Stephen King: "Atemtechnik. Winter"
"LT's Theory of Pets"

(Hörbuchrezensionen)


In einem namenlosen Club in New York treffen sich regelmäßig Ärzte, Rechtsanwälte und Angehörige ähnlicher Professionen, um sich von ihrem Berufsalltag zu erholen und sich mit Geschichten zu beschäftigen. Es gibt eine gut gefüllte Bibliothek mit bequemen Lesesesseln. Die Bücher sind in keinem Bibliothekskatalog der Welt verzeichnet, und es gibt keine Erwähnung der Verlage außerhalb dieses Clubs. Auch der Billardtisch in einem der Räume stammt von einer Firma, die nirgendwo außerhalb des Clubs verzeichnet ist. Betreut werden die Mitglieder durch eine Art Butler namens Stephen, und es gibt keine Aufnahmeformalitäten und auch keinen festgelegten Clubbeitrag. Und natürlich auch keine Frauen.

Neben dem Lesen, Billardspielen, moderaten Trinken und Rauchen ist das Erzählen von Geschichten die Hauptbeschäftigung der Clubmitglieder. Hierbei gilt das Motto "Die Geschichte zählt, nicht der Erzähler". Und die Mitglieder hören hier überaus unterschiedliche Geschichten: lustige, seltsame, gruselige und nachgerade grausame. Am letzten Donnerstag vor Weihnachten muss es immer eine Gruselgeschichte sein.

Eines Abends vor dem 24. Dezember erzählt ein Arzt die Geschichte einer ehemaligen Patientin, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg in seine Praxis kam und sich als Jane Smith eintragen ließ. Sie war unverheiratet, schwanger und brauchte für die Zeit ihrer Schwangerschaft ärztliche Betreuung. Und da war sie zu dem richtigen Arzt gekommen, denn der Erzähler hatte Geburtshilfe zu seinem persönlichen Steckenpferd gemacht, was in der damaligen Zeit durchaus ungewöhnlich war. Nachdem die von ihrer Situation keineswegs peinlich berührte junge Dame sich dem Arzt mit dem Namen Stansfield vorgestellt hat, entwickelt sich zwischen dem "radikalen" Arzt mit den neuen Methoden und der Dame in der unerfreulichen Situation eine sehr freundschaftliche Beziehung. Im weiteren Verlauf der Erzählung erfahren die Hörerinnen und Hörer viel über die Schwierigkeiten, mit der eine junge unverheiratete Frau in anderen Umständen im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts rechnen musste und wie ein Arzt diese Schwierigkeiten erfährt. Außerdem wird viel über die Schwierigkeiten von Schwangerschaften im Allgemeinen und über die Durchsetzung "natürlicher" Geburten im medizinischen Establishment im Besonderen erzählt.

Einer der Kernpunkte der Schwangerschaftsvorbereitung ist dabei eine spezielle Atemtechnik. Diese indianische Atemtechnik ermöglicht es der jungen Frau, eine schwere Konfliktsituation an ihrem Arbeitsplatz zu bewältigen, und sie vertraut dieser Technik voll und ganz. Doch als sie in der Nacht des 24. Dezember mit dem Taxi zum Krankenhaus fährt um ihr Kind zu bekommen, machen ihre Atemübungen den Taxifahrer so nervös, dass es in der Einfahrt des Krankenhauses zu einem folgenschweren Unfall kommt.

Dies ist eine Geschichte über Geschichten, über kleine billige Magie und die schreckliche Kraft des menschlichen Willens. Sicherlich eine der beeindruckendsten Novellen des 20. Jahrhunderts.
Erstmals veröffentlicht wurde sie unter dem Titel "Tod" in der Novellensammlung "Frühling, Sommer, Herbst und Tod", in der sich auch noch drei andere Meisterwerke befinden, die als "The Shawshank Redemption", "Stand by me - Geheimnis eines Sommers" und "Der Musterschüler" verfilmt wurden. Bei der Sammlung findet sich auch noch ein ausgiebiges Vorwort des Autors, das sich mit der Schwierigkeit der Veröffentlichung von Novellen auseinander setzt und ebenfalls sehr lesenswert ist. Die vier Geschichten, das Vorwort und die Verfilmungen zeigen sehr deutlich, dass Stephen King eben kein einfacher Horrorautor ist, sondern ein Meister des Erzählens, der einfach am häufigsten im Horrorgenre schreibt.

"LT's Theory of Pets"

Diese Geschichte wurde auch in "Everything Eventually" herausgebracht, aber zunächst gab nur diesen Mitschnitt einer Lesung in England (in der Royal Festival Hall in London), die von Stephen King selber durchgeführt wurde. Dabei ist zunächst einmal festzustellen, dass King wirklich ein hervorragender Interpret ist und auch von einer Bühne aus seine Geschichten überaus überzeugend - und auch amüsant - herüberbringt.

Die Lesung beginnt mit einer etwas makaberen Einstimmung des Publikums, gefolgt von einem Kommentar zu der Frage, warum King eigentlich immer Horrorgeschichten schreibt. Stephen King erklärt dazu, er denke eigentlich oft gar nicht daran, dass eine Geschichte sich so entwickeln könnte. Sehr oft nimmt er eine im Grunde witzige Idee, die sich dann im Laufe der Bearbeitung "in diese Richtung entwickelt" ...

Die lustige Idee hierbei war, dass sich zwei Ehepartner gegenseitig Haustiere schenken, und das jeweilige Haustier sich mehr an den Schenker als an den Beschenkten hängt. Und genau so ist es LT mit seiner Lulu Belle passiert, die ihm zunächst zum ersten Hochzeitstag einen Jack Russell-Terrier geschenkt hat, der sich allerdings sehr schnell als Gegner und Rivale des Hausherrn herausstellt, obwohl dieser sich anfangs sehr über den Hund gefreut hat. Im nächsten Jahr bekommt Lulu Belle von ihrem Mann eine kleine Katze, nachdem sie kurz zuvor vor einem Schaufenster voller junger Kätzchen fast vor Wonne gestorben war. Als dieses junge Tier ihr die Nase zerkratzt, wird sie das Haustier von LT.

Um den dritten Hochzeitstag herum ist die Beziehung so weit heruntergekommen, dass LT, als er von seinem Nacharbeitsbierchen heimkommt, einen Abschiedsbrief am Kühlschrank findet, während er gerade das Katzenfutter herausholen möchte. Lulu Belle und der Hund sind fort. Kurze Zeit darauf wird der Wagen, mit dem sie unterwegs war, in einem Straßengraben gefunden. Der Außenspiegel und die Fahrertür sind schwer beschädigt, und es findet sich Blut auf dem Fahrersitz, das aber nicht von einem Menschen stammt. Wenige hundert Meter entfernt liegt der verstümmelte Kadaver eines Jack Russell-Terriers. Anscheinend ist Lulu Belle das Opfer eines Axtmörders geworden - doch ihre Leiche wird nie gefunden.

Es ist eine Geschichte über Haustiere, Männer und Frauen, Zusammenleben, und über das Geschichtenerzählen selbst, was immer ein wichtiges Thema in Kings Werken ist. Auch wenn man "Everything Eventually" schon gelesen haben sollte, ist dieses Hörbuch sicherlich eine lohnende Anschaffung - und sei es nur, um die "Stimme des Meisters" zu hören.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 12/2003)


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Gelesen von Udo Schenk und Joachim Kerzel.
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