André de Richaud: "Der Schmerz"


Eine Entdeckung

Immer wieder ist es der "Dörlemann Verlag", der literarische Meisterwerke aus der Vergessenheit holt und in wundervollen Neuübersetzungen dem deutschsprachigen Leser zugänglich macht. In diesem Fall ist es, man glaubt es kaum, die deutsche Erstübersetzung. Beim Lesen dieses wahrlich grandiosen Romans, der noch dazu jener Roman war, welcher Albert Camus dazu inspirierte, Schriftsteller zu werden, wundert man sich immer wieder, wie es passieren konnte, dass dieser Roman ganze 89 Jahre auf eine deutsche Übersetzung warten musste.

Es ist die Zeit des Ersten Weltkriegs, und Thérèse Delombre lebt mit ihrem Sohn Georget in einem kleinen Dorf in der Provence. Die Männer im wehrtauglichen Alter sind alle weg, an der Front. Thérèses Mann, Hauptmann Delombre, ist gefallen. Sie ist damit beschäftigt, mit ihrer Trauer und der daraus entstehenden Einsamkeit zurechtzukommen. Ihr Sohn wächst heran und ist ihr Ein und Alles. Zusätzlich hat sie, obwohl sie sich das nicht eingestehen will, sexuelle Begehren, die fruchtlos verlaufen. So bleibt ihre Leidenschaft dem Sohn vorbehalten.
Doch auch das hilft ihr nicht über ihre Einsamkeit hinweg. Sie nimmt ein Flüchtlingsmädchen auf, das sehr bald Freundschaft mit ihrem Sohn schließt. Als sie die beiden bei harmlosen Doktorspielen erwischt, keimt Eifersucht in ihr auf, und sie verstößt bald darauf das Mädchen, das sie bewusst fälschlich bezichtigt, ihr Geld gestohlen zu haben. Dass Georget, der weiß, dass das Mädchen nichts gestohlen hat, darunter leidet, ist nicht verwunderlich. Nur langsam entwickelt sich wieder der vertraute Umgang zwischen Mutter und Sohn.
Doch dann erscheinen im Dorf drei deutsche Kriegsgefangene, die von den Dorfbewohnern misstrauisch aufgenommen werden. Einer von ihnen ist Otto Rülf, ein fescher Hühne von einem Mann, der das Objekt von Thérèses Begierde wird. Auch er entwickelt rasch Gefühle für die junge Witwe. Während die beiden langsam ein Verhältnis eingehen, weiß der Junge lange nichts davon, ist aber verwundert ob der Freundschaft zwischen seiner Mutter und dem Deutschen. Als ihn seine Mutter zum Katechismusunterricht schickt, erzählt er in der Beichte von seinen Beobachtungen. Eine Nachbarin hört Fragmente des Gesprächs, und schon weiß bald das ganze Dorf von Thérèses Liaison. So wird sie von der geschätzten Witwe eines Kriegshelden zur Geächteten. Als Thérèse auch schwanger wird, entwickelt sich daraus ein exitenzialistischer Sog, der erwartungsgemäß keinem glücklichen Ende zustrebt.
"Der Mann kam jeden Abend wieder. Das Kind blieb im Haus und las, es hörte, wie sich die Frau leise mit ihrem Liebhaber - nun kannte es die Bedeutung dieses Wortes – unterhielt. Georget war nach diesen Abenden leichenblass, hatte große violette Ringe unter den Augen. Seine Mutter glaubte, es sei wieder seine schlechte Angewohnheit und sah ihm beim Dahinschwinden zu, ohne sich weiter zu beunruhigen. Sie wollte nicht mehr, dass er stundenlang allein blieb. Es tat ihm nicht gut, so wurde Georget seines einzigen Vergnügens beraubt. Da keimte ein wenig Hass in seinem Herzen auf. Er schmollte. Er hatte ihr nie gezeigt, dass er wusste, welche Art Liebe sie mit Otto verband." (Seite 156)

André de Richaud zeichnet ein bestechendes Bild eines kleinen Provinzdorfs, dessen Einwohner mit den neuen Lebensumständen umzugehen lernen. Dabei konzentriert er sich zur Gänze auf das Dorfleben, die Kriegsschauplätze bleiben diffuse Momente, Auslöser der Einsamkeit im Dorf. De Richaud, der selbst in einem Dorf in der Provinz aufgewachsen ist, verlor seinen Vater 1915 im Ersten Weltkrieg. Seine Mutter ging, wie die Protagonistin des Romans, eine Liaison mit einem deutschen Kriegsgefangenen ein, was bei ihm ein Trauma verursachte, das ihn lebenslang verfolgte. Man kann daher annehmen, dass dieser Roman starke autobiografische Züge trägt, auch wenn er natürlich ein Werk der Fiktion ist.

Es ist in erster Linie die Erzählstruktur, die diesen Roman so einzigartig macht. Ein auktorialer Erzähler, der sich immer wieder direkt an den Leser wendet, ihn leitet, informiert, ihn quasi direkt ins Geschehen miteinbezieht, ihn Dinge wissen lässt, welche die Protagonisten nicht wissen, führt durch den Roman, der so wie eine Direkterzählung wirkt.
"Der Krieg erreichte die drei nicht mehr. Er erschütterte weiterhin einen großen Teil des Erdballs, aber es schien, als trennte ein magischer Kreis dieses Haus vom Rest der Welt. Im großen Saal des Rathauses stellte man die Siege und Niederlagen mit kleinen Fähnchen auf einer Europakarte nach, in der Villa jedoch wühlten weniger offenkundige Siege und Niederlagen das Herz der Frau noch tiefer auf. Was kümmerte sie der Verlust von hunderttausend Männern vor Verdun (so sprachen diese friedfertigen Leute von den Toten), da sie keinen dieser Männer geliebt hatte ..." (Seite 59)

André de Richaud reichte seinen Roman für einen Wettbewerb ein, bei dem er der Konkurrenz weit überlegen war. Die Jury entschied sich daher aus moralischen Gründen, gar keinen Preis zu vergeben. Zu konträr zu den gängigen Moralvorstellungen war sein Roman, um ihm einen Preis zu verleihen, der nicht zu einem Skandal geführt hätte. Einerseits die Liebesaffäre einer französischen Offizierswitwe mit einem Deutschen, andererseits die sexuelle Begierde einer Frau, die de Richaud bestechend schildert. Seiner Zeit weit voraus, schonungslos und dabei gar nicht reißerisch, denn de Richaud schildert keine einzige sexuelle Handlung explizit. Gerade diese aus Thérèses Innenleben, in das der auktoriale Erzähler tiefgehende Einsicht hat, geschilderten Passagen, die noch dazu einen wahrlich feministischen Charakter aufweisen, sind besonders erinnerungswürdig, man glaubt kaum, dass dieser Text im Jahr 1930 entstanden ist. So viel ist an diesem Roman aktuell und zeitlos, dass es schlichtweg frappierend ist.
"So lief nun, wie unschwer zu erkennen ist, dieses Vorspiel auf seinen Höhepunkt zu. Thérèses Sinne verzehrten sich ausschließlich nach Otto. Längst schon hatten ihr Geist und ihr Leib den Hauptmann aufgegeben. Bisweilen ist es langwierig und schmerzhaft, den Körper von einem anderen zu entwöhnen, dessen Form sich seit langem dem eigenen angepasst hat. Der Bruch zwischen Liebenden erfolgt nie vollständig - der Schlaf, währenddessen die Hände, sich selbst überlassen, nach einer vertrauten Schulter oder Hüfte tasten, die ihnen monatelang Zuflucht geboten hat, liefert dafür den Beweis. Thérèse hatte ihren Mann nicht genug geliebt, um seine Umarmungen körperlich in Erinnerung zu behalten. Sie war herrenlos: Körper und Seele." (Seite 98)

Der französische Verleger Bernard Grasset, der das Manuskript lesen konnte, veröffentlichte es 1930 ohne eine einzige Änderung. Obschon der Roman großen Erfolg hatte, geriet de Richaud bald in Vergessenheit. Seine weiteren Romane (er schrieb anscheinend dreizehn) fanden kaum mehr Anklang. Erst kurz vor seinem Tod im Jahr 1968 erlebte er eine Art Renaissance, die er allerdings kaum mehr genießen konnte.
Dass Sophie I. Nieder, die kongeniale Übersetzerin dieses Romans, ihn Jahre später in einer Buchhandlung entdeckte und übersetzte, ist ein Glücksfall, den man nicht genug würdigen kann. Da sich bei "Dörlemann" Hinweise darauf finden lassen, dass Sophie I. Nieder auch die anderen Werke dieses Autors übersetzen wird, kann man sich schon auf die weiteren Veröffentlichungen von André de Richaud freuen.

(Roland Freisitzer; 05/2019)


André de Richaud: "Der Schmerz"
(Originaltitel "La douleur")
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Sophie I. Nieder.
Dörlemann, 2019. 223 Seiten.
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