Brigitte Hamann: "Hitlers Wien"

Lehrjahre eines Diktators


Obgleich nicht mehr ganz taufrisch und in schnelllebigen Zeiten gewissermaßen schon "Schnee von Gestern", ist dieses Buch - allein schon seiner zeitlosen Thematik wegen - doch nach wie vor eine eingehende Würdigung wert. Gegenstand der historischen Betrachtung ist einerseits der jugendliche Adolf Hitler und andererseits jenes sozial- und kulturgeschichtliche Umfeld, welches - so die These von Hamann - die Weltsicht des jungen Mannes nachhaltig prägen sollte. Womit die kaiserliche Residenzstadt Wien gemeint ist.

Hitler, der seiner Herkunft nach ein Abkömmling aus ebenso biederem wie provinziellem oberösterreichischen Beamtenmilieu ist, kommt erstmals im September 1907 nach Wien, in eine Stadt, die ihn gleichermaßen fasziniert wie überfordert. Sein erklärtes Ziel ist die Wiener "Akademie der Bildenden Künste", wo er zu studieren gedenkt. Zeitweilig gemeinsam mit seinem Jugendfreund August Kubizek, einem Musikstudenten, bezieht Hitler vorerst eine bescheidene Unterkunft im Hinterhof des Hauses Stumpergasse 31 in Mariahilf und führt forthin das Leben eines kunstsinnigen Sonderlings und verkannten Genies, denn die gestrengen Professoren der Kunstakademie wissen sein künstlerisches Talent nicht zu schätzen. Die Bewerbung um einen Studienplatz scheitert.

Hamann beschreibt Hitlers Aufenthalt in der fremden großen Stadt als unablässigen sozialen Abstieg, der allerdings - so scheint es fast - in einem bestimmten Sinne nicht ganz unbeabsichtigt ist, vielmehr die logische Konsequenz einer beinahe schon prinzipientreuen Eigenwilligkeit ist, denn der junge und in mehrfacher Hinsicht seltsame Sturkopf aus Braunau am Inn vermeidet es strikt, einen sozusagen anständigen bürgerlichen Beruf zu ergreifen, fristet stattdessen die unsichere Existenz eines bald schon verzweifelt nach Obdach suchenden Gelegenheitsarbeiters und freischaffenden Kunstmalers. Was die Vermarktung seiner wohl eher aus materieller Notwendigkeit denn aus innerem Antriebe produzierten Bilder betrifft, so sind seine Geschäftspartner überwiegend jüdische Kunsthändler, zu welchen er zuweilen sogar freundschaftliche, jedoch niemals feindselige Beziehungen unterhält. Es mag überraschen - und dieses Buch ist nicht arm an Überraschungen - wenn Hamann konstatiert, dass für die bis 1913 andauernde Wienzeit Adolf Hitlers keine einzige antisemitische Aussage des späteren Judenhassers und Judenschlächters verifiziert werden kann. Sehr wohl ist jedoch festzustellen, dass Hitler für das unerhört antisemitische und zusehends rassistische Gesellschaftsklima Wiens ein offenes, obgleich zu jener Zeit noch nicht allzu empfängliches Ohr hatte. Hitler wurde indoktriniert, jedoch noch nicht gänzlich verdorben. Die Parolen der Judenverächter, allen voran jene des populären, weil populistischen Wiener Bürgermeisters Dr. Karl Lueger, prägten sich seinem - überaus stark entwickelten - Gedächtnis ein und sollten später, wenn schon nicht wortidentisch, so doch dem konkreten Wortsinn nach, in radikalisierter Form die ideologische Substanz von Hitlers Rassenwahn bilden. Hamann führt in diesem Kontext den Nachweis einer wiederholt annährenden Übereinstimmung von Parolen prominenter Wiener Antisemiten mit Passagen in Hitlers Propagandaschrift "Mein Kampf".

"Hitlers Wien" meint in erster Linie weder die kosmopolitische Heimatstadt eines Karl Popper noch die viel gerühmte glanzvolle Kulturmetropole des 'fin de siècle', welche ob ihrer Leistungen in Wissenschaft und Kunst die Welt staunen machte, sondern Thema des Buches ist viel eher das Wien der (nur) scheinbar sittenstrengen "Kleinen Leute" mit ihrer heuchlerischen Doppelmoral. (Wien war tatsächlich ein wahrhaftiges Sündenbabel.) Im Fokus der historischen Betrachtung steht das Wien der Zuwanderer und Proletarier, der Hetzer und der Hasser, der bigotten Pfaffen und der wahnbesessenen Spinner, und dann natürlich auch jenes Wien der deklassierten Männerheimbewohner, deren einer bekanntlich der sozial abgesunkene Adolf Hitler war. Und es ist nicht zuletzt jenes multikulturelle Wien - ein Ort des Völkerwirrwarrs -, das als Kreativ- und Herrschaftszentrum einer europäischen Großmacht aus seiner bunten Vielfalt einerseits so ein wunderbares Übermaß an schöpferischer Schaffenskraft bezog, andererseits jedoch, der damit verbundenen Überfremdung wegen, unablässig zusehends eskalierende Volksgruppenkonflikte produzierte, was die liberaleren Bewohner der alten Reichsstadt verstörte und die plebejische Überzahl entzweite. Kurzum: Hamanns Wien-Geschichte hat eben nicht eine nostalgisch verklärte Walzerseligkeit zum Gegenstand, die gern und oft als Wienklischee herhalten muss, sondern den Ungeist der üblen Gesittung oder auch - um es kräftig auszudrücken - den Unrat der Wiener Gosse.

Hamanns betont sachlich gehaltene Ausführungen zur Geschichte Wiens, als multiethnisches Zentrum eines absterbenden, weil siech gewordenen Vielvölkerstaates, nähren über die Beschreibung von darin enthaltenen selbstschädigenden Neigungen den Zweifel an der - ideell gedacht durchaus wünschenswerten - Lebensfähigkeit des multikulturellen Gesellschaftsmodells. Während der Lektüre drängt sich wiederholt die Frage auf, ob denn der alte Traum vom friedlichen Miteinander der Nationen mehr als eine sozialromantische Utopie ist. Nur allzu deutlich manifestiert sich das Scheitern der hehren Idee eines konstruktiven Zusammenlebens von Angehörigen aus Völkern unterschiedlicher Wesensart im Gefüge eines gemeinsamen Staatsverbands. Was sich dem unbestechlichen Blick der Historikerin darbietet, ist eben kein harmonisches Miteinander der Ethnien, kein einheitliches Handeln unter der Ägide eines verbindenden Gemeinsinns, sondern vielmehr ist es kleinlicher Nationalitätenhader, der den ressentimentüberfrachteten Alltag eines völkisch motivierten Gegeneinanders bestimmt. Insbesondere Nationalisten deutscher und tschechischer Volkszugehörigkeit sind einander spinnefeind und ihre demokratisch gewählten Abgeordneten im gemeinsamen cisleithanischen Reichsrat geraten nicht nur einmal handgreiflich aneinander.
Hitler erlebt das Parlament am Wiener Ring dann auch als abstoßendes Tollhaus, wo jede Nationalität der erklärte Feind der anderen ist und nicht Sachpolitik, sondern dumpfe Aversionen den politischen Alltag prägen. Im Völkerstreit keimen da wie dort nationalextremistische Strömungen. Sie hassen einander und entfesseln sich hierin bis zum schamlos ausgelebten Exzess. Nur was das allerorts gepflegte Ressentiment gegen Juden betrifft, sind sich die Rabiaten einig.
Das neu eingerichtet Parlament an der Wiener Ringstraße, wo heute vergleichsweise gähnende Langeweile residiert, war zu jener Zeit ein Ort unaufhörlichen Nationalitätenzanks; untergriffige Gehässigkeiten, ja sogar Schlägereien zwischen den Abgeordneten waren an der Tagesordnung. Wer Freistilkämpfe erleben wollte und wer sich daran ergötzen konnte mit anzusehen, wenn erwachsene und privat gar honorige Herren miteinander wie Rotzbuben balgten, dem war ein Besuch des Parlaments der cisleithanischen (also der westlichen) Reichshälfte der Donaumonarchie wärmstens empfohlen. Hier kam jedes brachiale Gemüt auf seine Rechnung; der Zuschauer wurde in seinen groben Erwartungen kaum einmal enttäuscht. Dringend nötige Beschlüsse - zum Beispiel zur Sozialgesetzgebung - wurden von nationalistischen Eiferern aus wahrlich niedrigen Motiven über Jahre hinweg mit allen durch die Geschäftsordnung ermöglichten Tricks blockiert. Parlamentarische Minderheitenrechte wurden zum Zweck der Sabotage einer supranational gedachten Parlamentsarbeit pervertiert und ad absurdum geführt. Insbesondere tschechische und deutsche Nationalisten - einander unversöhnlich hassend - bemühten sich nach Kräften die noch ungefestigte, weil junge und unfertige Demokratie in den Ruin zu treiben.
Das Herrscherhaus der Habsburger sah dieser Inszenierung blanken Irrsinns wie paralysiert zu, wohl erahnend, dass dieser Verfall politischen Anstands nicht mehr zu revidieren war. Mit Gutmütigkeit versuchte man das Böse zu bannen und wohl wahr, der greise Kaiser Franz Josef war das Muster eines gütigen, jedoch ohnmächtigen Landesvaters, Patron einer auseinander strebenden Völkerschar, welche er mit Müh' und Not vermittels des charismatischen Kitts seiner Amtswürde von Gottes Gnaden zusammenhielt. Der Forderung nach einer längst schon überfälligen Demokratisierung aristokratischer Herrschaft hatte er sich nur unwillig gefügt. Und endlich war es nun wirklich geworden, das von seinen streitenden Völkern herbeigesehnte Parlament, doch ein unwürdiges Schauspiel gab sich jetzt im Hause am Wiener Ring die Ehr' und formte im Bewusstsein der zuschauenden Menschen einen abschätzigen Begriff von Demokratie, wie ihn sich nicht zuletzt auch ein Adolf Hitler alsbald zueigen machen sollte.

In dieser ebenso peinlichen wie peinigenden Atmosphäre stetigen Nationalitätenhaders gediehen obskure Theorien - vor allem auch Rassentheorien, wie sie abstruser nicht mehr sein könnten. Brigitte Hamann macht es sich zur Aufgabe, die führenden Rassen- und Herrenmenschentheoretiker dieser nun schon fernen Tage im Einzelnen - zum Werk und zur Person - in ihrer ganzen Widersinnigkeit zur Darstellung zu bringen und in der Tat, es liest sich sonderbar, in der zeitlichen Distanz zwar durchaus vergnüglich, doch damals - in aufgeheizter Stimmungslage - nahm man die nur allzu Lächerlichen mitsamt ihren himmelschreienden Dummheiten ernst und lieh ihnen übergebührlich viel Gehör. Guido von List, Lanz von Liebenfels (mit angemaßtem Adelstitel), Hans Goldzier und wie immer sie hießen, waren teils zwielichtige Figuren von meist pseudointellektuellem Naturell, allemal völlig verrannt in ihre Pseudowissenschaft von wegen "Herren-" oder "Edelrasse" im Gegensatz zu "Sklaven-" oder "Unterrasse". Unter den vorgestellten Wiener Theoretikern gesteht Hamann lediglich dem - 1880 als Juden geborenen und später zum Protestantismus konvertierten - Philosophen Otto Weininger intellektuelle Tiefe zu, obgleich Weiningers Denken in seiner pathologisch anmutenden Aversion gegen die Frau als "universale Sexualität", deren blinder Instinkt Laster und Unmoral gebiert und dem Mann im Koitus seine Schöpferkraft raubt, folglich im weibischen Zeitalter Originalität durch Originalitätshascherei ersetzt wird, nicht die Spur weniger abstrus wirkt, als all das Andere, was sich ansonsten noch so an finsterer Welterklärung in den wunderlichen Abgründen einer bis zur Selbstkarikatur dilettierenden "Wiener Geisteskultur" jener Tage darbietet. Otto Weiniger, der weibisch mit jüdisch gleichsetzte, zerbrach an den schmerzlich erfahrenen weibischen und jüdischen Aspekten seiner eigenen Person, weshalb er als 23jähriger 1903 freiwillig aus dem Leben schied.
Hamann geht nun davon aus, dass Hitler, welcher durchaus leidenschaftlich, obgleich in recht eigentümlicher und wohl auch selektiver Manier, der Literatur frönte, während seiner Wiener Zeit die Schriften der Wiener Theoretiker über das Studium von Primär- und Sekundärliteratur in sich aufgenommen und schlussendlich deren Weltanschauung zur Fundierung seiner eigenen verqueren Rassentheorie herangezogen hat.

Während der Jahre seines Wienaufenthalts entfaltet sich, so Hamann, nicht nur der Keim zu Hitlers rassistischer Weltanschauung, deren spätere Militanz noch mörderisch werden sollte, sondern in dieser Zeit vollzieht sich ebenso seine politische Identitätsfindung an den Beispielen gleichermaßen autokratischer wie demagogischer Vorbilder. Hitler orientiert sich an politischen Leitbildern rechtspopulistischer Provenienz, wie etwa an dem Führer der "Alldeutschen" Georg Schönerer, der sich im katholischen Österreich mit seiner unversöhnlichen "Los von Rom!"-Kampagne jedoch sukzessive ins politische Abseits manövriert, oder an dem Volkstribun Karl Lueger, der als Wiener Bürgermeister - aus vorwiegend populistischen, aber wohl auch gesinnungspolitischen Motiven - einem zeitweilig aggressiven christlichen Antisemitismus huldigt und die ganze Periode seiner Regentschaft über eine unerbittliche Politik der Germanisierung betreibt, die, wenn nötig, keineswegs die Anwendung repressiver Methoden scheut. (Das von Lueger eingerichtete Ritual des "Wiener Bürgergelöbnis" umfasste einen Schwur auf den "deutschen Charakter der Stadt Wien", der jedem Neubürger, gleich welch nationaler Herkunft dieser auch immer war, abgenötigt wurde und in weiterer Folge auch getreu praktiziert werden musste. Ansonsten konnten unliebsame Konsequenzen drohen.) Zurückblickend genierte sich Hitler in späteren Jahren zwar nicht ob der sentimentalen Laune, des christlichsozialen Dr. Karl Luegers schwärmerisch zu gedenken, nahm sich gleichzeitig jedoch die Freiheit heraus, an seinem einstigen Idol kritisch zu beanstanden, dass dessen Antisemitismus in letzter Konsequenz immer halbherzig, allzu versöhnlich und vor allem nicht in einem biologistisch verstandenen Sinne rassistisch, sondern bestenfalls kulturrassistisch gewesen sei. Lueger verlangte und erzwang zwar Integration in die deutsche Leitkultur, und das besonders nachdrücklich in Bezug auf die zahlreichen Tschechen der Wiener Stadt, deren bekennende Volksgruppe er solcherart zu dezimieren verstand, doch wer sich diesem Zwang zur völkischen Anpassung nicht widersetzte, wer sich also opportunistisch gab, der durfte ungesehen seiner Herkunft auf des Bürgermeisters Gönnerhaftigkeit zählen.
Dieses System der "Eindeutschung" nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche hielt Hitler für zuwenig konsequent. Auch hier liege seiner Meinung nach das "Volkstum, besser die Rasse, eben nicht in der Sprache, sondern im Blute". Die Germanisierung habe "in meiner Jugend zu ganz unglaublich falschen Vorstellungen" verleitet. Es sei aber "ein kaum fasslicher Denkfehler", zu glauben, "dass, sagen wir, aus einem Neger oder einem Chinesen ein Germane wird, weil der Deutsch lernt". Das sei "eine Entgermanisation" und der "Beginn einer Bastardisierung, die Vernichtung germanischen Elementes." Die in der Vielvölkermonarchie Jahrhunderte lang praktizierte Blutvermischung bedeute die "Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse."
Am Beispiel dieser Hitlerschen Kritik von Luegers Politik der bloßen Zwangsassimilierung lässt sich der überhaupt nicht so banale Unterschied zwischen deutschtümelnder Repression und rassistischer Bestialität erahnen. Die Wiener waren nach Hitlers Begriff übrigens als "eine Folge der starken jüdisch-tschechischen Mischung" überwiegend aufrührerische Bastarde und so ganz im Sinne dieser Auffassung monologisierte Hitler am 25. Juni 1943 im kleinen Kreis: "Die Juden habe ich aus Wien schon heraus, ich möchte auch noch die Tschechen hinaus tun."

So manch Einer fragt heute, wie es denn nur möglich sein konnte, dass in einem derart hoch entwickelten Gemeinwesen wie der einstigen künstlerisch-intellektuellen Metropole Wien, wo sich wundersam Kreativkraft ballte wie noch selten zuvor an einem anderen Ort, repräsentiert durch große Namen wie Sigmund Freud, Gustav Mahler, Arthur Schnitzler oder Ludwig Wittgenstein, um nur einige zu nennen, zugleich ein geistiges Elend seinen Anlauf nahm, das von einem "deutschen Edelvolk" schwärmte, krudeste Ariermythen zelebrierte und kurzschlüssig Slawen oder Juden als Ursache allen Ungemachs verdächtigte, solcherart einen Ungeist gebar, der über seinen schlussendlichen Vollstrecker, Adolf Hitler, den Namen dieser Stadt für immer in die Nähe eines Verbrechens apokalyptischen Ausmaßes stellt.
Brigitte Hamann versucht auf diese Frage, die eine jede höhere Kultur ob ihrer heimlichen Abgründe fragwürdig erscheinen lässt, eine zwar nicht das Unheil rechtfertigende jedoch die Herkunft des Unfassbaren erklärende Antwort zu geben. Einmal hat sich der von der Habsburgerdynastie verfolgte romantische Traum von einem friedlichen Miteinander unterschiedlicher Völkerschaften im Rahmen einer Reichsidee bei bleibenden Widersprüchen einfach nicht realisieren lassen. Die edle Idee ist gewissermaßen an den verbohrten Niedrigkeiten menschlichen Zusammenlebens selbst gescheitert. Nationale Interessen wurden verabsolutiert und über jedes Gemeininteresse gestellt. Des Weiteren erwiesen sich ungünstige Zeitumstände - in Form einer massiven ostjüdischen Zuwanderung aus dem rückständigen Osteuropa, wo Pogrome die Juden zur Flucht in Richtung Westen zwangen - für eine Praxis vernünftiger Gemeinschaftlichkeit gar wenig zuträglich, denn nichts scheint ein modernistisch gesinntes europäisches Selbstverständnis mehr zu erzürnen, als die durch eine Zuwandererpopulation im Alltag ostentativ praktizierte Folklore eigensinniger Andersartigkeit, welche im stolzen Bewusstsein ihrer tugendlichen Überlegenheit jeden Kompromiss mit einer mehr oder weniger aufgeklärt-liberalen Lebensart als Verrat an den überlieferten und als unumstößlich, weil orthodox aufgefassten Grundsätzen von Sitte und Moral a priori ausschließt.
Die in ihren althergebrachten Sitten und Gebräuchen beharrlich verwurzelten, deswegen zur Assimilierung nicht bereiten Ostjuden, strömten in großer Zahl nach Wien und verstärkten durch ihre selbstbewusste Integrationsverweigerung bereits vorhandene antisemitische Vorbehalte gegen die rund 200.000 Wiener Juden. Vorbehalte also, welche infolge der öffentlich inszenierten jüdischorthodoxen Andersartigkeit immer deutlicher in Rassenantisemitismus umschlugen. Eingesessene, assimilierte Wiener Juden fühlten sich ob der fatalen Entwicklung verunsichert, wenn "sie im Zeichen des Rassenantisemitismus plötzlich auf eine Stufe gestellt wurden mit den zerlumpten Glaubensbrüdern aus dem Osten", den "Kaftanjuden", die im stolzen Überlegenheitsgefühl des "wahren Judentums" lebten, den Riten und Sitten der Väter getreu.
Es geht Hamann an dieser Stelle nicht um eine hinterfotzige Umkehr der Schuldfrage, um eine ebenso verkehrte wie verkehrende Schuldzuweisung an die Adresse des Opfers, welches solcherart unversehens die tätliche Ursache des eigenen Unglücks wäre, viel mehr ist die Kluft, welche sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen östlichen "jüdischen Juden" und westlichen "deutschen Juden" auftut nur zu deutlich, wie denn auch die fatalen Folgen der ostjüdischen Wanderungsbewegung für das gesellschaftliche Klima keinesfalls bagatellisiert werden sollten.
Die Brisanz verdeutlicht sich nicht zuletzt an jüdischen Kommentaren zur Ostjudenproblematik. So schreibt der westjüdische Elias Canetti in seinem Bedürfnis um Abgrenzung gegenüber den Zuwanderern: "Sind das nicht zwei Arten, zwei Rassen fast oder wenigstens zwei Lebensdisziplinen?" Und ganz ähnlich der westjüdische Schriftsteller Jakob Wassermann: "Sah ich einen polnischen oder galizischen Juden, sprach ich mit ihm, bemühte ich mich, in sein Inneres zu dringen, seine Art zu denken und zu leben zu ergründen, so konnte er mich wohl rühren oder verwundern oder zum Mitleid, zur Trauer stimmen, aber eine Regung von Brüderlichkeit, ja nur von Verwandtschaft verspürte ich durchaus nicht. Er war mir vollkommen fremd, in den Äußerungen, in jedem Hauch fremd, und wenn sich keine menschlich-individuelle Symbiose ergab, sogar abstoßend." Jakob Wassermann thematisierte das beziehungsweise sein Problem mit den Ostjuden in seinem Buch "Die Juden von Zirndorf".
Der Ostjude Joseph Roth analysierte laut Hamann die Bewussteinslage der Assimilierten aus anderer Perspektive und deswegen naturgemäß kritischer: "Es ist eine oft übersehene Tatsache, dass auch Juden antisemitische Instinkte haben können." Und der Politiker Hitler lehnte solcherlei Differenzierungen in gute und schlechte Juden sowieso als Scheingefechte ab: "Dieser scheinbare Kampf zwischen zionistischen und liberalen Juden ekelte mich in kurzer Zeit schon an." Für ihn galt, so Hamann, ob "deutscher" Jude oder Ostjude, allein die "Rasse".

Auf jeden Fall dürfte die mit der - nicht zuletzt ostjüdischen - Zuwanderung verbundene Überfremdung Wiens, begleitet durch eine gleichzeitige Kriminalitätszunahme, für die fortschreitende Verhärtung und schlussendliche Bestialisierung des geistigen Klimas in der Stadt nicht unerheblich gewesen sein. Brigitte Hamann scheut sich nicht, diese unbequeme historische Tatsache anzusprechen. Das ostjüdische Feindbild wurde tagtäglich in den Zeitungen beschworen und das nicht immer zu unrecht, denn beispielsweise in den kriminellen Handel mit versklavten Mädchen waren oftmals osteuropäische Juden verwickelt. Die cisleithanischen Judengemeinden kehrten dieses Kriminalitätsproblem übrigens auch nie unter den Teppich, sondern drangen auf Aufklärung und Offenheit und forderten den Kriminellen das Handwerk zu legen - um den Mädchen zu helfen, aber auch, um dem Antisemitismus nicht weitere Nahrung zu geben. So berichtete die zionistische Wiener "Neue National Zeitung" im Jahre 1913, unter 39 galizischen Frauenhändlern seien 38 Juden. Ein anderes Mal brachte sie die Meldung, dass 90 Prozent der 3000 Prostituierten in Argentinien Jüdinnen sein. Darunter ein hoher Anteil so genannter verschleppter "Austríacas".
Der im kollektiven Bewusstsein jener Tage kursierende Typus des kulturprimitiven Ostjuden mit krimineller Neigung prägte das Vorurteil vom hässlichen Juden, der sich gegen das christliche Abendland verschwört. Dass die assimilierten Westjuden jedoch in hohem Maße die kulturtragende Schicht bildeten - was ja übrigens auch Hitler als löblich bemerkte -, somit also als Menschengruppe dem Gemeinwohl unzweifelhaft nützlich waren, und das u.A. deswegen, weil sie danach trachteten, ihren "jüdischen Makel" - das Stigma ihrer übel denunzierten Herkunft - durch die Erbringung von besonderen Leistungen zu kompensieren, was sich mitunter in ihrem daher zu verstehenden Bildungs- und Kultureifer äußerte, demnach sie dann auch an Universitäten weit über ihren Bevölkerungsanteil hinaus vertreten waren (1912 betrug der jüdische Anteil an den höheren Schülern in Wien 47,4 Prozent; und bei den Studenten fast ein Drittel) und sodann sich aus ihrer Mitte ein großer Teil des für die Allgemeinheit so bedeutsamen Gelehrtenstands rekrutierte, wie denn schlussendlich auch die gepriesene österreichische Literatur jener Tage mit Franz Kafka, Franz Werfel, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig im Grunde genommen ein Verdienst dieser jüdischen Volksgruppe war, das alles blieb angesichts des ungefälligen sozialen Elends der Ostjuden außer Bedacht oder wurde böswillig gegen die Juden gewendet. Die öffentliche Wahrnehmung des Juden verlegte sich zusehends darauf, den um Assimilation bemühten Westjuden in seiner respektablen Besonderheit zu missachten, und orientierte sich stattdessen stereotyp am unattraktiven Zerrbild des "Kaftanjuden", dessen wenig schmeichelhafte Typisierung einer rassistischen Terminologie unterlag. So wurde nun denn der Jude zum Untermenschen stigmatisiert und solcherart der Holocaust mental vorbereitet.

In der soeben dargelegten Thematisierung der Ostjudenfrage liegt dann wohl auch die besondere Brisanz dieses Buches von Brigitte Hamann, welches vordergründig betrachtet zwar eine Biografie Adolf Hitlers ist, mit schwerpunktmäßiger Konzentration auf seine Jugendjahre im Sozialisierungsraum von Wien, davon abgesehen handelt es sich bei "Hitlers Wien" jedoch um ein Schriftwerk, das ohne Weiteres als Aufklärungsliteratur zu erachten ist, welche vermittels des historischen Beispiels der Stadt Wien die Problematik einer verstörenden Überfremdung von Lebenswirklichkeiten auf eine intellektuell aufrührende Weise angeht. Die unter multikulturellen - oder zutreffender: multiethnischen - Verhältnissen lebende Bevölkerung der kaiserlichen Residenzstadt Wien, mit ihrem hohen Anteil an integrationsresistenten Immigranten, erwies sich laut Hamanns Schilderungen als besonders anfällig für die Herausbildung einer aggressiven Rassenideologie, die sich über die Inszenierung von Nationalitätenkonflikten und über die Kultivierung von völkischen Ressentiments den Weg in die Köpfe und Herzen der Menschen bahnte und solcherart massenwirksam wurde. Gewiss, eine hetzerische Propaganda und ein fahrlässiger Umgang mit Gefühlen taten ihre Wirkung, doch waren es letztlich die alltäglich erfahrbaren Lebensumstände, welche die Parolen der Volksverhetzer als glaubwürdig, weil als unmittelbar nachvollziehbar auswiesen. So war um 1910 in etwa jeder fünfte Wiener tschechischer Herkunft, obgleich sich wegen des allgegenwärtigen Germanisierungszwangs bei einer zu dieser Zeit abgehaltenen Volkszählung nur rund 6 Prozent der Wiener zu einer tschechischen Abstammung bekannten. Und die späteren Wohngegenden Hitlers wiesen überhaupt nichtdeutsche Mehrheiten auf, wodurch sich der junge Mann mit Herkunft aus einem eher homogen deutschen Siedlungsgebiet Österreichs in Wien um sein Recht auf Heimat betrogen fühlen konnte. Was ihn für die Parolen der Wiener Arierfraktion natürlich empfänglich machte.

Hamann bereitet mit ihrem Buch also eine Thematik auf, der es nicht nur nicht an Brisanz mangelt, sondern die übrigens nicht aktueller sein könnte, bedenkt man nur einmal das gegenwärtig mit Nachdruck vorangetriebene Projekt einer Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Südosteuropa und die Türkei. Ziel der expansionistischen EU-Bestrebungen ist die Errichtung eines supranationalen Wirtschaftsraums multiethnischer Prägung. In diesem Sinne wird entgrenzt, ohne viel Bedacht auf unterschiedliche Eigenheiten im kulturellen Selbstverständnis der europäischen und neuerdings auch anatolischen Völkerschaften. Aus Unterwürfigkeit gegenüber dem Fetisch Wirtschaft werden ökonomisch angeregte Emigrationsströme so ziemlich unreflektiert, weil immer nach Maßgabe des ökonomisch Zweckmäßigen, hingenommen, ja sind sogar im Sinne einer wachstumsorientierten Bevölkerungspolitik erwünscht, ungeachtet der kritischen Frage nach deren sozialer Verträglichkeit. Neokapitalistische Gemeinwesen sind letztlich multikulturell organisiert, wobei allein die Flexibilität der Arbeitskraft - Niederlassungsfreiheit - als menschlicher Primärwert zählt. Dass der Mensch hinter dem Faktor Arbeit jedoch eine kulturelle Identität hat, die möglicherweise in der Tendenz problematisch ist, das wird ausgeblendet. Der Philosoph Slavoj Zizek argwöhnte nicht zuletzt deswegen in seinem Buch "Ein Plädoyer für die Intoleranz" gegen die toleranten Multikulturalisten als charakteristische Kumpane eines globalisierten Kapitalismus.
Die Habsburgermonarchie mit ihrem Zentrum Wien war einst selbst eine Art Europäische Union im Kleinen, der es trotz guten Willens der Herrschenden nicht gegeben sein sollte, einander widerstrebende Völker in einem als "Völkerkerker" denunzierten Staatsgebäude zu vereinen. Eine Politik, welche die Tatsache der multiethnischen Gesellschaft sodann einfach nur zur Kenntnis nahm und - wohl auch mangels Alternative im Vielvölkerstaat - ihre Herrschaftsdoktrine darauf aufbaute, erwies sich geschichtlich als wehrlos gegenüber einem aufkeimenden Rassenhass, dessen höchste Tugend immer noch der Untergang alles Andersartigen ist. Die Stimme der Vernunft jedoch - im Wien von anno dazumal standen die Sozialdemokraten dafür ein - verhallt ungehört, sobald die gesellschaftlichen Verhältnisse den lauthals tobenden Nationalisten günstig sind. Diese Mahnung gibt uns Brigitte Hamann als aufmerksame Leser mit auf den Weg.

Zum Abschluss ist zu resümieren: "Hitlers Wien" ist ein Buch von einzigartiger Güte, das romantische Ideen in Frage stellt und solcherart den Leser nachdenklich stimmt.

(Tasso)


Brigitte Hamann: "Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators"
Piper. 642 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Weitere Titel von Brigitte Hamann (Auswahl):

"Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth"

Dieses Buch schließt an "Hitlers Wien" an. 1915 zieht die 18jährige Winifred Williams als Ehefrau von Richard Wagners einzigem Sohn Siegfried in Bayreuth ein. Die Villa Wahnfried ist damals ein Zentrum der "deutschen" Kunst, der Nationalen und Antisemiten, die sich um Winifreds Schwager, den Rassentheoretiker Chamberlain, scharen. 1923 pilgert Hitler zu Wagners Grab. Es beginnt eine lebenslange Freundschaft zwischen "Winnie" und "Wolf", die die ganze Familie Wagner einschließt. Ab 1933 wird Bayreuth in der Festspielzeit zum Mittelpunkt europäischer Politik. Winifred nützt die Macht, die sie durch Hitler erhält, setzt sich aber auch für Verfolgte ein. Aus vielen neuen Quellen ist ein Buch voller Zündstoff entstanden, das auch eine ungewohnte Sicht auf den Privatmann Hitler ermöglicht. Erstmals werden in dieser Schärfe die vielfältigen Beziehungen zwischen ihm und den Wagners offengelegt. (Piper)
Buch bei amazon.de bestellen

"Wolfgang Amadeus Mozart" zur Rezension ...

Weitere Lektüretipps:

Rolf Rietzler: "Mensch, Adolf. Das Hitler-Bild der Deutschen seit 1945"

Mensch, Adolf! 70 Jahre nach seinem Tod ist Hitler allgegenwärtig. Eine Kultfigur der anderen Art. Ein Untoter, mit dem sich deutsche Lebenslügen und Opfermythen verbinden. Einsetzbar im innenpolitischen Streit und in außenpolitischen Strategien.
Rolf Rietzler nimmt Hitlers Präsenz nicht nur bei den Nostalgikern wahr, sondern untersucht die Hitler-Manie in allen Teilen der Gesellschaft. Mit scharfzüngigem Furor folgt er dem "Führer" und den Macharten, die in immer neuen Büchern, Filmen und in der Forschung das Bild entstehen ließen, mit dem die Deutschen ihre NS-Vergangenheit zu schönen suchen. In den Medien ist er längst eine Marke. Ob als hassgeliebter Superstar in TV-Serien, ob als Kriegsherr oder "privat" auf dem Berghof - man möchte ihn los sein und zugleich behalten. Eine Bestandsaufnahme, die zeigt, wie "Deutschlands Größter" nicht klein zu kriegen ist. (C. Bertelsmann)
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Peter Longerich: "Hitler"
Die große Hitler-Biografie. Eine Darstellung, die neue Maßstäbe setzt.
Tyrann, Psychopath, Vollstrecker eines rassenideologischen "Programms" - oder gar charismatischer "Führer", dem seine Anhänger "entgegengearbeitet" haben? Peter Longerich geht in seiner Biografie über die bisherigen Hitler-Deutungen hinaus: Er entwirft das Bild eines Diktators, der weit mehr und viel aktiver als bisher angenommen in die unterschiedlichsten Politikbereiche persönlich eingriff. Und dabei nicht selten überraschend flexibel handelte.
Ob Außenpolitik und Kriegführung, Terror und Massenmord, Kirchenpolitik, Kulturfragen oder Alltagsleben der Deutschen - überall bestimmte Hitler, bis in Details hinein, die Politik des Regimes. Durch seine persönlichen Entscheidungen prägte er es auf eine Weise, die bislang unterschätzt wird. Konsequent zerschlug er Machtstrukturen, die ihn behinderten, und schuf stattdessen eine Führerdiktatur - in seiner schließlich fast grenzenlosen Macht war er auf die Zustimmung der Bevölkerung nicht mehr angewiesen.
Diese Biografie rückt die Person Hitler und ihr Handeln in das Zentrum der Geschichte des Nationalsozialismus: Denn erst das Zusammenspiel der Kräfte, die Hitler bewegten, mit jenen, die er selbst in Bewegung setzte, lässt uns erkennen, was das "Dritte Reich" im Innersten zusammenhielt. (Siedler)
Buch bei amazon.de bestellen

Hubertus Büschel: "Hitlers adliger Diplomat. Der Herzog von Coburg und das Dritte Reich"
In seinem Buch erzählt der renommierte Historiker Hubertus Büschel auf Grundlage neuer Quellen aus dem Familienarchiv packend und fundiert, wie ein britischer Prinz in Deutschland zum glühenden Verehrer Hitlers wurde.
Carl Eduard war ein Enkel der britischen Königin Victoria und wurde 1905 Regent in Coburg. Bereits 1927 lud er Adolf Hitler zur Trauerfeier für Houston Stuart Chamberlain nach Coburg ein. Nicht zuletzt dank Carl Eduards Einfluss wurde Coburg zur ersten nationalsozialistisch regierten Stadt Deutschlands. Zur Reichstagswahl 1932 veröffentlichte der Herzog einen Wahlaufruf für Hitler.
Als Repräsentant des "Dritten Reichs" ließ er nach der Machtergreifung seine internationalen Verbindungen spielen, um den Nationalsozialismus salonfähig zu machen, und leugnete schließlich als Präsident des Deutschen Roten Kreuzes die Gräuel der Konzentrationslager.
Die Unterstützung für den Nationalsozialismus durch den deutschen und den europäischen Hochadel wurde lange unterschätzt. Die längst fällige Biografie des Coburger Herzogs zeigt exemplarisch, wie Adlige im Bestreben, ihre eigene Macht wiederherzustellen, einen Pakt mit den Nationalsozialisten eingingen. (S. Fischer)
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen