Slavoj ˇi˛ek: "Ein Plädoyer für die Intoleranz"
Hrsg. von Peter Engelmann

Eine Provokation des korrekten Empfindens


Was wir heute brauchen ist eine starke Dosis Intoleranz und zwar gerade im Hinblick auf die eigentliche politische Landschaft der Opposition. Vielleicht ist es nötig, die multikulturelle Haltung von links zu kritisieren und für eine neue Politisierung des Ökonomischen zu plädieren.

Der linksgerichtete slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj ˇi˛ek diagnostiziert für die Gegenwart eine Verdrängung des Politischen, was er als postmoderne Post-Politik bezeichnet. In der Post-Politik wird der kämpferische Konflikt der globalen ideologischen Entwürfe durch die Kollaboration aufgeklärter Technokraten (Ökonomen, Spezialisten der öffentlichen Meinung ...) mit liberalen Multikulturalisten ersetzt. Anstelle der alten ideologischen Kampfrhetorik tritt lispelndes Konsensgeflüster. Im Zeitalter der Post-Politik inszeniert sich die politische Linke als "radikale Mitte" (New Labour), was nichts anderes als die rigorose Beilegung der "alten ideologischen Grabenkämpfe" bedeutet. Ideen gelten nur noch dann als gute Ideen, wenn sie problemlos im Rahmen bestehender Verhältnisse umsetzbar sind. Solcherart verzichtet Post-Politik auf politische Interventionen und definiert sich selbst als "Kunst des Möglichen".
Echte Politik ist das genaue Gegenteil davon, das heißt die Kunst des Unmöglichen. Echte Politik bemüht sich um Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse, um möglich zu machen, was unter gegebenen Umständen noch als unmöglich erscheint.

Aufgeklärte und tolerante Multikulturalisten sind charakteristische Kumpane dieser Tendenz zur Ausmerzung von Politik. Das postpolitische liberale Establishment bemüht sich um Anerkennung und Förderung spezifischer Gruppen und Untergruppen, um Unrecht wieder gut zu machen. Was ein solches tolerantes Vorgehen ausschließt, ist die eigentliche Geste der Politisierung. Sprich, man will etwas für Subkulturen oder für Randthemen (Ökologie) erreichen, ohne die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzutasten. Dieses Streben ist laut ˇi˛ek im Einzelfall zwar lobenswert, aber ineffizient, weil – aus seiner Sicht – in letzter Konsequenz unpolitisch.

Der heutige globale Kapitalismus ist heimatlos. Der nationale Kapitalismus tritt in eine internationalistische Phase ein. Eine globale Firma hat ihre Nabelschnur zur Mutternation durchschnitten und behandelt ihr Ursprungsland ganz einfach wie jedes andere Territorium, das kolonisiert werden soll. Aus der Sicht von Multis gibt es nur noch Kolonien und Territorien, die noch zu kolonisieren sind. Setzt sich dieser Trend fort, so werden wir alle über kurz oder lang zu Bewohnern von Bananenrepubliken werden. Und natürlich ist die ideale Ideologie für einen solchen Kapitalismus der Multikulturalismus, jene Einstellung, die von einer Art leerem globalen Standpunkt aus jede Lokalkultur so behandelt, wie der Kolonist seine Kolonisierten behandelt – als "Eingeborene", deren Sitten genau studiert werden müssen und die zu "respektieren" sind. In diesem Zusammenhang begreift ˇi˛ek die Toleranz des Multikulturalismus als repressive Toleranz. Und es ist ganz im Interesse des kapitalistischen Weltsystems, wenn der eigentliche politische Kampf in einen Kulturkampf um die Anerkennung von Marginalidentitäten und für die Toleranz gegenüber den Unterschieden umgewandelt wird. Geradezu peinlich unpolitisch wird die Haltung des multikulturalistischen Liberalen, wenn er in seinem Bemühen um Toleranz brutalste Verstöße gegen die Menschenrechte hinnimmt, oder exzessive Gewalt der neuerdings auftauchenden ethnischen und/oder religiösen "Fundamentalismen" mittels sozialpsychologischer Erklärungsweisen reflektiert, statt dagegen einzuschreiten.

Der tolerante multikulturelle Ansatz vermeidet Politisierung, da er nicht Partei ergreift und den politischen Widerstreit scheut. Humanistische liberale Gleichbehandlung kann jedoch leicht ins Gegenteil kippen und dann tatsächlich sogar noch die gewaltsamsten "ethnischen Säuberungen" tolerieren. In diesem Sinne plädiert ˇi˛ek für eine linke Außerkraftsetzung liberalistischer Tendenzen zur unparteiischen Neutralität und um Akzeptanz des antagonistischen Charakters der Gesellschaft, für die Kampf konstitutiv ist. Der Horizont gesellschaftlicher Imagination erlaubt es heute nicht mehr, die Vorstellung einer eventuellen Abdankung des Kapitalismus aufrechtzuerhalten. Doch scheint es aus Gründen der Selbsterhaltung geboten zu sein, die Ökonomie wieder unter soziale Kontrolle zu stellen. Mit falscher Toleranz, die lediglich globalen Kapitalverwertungsinteressen dient und gegenüber gesellschaftlichen Fehlentwicklungen verständnisvoll neutral bleibt, muss Schluss sein.

Dieses Buch sollte Grundsatzdiskussionen zur Gegenwartspolitik auslösen. Den ungefälligen Schreibstil des Philosophen werden wir für ein letztes Mal noch tolerieren.

(haschu; 09/2001)


Slavoj ˇi˛ek: "Ein Plädoyer für die Intoleranz"
Hrsg. von Peter Engelmann
Passagen Verlag, 2. überarbeitete Auflage, 2001. 99 Seiten
ISBN 3-85165-466-8. ca. EUR 15,-.
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