Veronika Beci: "Franz Schubert"

Fremd bin ich eingezogen


"Das Bild, das der Musikrezipient sich von Franz Schubert zu machen pflegt, ist immer ein reduziertes gewesen. War Schubert in der Gründerzeit der romantische, leidgeprüfte Liederkomponist, im Fin de siècle der kindlich gebliebene Einsiedler, in den vierziger und fünfziger Jahren der unglücklich liebende Biedermann, so ist in den Siebzigern im Zenit der 68er der Rebell wider väterliche Autorität gefragt, in den Achtzigern der psychisch leidende Melancholiker, während die Neunziger den Tänze schreibenden, walzerfreudigen Unterhaltungsmusiker am liebsten ausgeschaltet hätten." (Veronika Beci)

Abkehr von Klischeebildern

Wer über Franz Schubert heute eine Biografie verfasst, muss sich die Frage nach der Überflüssigkeit seines Unternehmens gefallen lassen. Immerhin wurde zu dem wenig aufregenden Lebenslauf des Wiener Komponisten schon stapelweise Manuskriptpapier geschwärzt, und so könnte man meinen, es sei längst schon alles gesagt und noch die beiläufigste Facette bereits zur Genüge ausgeleuchtet. Dass dem nicht so ist, erliest sich sogleich einmal aus dem oben angeführten Textzitat, welches veranschaulicht, dass jede Zeit ihr eigenes Bildnis von Schubert kultivierte, doch allemal nicht ernsthaft hinterfragt wurde, wer und wie er nun wirklich gewesen sei. Modische Klischeebilder und perspektivische Betrachtungsweisen dominierten in der Regel den biografischen Aspekt, und so blieb Schubert bei aller Bekanntheit im Grunde doch ein Unbekannter. Erst die aufgebrachten Diskussionen in Anschluss an Friedrich Lehners provokante Verfilmung des Schubertthemas "Mit meinen heißen Tränen" leiteten gegen Ende der 1980er-Jahre einen Prozess kritischer Versachlichung ein. Erstmals wurden mittels dieser filmischen Schuberttrilogie liebgewordene Schubert-Klischees, wie sie sich etwa in dem kitschigen Singspiel "Das Dreimäderlhaus" in verdichteter Weise manifestieren, ohne falsche Rücksichtnahme auf irgendwelche Befindlichkeiten, mit einer nur allzu menschlichen Existenzbeschreibung konfrontiert. Lehner zeichnete einen inmitten fröhlicher Geselligkeit vereinsamten jungen Mann, der wegen seines Verlangens nach ein wenig Lusterfüllung luetisch verseucht ist und - wiewohl genial - so doch für das Leben auf Erden nicht wirklich geschaffen scheint.
Also höchste Zeit, der kritischen Verfilmung eine ähnlich kritische Biografie nachfolgen zu lassen, die den virtuosen Melodienfinder über seine konkreten Lebens- und Zeitumstände zur Darstellung bringt und auch nicht den zeitweilig recht lockeren Lebenswandel (durchzechte Nächte, Bordellbesuche) sowie politische Auffälligkeiten (Schubert stand zeitweilig unter Polizeiaufsicht) verschweigt.

Das ereignislose Leben eines Arbeitsamen
Über den eigentlichen Lebensvollzug des am 31. Januar 1797 in Lichtental bei Wien geborenen und am 19. November 1828 in Wien Wieden an einer schweren Typhuserkrankung verstorbenen Franz Peter Schubert ließe sich vermutlich gar nicht so viel sagen. Sein Leben währte gerade einmal 31 Jahre lang, war wenig bewegt, da ohne Liebschaften oder besondere Engagements, und zudem in seinem routinemäßigen Tagesablauf von geradezu besessenem und allemal gleichförmigem Arbeitseifer bestimmt. Unermüdlich kritzelte er seine Noten in die Zeilen und schuf solcherart - wenig sensationell - Werk um Werk. Was soll man dazu sagen? Die chronologische Betrachtung gibt wahrlich nicht allzu viel her. Davon abgesehen mangelt es bei Schubert so ziemlich an schriftlichen Selbstzeugnissen, was die Lebensbetrachtung des prominenten Musikus natürlich erheblich problematisiert. Veronika Beci zieht aus dieser unmittelbaren Substanzlosigkeit ihres Thementrägers die einzig richtige Konsequenz und skizziert ihn vermittels einer umfassenden Erforschung des Milieus und der gesellschaftspolitischen Zeitumstände, in welchen sich Franz Schubert nun einmal bewegte. Sie skizziert ihn als Verkörperung näherer und fernerer Lebensverhältnisse, in deren Geflecht er eingewoben ist und die in ihm solcherart Gestalt erlangen, ohne jedoch mit ihm deswegen schon identisch zu sein. Eine gewisse Unschärfe ist dabei natürlich unvermeidlich, und vieles muss zwangsläufig spekulativ bleiben, doch würde eine isoliertere Betrachtungsweise wiederum nur zur Fortschreibung bereits sattsam bekannter Klischees führen.

Liberal und national
Wesentlich für die soziale Prägung der Person war zunächst die ebenso kriegerische wie revolutionäre Epoche der napoleonischen Fremdherrschaft über die deutsche Nation, daraus resultierend eine Zeit des nationalen Erwachens und der aufkeimenden bürgerlichen Emanzipierung, welche in Österreich mit äußerster Rücksichtslosigkeit durch die Despotie eines Fürsten Metternich drangsaliert wurde. Und wenn Franz Schubert selbst auch nicht eine einzige politische Schrift verfasst hat, die uns Heutigen seine politische Gesinnung verraten würde, so darf man doch von seinem Freundeskreis her auf eine gleichermaßen liberalistische wie deutschnationale Gesinnung des Komponisten schließen, wobei eine völkische Ausrichtung in jenen Tagen allerdings noch begründender Bestandteil einer kritisch-aufgeklärten und keineswegs einer deutschtümelnden Bewusstseinslage war. Die Pervertierung völkischen Bewusstseins zum Völker- und Rassenhass war anfangs des 19. Jahrhunderts noch nicht vollzogen, wenn auch immer schon keimend; man wehrte lediglich dem Anspruchsdenken der Fürstengeschlechter, welche Völker und Länderein unbeachtet des französischen Aufruhrs von 1789 weiterhin als ihr dynastisches Eigentum betrachteten.

Schubertiaden
Es ist also die vorherrschende Methode der Autorin, weniger die vereinzelte Person des Franz Schubert als vielmehr sein Umfeld zu ergründen, wobei sich eine Fülle von wissenswerten Details zum Kulturgeschehen der Epoche des gar nicht so idyllischen Biedermeiers in Österreich - aber auch in Deutschland - wie überhaupt zu prominenten Einzelpersonen aufzeigen lässt. (Exemplarisch zu erwähnen wäre diesbezüglich der Dichter und Dramatiker Franz Grillparzer, der sich in jüngeren Jahren bis zu den Revolutionswirren von 1848 als ein unbequemer Geist darstellt, welcher sich zugleich beruflich - wie so manch anderer namhafter Literat - als Zensurbeamter seinen Lebensunterhalt verdient. Eine Tätigkeit, die ihm zuweilen Qualen bereitet.) Was das nähere Umfeld - bestehend aus Freunden und nahen Bekannten - betrifft, gilt natürlich den so genannten Schubertiaden das Hauptaugenmerk der Autorin. Bei diesen Schubertiaden handelte es sich um durchaus illustre Zusammenkünfte hochbegabter Künstler und Intellektueller kritischen Geistes, die sich um den jungen Genius Schubert scharten und derer manche ihrer unbeugsamen Gesinnung wegen in Festungshaft landeten oder aus Wien verbannt wurden. (Beispielsweise der Tiroler Revoluzzer Johann Michael Chrysostomus Senn.) Aus der Prägnanz ihrer Charaktere schließt die Autorin auf das Denken des Komponisten Schubert, der immerhin seiner Freunde Poeme mit großem Verständnis für den unterschwellig gemeinten - wegen des allgegenwärtigen Obrigkeitsstaates allemal noch chiffrierten - Textgehalt vertonte.

Männerliebe und Syphilis
Nicht alles was Beci ausführt wirkt absolut überzeugend, doch alles scheint der Erwähnung wert und für die Erstellung eines ebenso umfassenden wie kritischen Schubertbildes schlussendlich unerlässlich. So verhält es sich auch mit dem für konventionelle Schubertianer gewiss besonders provozierenden Aspekt einer nicht auszuschließenden homoerotischen Beziehung des dreiundzwanzigjährigen Bohémiens zu seinem älteren Freund Johann Mayrhofer - ein als Zensurbeamter gefürchteter, doch insgeheim den Idealen der Französischen Revolution verbundener Dichter -, mit welchem Schubert zwischen 1819 und 1821 in Wohngemeinschaft lebte. Alles in allem betrachtet bleibt die Annahme einer Männerliebe zwischen Schubert und dem schwermütigen Johann Mayrhofer letztlich zwar eine vage und deswegen - Beci ist sich dessen bewusst - beinahe schon frevelhafte Spekulation, doch bezieht diese Mutmaßung ihre Plausibilität aus der hinreichend verbürgten tatsächlichen Homosexualität des Gefährten und aus diversen verklausulierten Andeutungen in lyrischen Texten Mayrhofers wie auch in spitzzüngigen Bemerkungen von Zeitzeugen, wobei Letztere jedoch auch als üble Nachrede ausgelegt werden könnten. Bedenkt man nun die sexuelle Unreife des jungen Schubert und die weitgehende Missachtung seiner wenig anziehenden Erscheinung durch das weibliche Geschlecht (dem er zweifellos in erotischem Verlangen zugetan war), so darf eine aus tristen Umständen erwachsene sexuelle Experimentierbereitschaft nicht von Vorneherein als Wirklichkeitswidrigkeit abgetan werden. Insoweit scheint auch dieser für manchen Leser wohl aufreizendste Aspekt in Becis Schubertbiografie jedenfalls einer eingehenderen Erörterung wert. Warum sollte er auch ausgeblendet bleiben? Genauso wie eine seriöse Biografie nicht den "Makel" der Syphiliserkrankung des Tonkünstlers zu vertuschen hat, die eine ekelige und zu jener Zeit oftmals tödlich endende Geschlechtskrankheit ist, mit welcher sich Schubert vermutlich durch den sexuellen Verkehr mit einer Prostituierten infizierte. Mitleid heimste er bei seinen Zeitgenossen damit übrigens nur wenig ein, denn nach Auffassung sittenstrenger Zeitgenossen - etwa auch seines Vaters - handelte es sich bei der Lues lediglich um ein durchaus verdientes Schandmal als Folge einer ruchlosen Lebensführung. Zum Schaden kam somit auch noch der Spott, bzw. die Stigmatisierung durch eine moralingesäuerte Umgebung, die kein Verständnis für Schuberts Sehnen nach ein wenig sexueller Lusterfüllung aufbringen wollte.
Es gilt also wie immer, keine falsche Zurückhaltung vorzuschützen, und Beci scheut sich in der Tat nicht, auch so genannte "heiße Eisen" mit bloßen Händen anzugreifen, wobei die jeweils betont sachlichen Abhandlungen zu den gelegentlich durchaus brisanten Details die Autorin über jeden Verdacht billigen Heischens nach aufrührender Sensation erheben. (Gegenständliche Biografie ließe sich ja durchaus marktgängiger bzw. reißerischer verfassen, etwa durch Ausschlachtung des ebenso ruchlosen wie verpfuschten Sexuallebens oder über eine stärkere Betonung der Freundschaft zu dem Lebemann und Frauenheld Franz von Schober, dem einige Interpreten vorschnell die Schuld an Schuberts Hurerein zum Vorwurf machen. Eine Schuldzuweisung, die wegen der hierbei eingehandelten Geschlechtskrankheit auch den frühen Tod des großen Komponisten mitumfasst und insoweit ungerecht wie auch verfehlt ist, als dass Schubert zu Lebzeiten sehr wohl Herr seiner selbst war, der wusste, was er wollte und tat, und nicht erst zum Laster verführt werden musste. Eine Fähigkeit zur selbstbestimmten Lebensgestaltung, die traditionelle Schubertbilder dem Komponisten bis vor kurzem noch schlichtweg absprachen, weshalb man des Verführers zur Unkeuschheit in Gestalt des verlotterten Freundes Schober anscheinend bedurfte.)

Ein Kind seiner Zeit
Veronika Beci charakterisiert Schubert in raffinierter Weise über die Betrachtung seines Umfelds als in sich widersprüchliche Persönlichkeit mit Affinität zur systemoppositionellen Bewegung des Vormärz, als kritischen Geist demnach, dessen besondere persönliche Tragik es ist, im Augenblick des sich abzeichnenden - künstlerischen wie auch geschäftlichen - Erfolgs vom frühen Tod ereilt zu werden. Weder pausbäckig niedlich noch von versponnener Verträumtheit gezeichnet, präsentiert sich somit ein Schubertbild, das seiner schonungslosen Ernsthaftigkeit wegen überzeugt und mit überkommenen Klischees romantischer Verfremdung, wie auch mit modernistischen Trugschlüssen krass gegenteiliger Art - etwa wie neuerdings die Mär vom kaufmännischen Realisten - aufräumt. Der historische Ausnahmemensch Schubert war vermutlich weniger jener entrückte Ausnahmemensch, zu dem man ihn bisher verfälscht hat, als viel mehr eher ein gar irdisches Geschöpf seiner Zeit, und in diesem Sinne insbesondere die Widerspiegelung seines regen sozialen Verkehrs in intellektuellen Zirkeln. Das populäre Heroenbildnis des in seiner tragischen Genialität gleichermaßen abgekapselten wie in allen seinen Lebensregungen naiv liebenswürdigen Einzelwesens verblasst angesichts der von Beci ausgebreiteten Faktenlage. Wer trotzdem an seiner lieb gewonnenen Vorstellung vom harmlosen Komponisten melodiöser Salonlieder für höhere Töchter festzuhalten gedenkt (ein wahrliches Biedermeiermotiv), der sollte von diesem Buch wohlweislich die Finger lassen, denn keines der landläufig tradierten Schubertbilder hält dem kritischen Befund der historischen Person stand.

(Tasso; 04/2003)


Veronika Beci: "Franz Schubert. Fremd bin ich eingezogen"
Artemis & Winkler, 2003. 300 Seiten.
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Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):

"Musikalische Salons. Blütezeit einer Frauenkultur"

Das erste kulturhistorische Sachbuch zum musikalischen Salon im 19. Jahrhundert, das die vergessene Rolle der Frauen im Musikleben dieser Zeit würdigt. (Artemis & Winkler)
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"Giuseppe Verdi"
Diese Verdi-Biografie setzt neue Akzente. Der Komponist wird nicht nur in seiner Bedeutung als größter Vertreter der italienischen Oper in ihrer Glanzzeit vorgestellt, sondern auch in seinen engen Beziehungen zur stürmischen Entwicklung Italiens und Europas im Zeitalter des Risorgimento, der italienischen Nationalbewegung, zu deren Aushängeschild der junge Verdi wurde - oder vielleicht auch von seinen Anhängern gemacht wurde. In Becis suggestiv geschriebener Biografie werden auch die Liebesbeziehungen und das Privatleben des oft publicityscheuen Maestros beleuchtet.
Veronika Beci würdigt Verdis Bedeutung für die Politik und Kultur Europas und zeigt, wie stark der größte italienische Operndramatiker im politischen und sozialen Leben seines bewegten Zeitalters verwurzelt war. (Artemis & Winkler)
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"Émile Zola"
Zum 100. Todestag am 29. September 2002 die einzige Zola-Biografie.
Veronika Beci hat die erste deutsche Zola-Biografie seit über zwanzig Jahren geschrieben. Ein großer Wurf, prall voll Pariser Leben.
Am 29. September 1902 starb in seinem Landhaus bei Paris der Schriftsteller Émile Zola. Der Autor von "Nana" und "Germinal" schrieb und lebte Weltliteratur, unvergessen bleibt sein dramatischer Auftritt als wortgewaltiger Kämpfer für den unschuldig verurteilten Juden Dreyfus ("J’accuse", 1898).
Gestützt auf umfangreiche Forschungen zeichnet Veronika Beci ein farbiges Bild des exzeptionellen Lebensweges von Émile Zola, von seiner Jugend in der Provence über die Pariser "Galeerenjahre", in denen er Freundschaft mit den Impressionisten schloss, bis hin zu den Turbulenzen seines Ehelebens: Zola, der Mann zwischen zwei Frauen: Alexandrine, der legitimen "Madame Zola", und Jeanne, der heimlichen Geliebten. (Artemis & Winkler)
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