Traude Veran: "Das steinerne Archiv"
Der alte Judenfriedhof in der Rossau.


Der Inhalt des Buches ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil erzählt von den steinernen Archiven, wie man sie auf jedem Friedhof findet. Im Besonderen beschreibt die Autorin die Denkmäler auf den jüdischen Friedhöfen Wiens, wobei jener in der Rossau, Seegasse 9 in 1090 Wien im Vordergrund steht und Anlass für das Buch war. Der Name Rossau wurde erstmals im Jahr 1538 urkundlich erwähnt und leitet sich vom Weiden der Pferde ab, die bei der Donauschifffahrt eingesetzt waren.

Im Gegensatz zu dem christlichen Brauch, die Toten um das Kirchengebäude herum zu bestatten, haben die Juden ihre Begräbnisstätten aus rituellen Gründen immer schon außerhalb des Wohngebietes angelegt. Am Friedhof in der Rossau erfolgte die erste Bestattung im Jahre 1517. Die wechselvolle Geschichte des Friedhofs ist gekennzeichnet durch die zahlreichen Überschwemmungen, da er im ehemaligen Überschwemmungsgebiet des heutigen Donaukanals und seiner zahlreichen Seitenarme gelegen ist. Heute liegt deshalb der Friedhof sechs Meter höher. Während der NS-Zeit wurden im Jahr 1943 die vorhandenen Grabsteine auf den Zentralfriedhof verbracht und vergraben. Erst beim Bau des Rossauer Pensionistenheimes wurden 250 Grabsteine wieder aufgestellt, allerdings konnte man sie den Begräbnisstätten der Verstorbenen nicht mehr zuordnen. Im Jahr 1783 befahl Kaiser Josef II. aus hygienischen Gründen die Schließung aller Friedhöfe innerhalb des Linienwalles. Darunter fiel auch jener in der Seegasse. Da jüdische Grabstätten für die Ewigkeit errichtet sind, wurde das Pensionistenheim um den Friedhof errichtet. Außerdem hat im Jahr 1670 Koppel Fränkel um viel Geld das Gräberfeld von der Gemeinde gekauft, damit es auf ewig ein Friedhof bleibe. Die Gemeinde Wien hat in unserer Zeit den Kaufvertrag festgestellt und als rechtmäßig anerkannt.

Ein Gang durch den Friedhof gibt dem des Hebräischen kundigen Besucher Auskunft über die Schicksale der dort Bestatteten. Zahlreiche berühmte Namen wie Nathan Oppenheim, Samson Wertheimer und Nathan Arnstein scheinen auf den Grabsteinen auf. Die Grabsteine sind zumeist aus Leithakalk sowie aus Zogelsdorfer und St. Margarethner Kalkstein. Teilweise sind sie so stark verwittert und beschädigt, dass man die Inschriften nur schwer noch lesen kann. Interessant und erwähnenswert ist eine Fischskulptur aus Kalkstein in der Mitte des Friedhofes. Die Mär besagt, dass der Jude Simeon eines Tages einen großen fetten Fisch fing und sich schon auf das Mahl freute. Doch am Küchentisch hob der Fisch den Kopf und rief: "Schema Israel!" und dann starb er. Der um Rat gefragte Rabbi meinte, es sei wohl ein "Dibbuk", eine wandelnde Seele und der Fisch gehöre daher beerdigt. Das tat Simeon und setzte ihm einen Grabstein in der oben angeführten Gestalt. Über diese Skulptur gibt es aber auch andere Erzählungen. Die moderne Wissenschaft nimmt an, dass es sich um den Wasserspeier eines Brunnens für rituelle Handwaschungen handelt.

Der zweite Teil des Buches bringt die wechselhafte Geschichte der Wiener Juden, welche gekennzeichnet ist von Verunsicherung und tatsächlicher Unsicherheit. Jeweils bestimmte der Monarch die Stellung und Berufsausübung der Juden. Zumeist wurden sie finanziell ausgebeutet und zusätzlich noch verfolgt, manchmal auch vertrieben und wie im Jahr 1421 zurzeit Herzogs Albrecht V. bei lebendigen Leib verbrannt. Mit reichen Juden, so genannten "Hofjuden", finanzierte sich der Monarch oder nahm Kredite bei ihnen auf um diese später, wenn die Belege fehlten, nicht zurückzuzahlen. So kann man den Umgang des Kaiserhauses mit dem Juden Samuel Oppenheimer im 17.Jhd kurz und bündig als Erpressung werten. Um ihn gefügig zu machen warf man Oppenheimer sogar zeitweilig in den Kerker. Ohne Oppenheimer und den späteren Wertheimer hätte der deutsche Kaiser zu Wien die Türkenkriege nicht finanzieren können. So viel man die Juden auch verfolgte - die Pogrome waren in bestimmten Abständen fast vorprogrammiert - kamen die Geflohenen wieder zurück, sobald der Monarch Anstalten machte die Juden künftig besser zu behandeln. Sowohl Karl VI. als auch Maria Theresia waren keinesfalls den Juden freundlich gesinnt, wenngleich der Jude Josef Freiherr von Sonnenfels Maria Theresias Kronjurist war. Auch das Toleranzpatent aus dem Jahr 1787 hat nur die einzelne Person assimiliert, nicht jedoch das Judentum als kultisches Kollektiv. Angehörige der jüdischen Bevölkerung mussten Maut bezahlen, wenn sie bestimmte Grenzen innerhalb von Wien überschritten, oder der Leichnam eines Juden auf einen anderen Friedhof überführt wurde. Durch das Toleranzpatent durften allerdings Juden auch an den höheren Schulen studieren. Im Jahr 1798 promovierte daher der erste Jude zum Doktor der Medizin. In der Zeit von Kaiser Franz II., ab 1805 Franz I. von Österreich (nach Abdankung als deutscher Kaiser infolge der napoleonischen Kriege), hatte man gegen Geld (Gold gegen Vorrecht) den Juden auch Adelstitel verliehen. So gab es im Jahr 1848 in Wien 114 adelige Judenfamilien, die Zugang zum Hof hatten und zum Grundbesitz berechtigt waren.

Auf die Juden in den Kronländern übte das aufstrebende Wien große Anziehungskraft aus. Die meisten kamen bitterarm an, und da sie nur ein besseres Leben suchten, hatte man mit ihnen in Wien auch kein Mitleid. Ihre Lage ist mit den heute per Touristenvisum einreisenden Wirtschaftsflüchtlingen zu vergleichen. Sie lebten im Untergrund und in ständiger Angst der Entdeckung, trugen aber durch ihre Arbeitskraft sehr viel zum Florieren ganzer Wirtschaftszweige bei. Für die gemeinen Juden war die wirtschaftliche und persönliche Lage bis zum Staatsgrundgesetz im Jahr 1867 stets schlecht. Ab 1867 gab es dann volle Glaubens- und Religionsfreiheit. Der wirtschaftliche Aufschwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zu Risikobereitschaft, es gab Erfindungen, Kapital und Industrie mussten hochflexibel sein. Die überhitzte Konjunktur, eine aufgeblähte Börse und eine fehlgeschlagene Weltausstellung führten letztlich am "schwarzen Freitag", dem 9. Mai 1873 zum Börsenkrach. In der Folge gingen 48 Banken in Konkurs. Als man Schuldige suchte, hob der Antisemitismus sein Haupt. Die Kluft zwischen arm und reich unter der Knute der jüdischen und christlichen Fabriksherrn führte zu unzumutbaren Arbeitsbedingungen. Es entstanden die Massenparteien, von denen die Christlichsozialen und die Deutschnationalen besonders judenfeindlich eingestellt waren. Die Juden schlossen sich weitgehend den Sozialisten an. Selbstbewusste Juden wie z.B. Theodor Herzl, Victor Adler, Sigmund Freud, Gustav Mahler sowie Arthur Schnitzler erreichten gewichtige Positionen in der Politik oder erbrachten Höchstleistungen in Wissenschaft und Kunst.

Die Aufbruchstimmung beflügelte, man gründete Tageszeitungen, Siegfried Marcus konstruierte den ersten Benzinmotor sowie die elektrische Birne, und Adolf Pollak entwickelte den Sicherheitszünder. Jacques Offenbach feierte neben den österreichischen Operettenkomponisten Triumphe, ein zweiter jüdischer Tempel wurde in Wien eröffnet. Das Kaiserhaus wurde von der österreichischen Judenschaft glühend verehrt. Im 1. Weltkrieg kämpften die Juden, wie z.B. der berühmte Kabarettist Karl Farkas, mit Begeisterung für das Habsburgerreich. Schon vor und während des 1. Weltkriegs kamen infolge wiederholter Pogrome in Russland verarmte Juden in Massen in das selbst ausgehungerte und frierende Wien. Durch einen Lapsus des Friedensvertrages von St. Germain hat man das französische Wort "race" als Rasse übersetzt. Um die Staatsbürgerschaft zu bekommen, musste man nun die Zugehörigkeit zur "deutschen Rasse" nachweisen. Nach dem Krieg wurde der Judenhass immer größer, hinzu kam die schlechte politische und wirtschaftliche Lage in der Zwischenkriegszeit. Bereits im Jahr 1934 begann der Exodus der jüdischen Intellektuellen, unter welchen alle österreichischen Nobelpreisträger aufscheinen. Nur wenige der damaligen Emigranten wie Ludwig Wittgenstein, Karl Popper, Hans Kelsen usw, kehrten später wieder nach Österreich zurück. Der Anschluss im Jahr 1938 ans Deutsche Reich wurde nicht nur von NS-Angehörigen und großen Teilen der Bevölkerung willkommen geheißen, sondern auch von Dr. Karl Renner und Kardinal Innitzer. Hitler hielt man für eine ephemere Erscheinung. Die Juden wurden jedoch sofort verfolgt, verhaftet und gedemütigt. Über das weitere Schicksal des Judentums im dritten Reich und über den Holocaust hinaus, behandelt das Buch den historischen Weiterbestand der jüdischen Gemeinde in Wien bis in unsere Tage hinein.

Leider muss man auch heute noch, wenn auch nur vereinzelt, Antisympathien gegen jüdische Mitbürger in Österreich feststellen. Dass aber gerade unter den Juden viele Köpfe waren, die den Namen Österreich wohlklingend in die Welt trugen, wird unter Österreichern noch immer viel zu wenig beachtet. Ebenso wenige Leute wissen, dass so mancher wohlvertrauter Träger eines berühmten Namens wie Hugo von Hofmannsthal dem Judentum angehörte.
Wer das Buch liest, in welchem die Schriftinhalte mittels zahlreicher Bilder veranschaulicht sind, wird insbesondere im 2.Teil erkennen, welch große Zahl berühmter Menschen das Judentum unter doch oft misslichsten Umständen hervorgebracht hat. Man sieht im Laufe der Zeitgeschichte, was für ein unendliches Leid diese Volksgruppe ertragen musste. Dennoch waren sie stets loyal und patriotisch gegenüber dem Staat, hilfreich für die Allgemeinheit, wie wir es etwa an Samuel Oppenheimer ersehen können.

Der Holocaust hinterließ Wunden, welche durch Denkmäler und Worte wie "niemals vergessen" überdeckt wurden. Besser und eindringlicher wäre gewesen, wenn man Stätten wie Mauthausen in ihrer ursprünglichen Form der Verwendung erhalten hätte. Ein Besuch der Gedenkstätte im Jahr 1952 ist mit einem Besuch im Jahr 1990 nicht mehr zu vergleichen und gibt besonders der Jugend ein schlechtes Bild dieser Zeit und der tatsächlichen Lebensverhältnisse in diesen Lagern wieder. Heute schaut es fast so aus, als würde es eine NS-Ruhmesstätte sein. Die Jugend kann daher die Vergangenheit nicht verstehen und richtig verarbeiten, ansonsten wäre es undenkbar, dass mancher jüngere Mensch in diesen Tagen die Konzentrationslager in zynischer oder dummdreister Umkehrung historischer Tatsachen als humane Arbeitslager bezeichnet.

Das Buch "Das steinerne Archiv", dessen abweisender Titel gerade jungen lebenslustigen Leuten wenig verspricht - welcher Jugendliche liest schon gerne über Friedhöfe? - wäre nichtsdestoweniger gerade für die heranwachsende Generation äußerst lehrreich. Denn, wer nicht aus der Geschichte lernt, wird leicht ihr Opfer.

(Hans Schulz; 04/2002)


Traude Veran: "Das steinerne Archiv"
Mandelbaum Wien, 2002.
221 Seiten. ISBN 3-854-76057-4.
ca. EUR 14,90.
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