Volker Hage: "Des Lebens fünfter Akt"


Der Stillstand des Alters. Arthur Schnitzlers letzte Lebensjahre.

Als Lili Schnitzler sich mit 18 Jahren das Leben nahm, schien für ihren Vater Arthur Schnitzler die Zeit still zu stehen. Er war 66 Jahre alt, auf dem Höhepunkt seines Ruhms als Bühnenautor und Schriftsteller, umgeben von Bewunderinnen und Freunden. Sein großes Haus in der Sternwartestraße im Wiener Cottage war aber still und leer geworden, und langsam senkte sich ein Hauch von Wehmut darüber. Es ist die Melancholie eines leer gewordenen Lebens, das er zuerst mit der Vergangenheit zu füllen suchte. Er las die Tagebücher seiner Tochter, seine eigenen, er ließ sein Leben Revue passieren. Er wusste noch nicht, dass mit dem Selbstmord der Tochter der langsame Weg hinab begann. Von diesem Tag an würde sein Leben nur noch eines sein, das es abzuleben galt.

Drei Lebensjahre, von 1928 bis 1931, sollten ihm noch bleiben, in denen Arthur Schnitzler versuchte, sein gewohntes Leben fortzuführen. Reisen, Spaziergänge, Theater- und Opernbesuche, Frauen. Arbeit. In einem biografischen Roman zeichnet der Literaturkritiker und Schriftsteller Volker Hage ein privates Porträt, das nicht nur die Beschäftigung mit seinem Werk ergänzt, sondern in erster Linie zu Reflexionen über das Alter im Allgemeinen führt. Minutiös und detailliert werden mit Hilfe von Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen die Tage mit ihren Aktivitäten aufgezeichnet, Gedanken aufgegriffen und Beobachtungen notiert. Dabei entsteht die Geschichte eines Mannes, der in seinem eigenen Leben gefangen ist. Der nichts ändern kann und will, aber an dieser scheinbaren Ausweglosigkeit, ja Hoffnungslosigkeit leidet. Der Lebensstil als ein Perpetuum Mobile.

Auch wenn im Alter scheinbar alles beim Alten bleibt, die Gewohnheiten, die Umgebung, die Kontakte, so schleichen sich zunehmend Störungen ein, die Sinn und Freude rauben. Da ist sie dann, die Müdigkeit, eine bedrohliche Finanzsituation, der Tod, Eifersüchteleien und Schaffenskrisen. Manchmal legte sich Schnitzler jetzt tagsüber nieder, mit dem Gefühl zu alt zu sein, um all das zu ertragen. Am schlimmsten ist es im Morgengrauen, wenn er wach liegt und "ein unfaßbar namenloses Grauen" sich breit macht. "Ach, jeder Anfang war so leicht und voller Zuversicht", notiert er mit Blick auf die neue Liebe seines Sohnes. Aber im Alter verschwinden die Anfänge, und es bleiben nur Situationen des Abschieds. Es steigt in ihm die Ahnung auf, ein Mann von gestern zu sein, aus der Zeit gefallen zu sein, dessen Werk mit der Monarchie untergegangen ist.

Aber sie sind noch da. Frauen, die ihn umgeben und begleiten. Es mangelte ihm nie an Verehrerinnen, vor allem nicht an jungen. Das Alter spiele keine Rolle, wird einer Freundin in den Mund gelegt, weil er ein Dichter ist, von dem die Frauen annehmen, dass er sie besser als alle Anderen verstünde. Die Frauen waren ihm zugetan. Er kokettiert mit dem Alter, versucht seine eifersüchtige Geliebte mit dem Hinweis zu beruhigen, dass er ja ein alter Mann sei: die Nerven versagen, die Libido schwach, das Interesse an Frauen flau. Aber er jonglierte weiterhin mit seinen Frauenbeziehungen. Mit Olga, der Ex-Frau, mit Clara, der eifersüchtigen Gefährtin und Geliebten, mit Hedy, der Freundin, und mit Suzanne, der letzten großen Liebe. Er weigerte sich beharrlich, klare Verhältnisse zu schaffen. Er wollte sie alle und das gleichzeitig. Trennungs- und Verlustängste führten ihn immer wieder zu dem Versuch, mehrere Beziehungen, wenn auch unterschiedlicher Natur, gleichzeitig zu führen. Die Geliebte, die Ex-Frau, die Gesprächspartnerin und Begleiterin, alle gaben ihm die emotionale Sicherheit, die er brauchte. Sie betreuten ihn, leisteten Gesellschaft, lasen Korrektur. Und liebten ihn.

In seinem letzten Lebensjahr lässt der Autor ihn im Gespräch mit seiner Freundin Hedy resümieren: "Ich empfinde meine ganze Situation als unmoralisch und irgendwie lächerlich." Immer öfter verweilt das Gefühl des Stillstands, des Verharrens, der Verlorenheit. Ein Schleier von Vergeblichkeit und Traurigkeit breitet sich über diese letzten Jahre aus, den auch die letzte Liebe nicht zu lüften vermag. Und ein Gefühl der Hilflosigkeit legt das Leben lahm.

Volker Hage gelingt die literarische Umsetzung seines biografischen Romans bisweilen recht mangelhaft, sie wirkt öfters unbeholfen und platt. Allerdings glückt es ihm, ein nachdenklich machendes Bild des Alters in seiner einsamen Hoffnungslosigkeit erkennbar zu zeigen. Es ist eine resigniert melancholische Sicht. Alles bleibt wie es ist. Glück, Trauer, Verlogenheit. Es rinnt einfach aus. Das Leben. Es ist einfach genug.

Ein Zitat Hugo von Hofmannsthals, das der Autor einflicht, fasst es treffend zusammen: "Ein Mensch lebt und wartet immerfort auf den Moment, der das Zweideutige und Vergebliche seines Lebens endgültig aufhebt, dann kommt der Tod."

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 11/2018)


Volker Hage: "Des Lebens fünfter Akt"
Luchterhand, 2018. 320 Seiten.
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Volker Hage, geboren 1949 in Hamburg, kam nach Stationen bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und der "Zeit" zum "Spiegel", wo er seit 1992 als Literaturredakteur arbeitet. Er hatte Gastprofessuren in Deutschland und den USA inne. Als Herausgeber und Autor zahlreicher Bücher hat er die deutsche sowie die internationale Literaturentwicklung kritisch beobachtet und kommentiert. Er ist einer der bekanntesten Literaturkritiker im deutschsprachigen Raum.