witwe Mariagrazia wundert, dass sich ihr Liebhaber immer mehr von ihr abwendet, hat es dieser längst auf ihre 24-jährige Tochter Carla abgesehen. Und Mariagrazias beste Freundin trifft sich heimlich mit Carlas Bruder Michele. Als Michele von den erotischen Verstrickungen seiner Schwester erfährt, sieht er nur noch in einem gewalttätigen Akt einen Ausweg ...
Moravia vollendete den Roman mit 22 Jahren und wurde damit über Nacht berühmt. "Die Gleichgültigen" ist eine psychologische Charakterstudie einer gesamten Epoche - und hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. (btb)
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"Cosma und die Briganten"
Novelle.
Er himmelt sie an, sie lügt ihm das Blaue vom Himmel herunter: eine Abenteuernovelle von Räubern und Gendarmen, über Betrug und Freiheit.
Alles beginnt harmlos: Der junge Juwelierssohn Cosma soll für seinen Vater wertvolle Ware ins nächste Städtchen bringen. Im offenen Sportwagen fährt er mit einem fetten, überdrehten Begleiter und einem mageren von schlichtem Gemüt los.
Denen hätte er besser nicht trauen sollen: Sie haben nichts Anderes im Sinn, als ihm die Juwelen abzuluchsen und dann das Verbrechen einer in der Gegend marodierenden Räuberbande in die Schuhe zu schieben.
Als die richtigen Räuber auftauchen - seltsamerweise als Gendarmen verkleidet - und kurz danach die richtigen Gendarmen und dann noch die Räuberin Albina den gefesselten Cosma aus dem Wasser rettet, ist das Durcheinander perfekt.
Eine der schönsten Geschichten Moravias über seine ewigen Themen: die Schwierigkeiten der Liebe zwischen Mann und Frau, Lug und Betrug und die Sehnsucht nach Freiheit. (Verlag Klaus Wagenbach)
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"Die Verachtung"
Wer kennt ihn nicht, den verachtungsvollen Blick von Brigitte Bardot aus der gleichnamigen Verfilmung von Jean-Luc Godard?
Rom. Der mittellose Schriftsteller Riccardo möchte über Arbeiten für den Film zu Geld kommen, um seiner Frau Emilia den Wunsch nach einem Eigenheim zu erfüllen. Der Produzent Battista lädt das Paar in seine Villa auf Capri ein, wo Riccardo mit dem deutschen Regisseur Reingold ein Drehbuch zur "Odyssee" schreiben soll. Die Beziehung zwischen Penelope und Odysseus verquickt sich mit derjenigen zwischen Riccardo und Emilia ...
Moravia ist ein meisterhafter Beobachter der Missverständnisse zwischen Mann und Frau. Ein Buch, das jedem unter die vertraute Gruselhaut geht. (Verlag Klaus Wagenbach)
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"Die Römerin"
Mit dem Erscheinen seines Romans "Die Römerin" 1947 begründete Alberto Moravia seinen internationalen Ruhm. Die unvergessliche Verfilmung mit Gina Lolobrigida und die moralische Entrüstung der katholischen Kirche, die das Buch jahrelang auf den Index setzte, taten ein Übriges, um die Geschichte um die schöne Römerin Adriana zum Kultbuch zu machen. Adriana, die in den 1920er-Jahren in Rom in einfachsten Verhältnissen aufwächst, ist so schön, dass ihre Mutter Kapital daraus schlägt. Erst verkauft sie ihre Tochter als Aktmodell, dann drängt sie sie in die Prostitution. Doch Adriana bewahrt sich ihre Würde und Menschlichkeit. Sie liebt und hält ihre Liebe in Ehren. Ihre wirklich große Chance auf ein anderes Leben ist der Student und Antifaschist Giacomo, doch der ist im bigotten, erzkatholischen und doch so unmoralischen Italien ihrer Zeit unerreichbar für sie. (btb)
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