Anil, Sarath, Palipana und das Mädchen
hatten das rechteckige Holzgerüst eines ambalama erreicht, in dem sie nun
saßen, eine Öllampe in der Mitte. Der alte Mann hatte hingedeutet und gesagt,
dort könnten sie sich vielleicht unterhalten und sogar übernachten. Der Holzbau
hatte keine Wände und ein hohes Dach. Reisende oder Pilger suchten seinen
Schatten und seine Kühle tagsüber auf. Nachts war er nur ein von Dunkelheit
durchdrungenes Holzskelett, dessen wenige Pfosten ein Gefühl der Ordnung
schafften. Ein Gebäude, auf Fels gebaut. Ein Heim aus Holz und
Felsgestein.
Es war fast dunkel, und sie konnten die Luft riechen, die über das Wasser des
pokuna zu ihnen wehte, konnten das Geraschel unsichtbarer Geschöpfe hören.
Jeden Abend wanderten Palipana und das Mädchen von ihrer Waldlichtung her, um
in dem ambalama zu schlafen. Er konnte über den Rand der Plattform Wasser
lassen, ohne das Mädchen wecken und sich von ihm führen lassen zu müssen.
Dort lag er und nahm die Geräusche aus dem Meer der Bäume ringsum wahr. Weiter
weg gab es Kriege des Schreckens, wo die Schützen in die Detonation ihrer Geschosse
verliebt waren, wo der Hauptzweck des Krieges der Krieg geworden war.
Das Mädchen befand sich zu seiner Linken, Sarath zu
seiner Rechten, die Frau ihm gegenüber. Er wusste, dass die Frau jetzt aufstand,
dass sie entweder zu ihm sah oder über ihn hinaus zum Wasser. Auch er hatte das
Aufklatschen gehört. Irgendein Wassertier in dieser stillen Nacht. Aus den
Bäumen kam ein Truthahngeier. Zwischen ihm und der Frau - auf dem Felsen, neben
der ockergelben Lampe - war der Schädel, den sie mitgebracht hatten.
"Es gab
einen Mann, der Augen malte. Er war der beste, den ich kannte. Aber er hat
aufgehört."
"Augen zu malen?"
Er hörte die neuerwachte Neugier in ihrer
Stimme.
"Es gibt ein Zeremoniell, mit dem sich der Künstler in der Nacht, bevor er die
Augen malt, vorbereitet. Ihr müsst wissen, dass er nur kommt, um die Augen auf
das Buddhabildnis zu malen. Die Augen müssen um fünf Uhr morgens gemalt werden.
Zu der Stunde, da Buddha
der Erleuchtung teilhaftig wurde. Das Zeremoniell beginnt also am Vorabend -
der Tempel wird geschmückt, heilige Texte werden rezitiert.
Ohne die Augen herrscht nicht nur Blindheit, sondern das
Nichts. Es gibt kein Sein. Der Künstler erweckt Sicht und Wahrheit und Gegenwart
zum Leben. Später wird man ihn mit Geschenken ehren. Ländereien oder Ochsen. Er
tritt durch die Türen des Tempels. Er ist wie ein Fürst gekleidet,
juwelengeschmückt, mit einem Schwert umgürtet, Spitze auf dem Kopf. Er wird von
einem zweiten Mann begleitet, der Pinsel, schwarze Farbe und einen Metallspiegel
trägt.
Er ersteigt eine Leiter vor der Statue. Sein Begleiter ersteigt sie
ebenfalls. Das ist seit Jahrhunderten so, versteht ihr, es gibt Aufzeichnungen
darüber seit dem neunten Jahrhundert. Der Maler taucht einen Pinsel in die Farbe
und kehrt der Statue den Rücken zu, so dass es aussieht, als stehe er im
Begriff, von den großen Armen umschlossen zu werden. Die Farbe auf dem Pinsel
ist nass. Der Andere, der ihm gegenübersteht, hält den Spiegel hoch, und der
Künstler hält den Pinsel über die Schulter und malt die Augen, ohne das Gesicht
unmittelbar anzusehen. Er lässt sich nur von der Widerspiegelung leiten - so
dass lediglich der Spiegel das direkte Bild des Blicks empfängt, der geschaffen
wird. Kein menschliches Auge darf dem des Buddhas beim Prozess seines Entstehens
begegnen. Um ihn herum werden die Mantras gesprochen. Mögen dich die Früchte
der Taten erquicken ... Mögen die Tage auf Erden länger werden ... Heil euch, o
Augen!
Seine Arbeit kann eine Stunde oder nicht einmal eine Minute lang dauern, abhängig
vom Grad der inneren Vervollkommnung des Künstlers. Er sieht nie direkt in die
Augen. Er kann nur den Blick im Spiegel
sehen."
(Aus "Anils Geist" von Michael
Ondaatje.
Aus dem Englischen von
Melanie Walz.)
Anil Tissera kehrt nach Jahren zurück in ihre Heimat Sri Lanka.
Als Rechtsmedizinerin soll sie Beweise dafür liefern, dass in dem vom
Bürgerkrieg zerrissenen Land nicht nur Rebellen Terror ausüben, sondern auch die
Regierung. Es beginnt eine spannende Spurensuche, die ganz unterschiedliche
Menschen zusammenführt. Sarath, der Archäologe, Ananda, der Künstler und Anil
suchen jeder auf seine Weise nach der Wahrheit, der Liebe und nach der Ursache
eines Verbrechens.
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