(...)
Juchheißa. Ich gehe mit großen Schritten auf den Horizont zu. Hände langen nach mir und wollen mich ergreifen, Hände, die nicht wissen um meine spannende Freiheit, um den tiefen Abscheu, den ich in einer Menge empfinde, wenn die Leute auf der Straße einander hinderlich im Wege stehen. Nur du, mein Schöner, mein Süßer, der du mich hinreißt und begeisterst, du freilich stehst mir nicht im Wege, du, Odysseus, bist der Auserwählte, den ich nun mit meinen Nadeln stechen will. In der Tat müssen wir uns jetzt, da wir uns im Reich des Gelb befinden, wo eine Kampfsonne ihre Energie verstrahlt, mit einer Kraft messen, die wir freundlicherweise Liebe nennen wollen – und mit Odysseus, dem Mann, der mit erhobenem Bart einherschreitet, dem Wanderer der Meere, der auf der Durchreise hier war und versprach, eines Tages wiederzukommen, dem kühnsten und, wie es heißt, mutigsten unter den Seefahrern. Ja, er war hier, und gewiß denkt er, er hätte mich längst in die Tasche gesteckt, sicher bildet er sich ein, ich könnte es zufrieden sein, mich bezeichnet zu wissen durch eine neue Kerbe im Schiffsmast, in der mein Name mit einem Messer eingeritzt ist. So sehr vertraut er seinem Zauber, der große Held, daß er völlig vergißt, sich vorzusehen. Um so besser, wenigstens kann ich ungestört meine Fäden spinnen, um ihn beizeiten gefangenzunehmen, wie ich es mit den anderen vor ihm getan habe.

Odysseus ist schön, er ist eingebildet, und er ist sich seiner sehr sicher. Eine schwierige Eroberung kündigt sich an. Wie werde ich es anstellen, wie werde ich ihn davon überzeugen, daß sein Platz in meinem berühmten Käfig ist? Ja, richtig, in meinem Käfig, über den so viel geredet wird, den aber kein Mensch je zu Gesicht bekommen hat – außer denjenigen natürlich, die darin gelandet sind. Das Unternehmen wird glühenden Eifer erfordern und viel Mühe kosten, und wie soll ich, die ich leide, wenn ich mich von diesem einsamen Strand entferne, wie soll ich auf des Odysseus Spuren über die Meere fahren? Doch so geht es mir jedes Mal. Jedes Mal zweifle ich an meinen Kräften, und die Trägheit in mir beginnt sich aufzulehnen. Wenn ich dann aber die Gittertür hinter einem neuen Gefangenen schließe, ist es, als hätte ich mich nie fortbewegt, als hätten die Stäbe die kühne Aufgabe von allein bewältigt.
Doch zurück zu Odysseus, dem ich zum ersten Mal bei einem Spaziergang am Ufer begegnet bin, wo ich gewöhnlich Muscheln sammle. ...

„Du bist also die Zauberin Circe“, sagte er, als er bemerkte, daß ich keine Anstalten machte, ihm die Hand zu schütteln oder mich ihm auch nur einen Schritt zu nähern. (...)


(aus "Die Irrfahrten der Circe" von Sandra Petrignani)
Aus dem Ital. von Renate Nentwig
Weißer Strand, blaues Meer. In einer Fischerhütte haust Circe, von der die Leute sagen, sie sei eine Hexe. Oft kommen Pilger in die Gegend, um einen vorsichtigen Blick auf sie zu erhaschen.
Circe hat ein Geheimnis, das niemand kennt. Nur ihre Liebhaber, die sie betört. Und die sie dann eines Morgens tiefer in die Hütte hineinführt, wo sie die Tür eines großen Käfigs öffnet. »Er ging ohne Widerstand zu leisten hinein. Und mit einem Gefühl von Trauer und Schmerz, das mich in diesem Augenblick immer befällt, schloß ich hinter ihm ab.« Nun hat sie, was sie liebt, auf immer für sich
Einzig Odysseus, ebenso freiheitsliebend wie Circe selbst, der auf seinen Irrfahrten vor ihrer Hütte strandet, entzieht sich. Vergeblich wartet sie auf seine Rückkehr, sucht ihn. Und als sie ihn findet, macht sie eine verstörende Entdeckung. (Klett-Cotta)
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