Die Geschichte mit den Hühnern

In einem Kreisstädtchen, dem ehemaligen Troizk und heutigen Steklowsk, Gouvernement Kostroma, Kreis Steklowski, trat eine in ihr Tuch gewickelte Frau in grauem Kleid mit aufgenähten Kattunblumen auf die winzige Vortreppe ihres Häuschens in der ehemaligen Dom- und heutigen Personalstraße und brach in Schluchzen aus. Die Frau, Witwe des ehemaligen Domoberpopen Drosdow vom ehemaligen Dom, schluchzte so laut, dass sich alsbald in den Häuschen gegenüber ein Frauenkopf im Flauschtuch aus dem Fensterchen schob und rief: "Was ist, Stepanowna, schon wieder eins?"
"Das siebzehnte!" antwortete die ehemalige Drosdowa jämmerlich schluchzend.
"Oje-oje-oje", wimmerte die Frau kopfschüttelnd, "was ist das bloß? Wahrlich, der Herr zürnt! Wirklich krepiert?"
"Sie dir's doch bloß an, Matrjona, sieh dir's an", murmelte die Popenwitwe laut schniefend. "Komm und sieh dir's an."
Die schiefe graue Pforte klappte, bloße Weiberfüße patschten über den staubigen Straßenhuckel, und die tränennasse Popenwitwe führte Matrjona auf ihren Hühnerhof.

Es sei erwähnt, dass die Witwe des Oberpopen Vater Sawwati Drosdow, welcher im Jahre sechsundzwanzig an antireligiösen Unannehmlichkeiten verschieden war, nach seinem Tode nicht die Hände in den Schoß gelegt, sondern eine großartige Hühnerzucht gegründet hatte. Kaum war es soweit, dass die Geschäfte der Witwe flott florierten, da brummte man ihr derart hohe Steuern auf, dass die Hühnerzucht ums Haar eingegangen wäre, würden nicht gute Menschen der Witwe anempfohlen haben, bei den örtlichen Behörden eine Erklärung einzureichen, wonach sie, die Witwe, eine werktätige Hühnerzuchtgenossenschaft ins Leben rufe. Zu dieser Genossenschaft gehörten die Drosdowa selbst, ihr treues Dienstmädchen Matrjoschka und ihre harthörige Nichte. Daraufhin wurde sie von der Steuer befreit, und die Zucht blühte so sehr auf, dass im Jahre achtundzwanzig auf ihrem von Stallhäuschen umstandenen staubigen Hof bis zu zweihundertfünfzig Hühner herumspazierten, unter denen sogar Cochinchinas waren. Die Eier der Witwe wurden jeden Sonntag auf dem Steklowsker Markt feilgeboten, es gab sie in Tambow, und manchmal erschienen sie gar in den Schaufenstern des ehemaligen Geschäfts "Käse und Butter von Tschitschkin in Moskau".

Und nun war es an diesem Tag schon das siebzehnte Brahmaputra, ihr Lieblingshuhn, das auf dem Hof herumlief und sich erbrach.
"Är ... rr ... url ... url ... ka-ka-ka", spektakelte es und rollte die traurigen Augen zur Sonne hoch, als sähe es sie zum letzten Mal. Vor seinem Schnabel tanzte hockend das Genossenschaftsmitglied Matrjoschka mit einem Schälchen Wasser.
"Putchen, liebes ... put, put, put ... trink Wasserchen", flehte Matrjoschka und haschte mit dem Schälchen dem Schnabel hinterher, allein, das Huhn wünschte nicht zu trinken. Es riss den Schnabel weit auf, den Kopf in die Höhe, dann brach es Blut.
"Ach herrjeh!" rief die Nachbarin und schlug sich auf die Hüften. "Was ist denn das? Richtig Blut. Ich will hier an dieser Stelle festwachsen, wenn ich je gesehen hab, dass ein Huhn es auch mit dem Magen hat wie ein Mensch."
Dies waren die letzten Worte, die das arme Huhn hörte. Es fiel plötzlich zur Seite, pickte hilflos mit dem Schnabel in den Staub und verdrehte die Augen. Dann wälzte es sich auf den Rücken, streckte beide Beine hoch und blieb steif liegen. Matrjoschka, das Wasser verschüttend, heulte im Bass, die Popenwitwe und Genossenschaftsvorsitzende desgleichen. Die Besucherin beugte sich zu ihr ans Ohr und raunte: "Stepanowna, ich will Erde essen, wenn deine Hühner nicht verhext sind. Wo hätte man so etwas je gesehen? Solche Hühnerkrankheiten gibt's doch gar nicht! Irgendwer hat deine Hühner verwunschen."
"Feinde und Neider!" rief die Popenwitwe gen Himmel. "Die wollen mich wohl ins Grab bringen?"

Auf ihre Worte folgte ein lautes Krähen, dann kam, seitlich wie ein rastloser Säufer aus der Bierschwemme, ein zerrupfter magerer Hahn aus dem Hühnerstall getorkelt. Er starrte die beiden Frauen wild an, trat von einem Fuß auf den anderen, spreizte die Flüchten wie ein Adler, flog jedoch nicht weg, sondern rannte rund um den Hof wie ein Gaul an der Longe. Bei der dritten Runde blieb er stehen, ihm wurde übel, er rülpste und krächzte, spie Blutflecke um sich, fiel dann auf den Rücken, und seine Beine reckten sich gen Himmel wie Masten. Frauengeheul gellte über den Hof. Aus den Hühnerhäuschen antwortete unruhiges Gekakel und Flügelschlagen.

"Na, etwa nicht verhext?" sagte die Besucherin triumphierend. "Du musst Vater Sergi holen, damit er einen Gottesdienst für sie abhält."

Um sechs Uhr abends, als die Sonne wie ein feuriges Prallgesicht tief zwischen den Prallgesichtern der jungen Sonneblumen stand, kroch auf dem Hühnerhof der Domgeistliche Vater Sergi, der die Andacht beendet hatte, aus seinem Ornat. Neugierige Menschenköpfe überragten den uralten Zaun und äugten durch seine Ritzen. Die gramgebeugte Popenwitwe, nachdem sie das Kreuz geküsst, netzte einen kanariengelben, zerrissenen Rubelschein reichlich mit Tränen und händigte ihn sodann Vater Sergi aus, worauf dieser seufzend eine Bemerkung fallenließ, dass der Herr uns offenkundig zürne. Dabei setzte er eine Miene auf, als wisse er ganz genau, warum der Herr zürne, wolle es aber nicht sagen.

Die Menschenmenge auf der Straße zerstreute sich alsdann, und da Hühner bekanntlich früh zur Ruhe gehen, wusste niemand, dass im Hühnerstall beim Nachbarn der Popenwitwe gleich drei Hühner und ein Hahn auf einmal krepierten. Sie hatten sich ebenso erbrochen wie die Hühner der Drosdowa, aber ihr Tod im verschlossenen Hühnerstall trat unauffällig ein. Der Hahn fiel kopfüber von der Stange und verschied in dieser Position. Was die Hühner der Witwe betrifft, so verreckten sie gleich nach der Andacht. Gegen Abend war es in den Ställen totenstill, und das Federvieh lag starr und steif zuhauf.

Am nächsten Tag war die Stadt wie vom Donner gerührt, denn die Geschichte hatte sonderbare, ungeheuerliche Ausmaße angenommen. In der Personalstraße waren bis Mittag nur noch drei Hühner am Leben, und zwar im letzten Häuschen, wo der Kreisfinanzinspektor Wohnung genommen hatte, doch auch sie krepierten bis ein Uhr. Gegen Abend summte und brodelte es in dem Städtchen Steklowsk wie in einem Bienenstock, und das schreckliche Wort "Seuche" machte die Runde. Der Name Drosdowa erschien im Lokalblatt "Roter Kämpfer" in einem Artikel mit der Überschrift "Hühnerpest etwa?" und flog von hier nach Moskau. (...)


(Aus der Erzählung "Die verhängnisvollen Eier" von Michail Bulgakow.
Aus dem Russischen von Thomas Reschke.
Diese und andere Erzählungen finden sich im Band 
"Teufeliaden", erschienen bei Volk & Welt, 1994. )

In seinen berühmten "Teufeliaden", einem Zyklus fantastischer Erzählungen, nimmt Bulgakow aufs Korn, was den Sowjetalltag der frühen 1920er-Jahre prägte: Bürokratie, Chaos und Schlamperei, vor allem aber die Revolutionsfantasien, die bar jeder Vernunft waren. Zu bitterbösen, witzigen Parabeln gerät, was Bulgakow mit beißendem Sarkasmus und schlitzohriger Fabulierkunst zu erzählen weiß: Wie Tschitschikow, der Gauner aus Gogols "Toten Seelen", im Moskau der "Neuen Ökonomischen Politik" noch dreister sein Unwesen treiben kann als zu zaristischen Zeiten. Wie ein übereifriger Weltverbesserer mit Hilfe eines roten Strahls aus Versehen riesenhafte Schlangen und Krokodile erschafft, die einen gewaltigen Vernichtungsfeldzug starten und - ähnlich wie Napoleons Heer - erst kurz vor Moskau durch einen plötzlichen Kälteeinbruch zu besiegen sind. Wie sich der Straßenköter Bello nach einem genialen, aber widernatürlichen chirurgischen Eingriff in den intriganten, bösartigen und gemeingefährlichen Lumpenproletarier Genosse Bellow verwandelt, der seinem Schöpfer das Leben zur Hölle macht.
Die Mitte der 1920er-Jahre entstandenen "Teufeliaden" gehören ohne Zweifel zu den gewichtigsten Werken Michail Bulgakows (1891-1940). Neben seinem Roman "Der Meister und Margarita" haben diese genialen, hintergründigen und unterhaltsamen Satiren ihren festen Platz in der Weltliteratur.
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