Salman Rushdie: "Golden House"


Im deutschsprachigen Feuilleton ist Salman Rushdies "Golden House" nicht besonders gut weggekommen und das nicht ganz zu Unrecht. Dennoch, lesenswert ist das Buch allemal.

Im Zentrum seines neuesten Romans, dem goldenen Haus den Namen gebend, steht ein Emigrant von derselben Sorte wie der Schriftsteller, jener nämlich, die in der alten Heimat des Lebens nicht mehr sicher wäre. Just am Tag der Amtseinführung des umjubelten neuen US-Präsidenten (man darf unbesorgt vermuten: vom 20. Jänner 2009 ist die Rede) hält der sich bereits in den Sechzigern befindliche Nero Golden gemeinsam mit seinen drei Söhnen Einzug in die längst ihm gehörende New Yorker Exilvilla. Die Gleichzeitigkeit ist Programm - die beiden großen sich daraus entspinnenden Erzählfäden, der um die Familie des Millionärs Nero Golden und der um die politischen und gesellschaftlichen Geschehnisse und Veränderungen in New York während der folgenden gut acht Jahre, bis nämlich ein Ungeheuer den Präsidentensessel der USA erobern wird, bleiben den ganzen Roman über klar, wenn auch eher hintergründig, miteinander verbunden. 

"War er die Konsequenz einer außergewöhnlichen Verkettung von unvorhersehbaren unglücklichen Zufällen oder das Produkt von über acht Jahren öffentlicher Schamlosigkeit, dessen Verkörperung und Höhepunkt er war? Tragödie oder Zufall?" So lauten nach dem überraschenden Wahlausgang die Fragen zum 'Joker', wie das frischgebackene, mit lindgrünem Haar, weißer Haut, rotem Mantel und ebensolchen Lippen auftretende, ungeniert provozierende, lügende, hetzende und anscheinend auch unter Inzestverdacht stehende Präsidentenscheusal in dem Buch, das nicht zuletzt einen ersten Aufarbeitungsversuch, wie es nur dazu kommen hatte können, darstellt. Das Politische beschränkt Rushdie leider auf einen simplen, bisweilen geradezu kitschigen Kampf zwischen Gut und Böse, was in Zeiten wie diesen, wo "Intoleranz dem letzten Schrei entspricht" und "sich die Schwäche der Gerechten durch den Zorn der Ungerechten offenbart", eben bedeutet, dass "die großartige, in hohem Maße gebildete, aber unpopuläre Joker-Gegnerin", von ihren Anhängern als "Batwoman, die ihre dunkle Seite bekennt, sie aber im Kampf für das Gute, für die Gerechtigkeit und den amerikanischen Lebensstil einsetzt” stilisiert, auf der Strecke bleibt

Deutlich interessanter fällt glücklicherweise Rushdies Beschäftigung mit der New Yorker Gesellschaft und ihren Neigungen aus, auch wenn es sich nur um einen kleinen, dem Schriftsteller offenbar vertrauten Ausschnitt handelt - einige Multimillionäre, Aktivisten, Seelendoktoren, Künstler und Bobos der Stadt.
Zu den Reichen gehören Nero und seine drei ebenfalls antike Namen tragenden Söhne: der Reihe nach Petronius (Petya), Apuleius (Apu) und Dionysos, der jüngste, nur Halbbruder der Älteren und kurz D genannt. Alle berufen sie sich in ihrer Genealogie auf das alte Rom, vermögen sich miteinander sogar auf Latein zu unterhalten, während der Schriftsteller aus diesem Fundus ein anspielungsreiches Netz aus Geschichte, Mythologie und Selbsterfundenem zu knüpfen weiß, sein bekanntes Spiel mit wiederholt auftauchenden Motiven, Ähnlichkeiten, Variationen und Analogien treibt (
etwas popkulturlastig allerdings und mit etwas zu sehr zur Schau gestelltem Kosmopolitismus). Tatsächlich aber stammen die vier Goldens aus Mumbai, der Vater war ein eng mit der Mafia und Bollywood zusammenarbeitender Baulöwe gewesen ("mit Sternenstaub in den Augen, mit von filmischem Glamour berauschtem Kopf, und das Geld, das sie alle dabei machten, war der Irrsinn"), solange nämlich, bis sich die politischen Kräfteverhältnisse entscheidend geändert hatten und schneller Kontinentewechsel dringend angeraten erschien.

Nero ist nicht nur ein einfacher steinreicher Baulöwe, ihm wohnt in seiner Skrupellosigkeit und seinem Herrschaftsanspruch auch etwas Kaiserlich-Präsidentenhaftes inne. Als sich der rüstige Reiche sehr zum Missfallen seiner Söhne anschickt, eine etwa vier Jahrzehnte jüngere ehemalige Kunstturnerin, die Russin Vasilisa ("Fürstin") zu heiraten, heben die die Romanhandlung tragenden innerfamiliären Verwicklungen und Intrigen an. Die Rolle der drei Söhne bleibt jedoch nicht auf die Familie beschränkt, Petya führt uns in die Welt der Computerspiele und den Vorhof zum Autismus, Apu bringt mit verschiedenen Moden der zeitgenössischen bildenden Kunst in Berührung, D mit einem Two-Bridges-Mädchenclub, diverse sonstige Vorkommnisse, Amokläufe, der Klimawandel, die Occupy-Bewegung und dergleichen werden recht flüchtig, gleichsam im Chronistenstil gestreift. Und auch das Hauptthema des Romans verbindet die ungleichen Brüder - Identität, denn obgleich längst echte Amerikaner geworden, bringen sie jeder auf seine Weise die Suche danach zum Ausdruck, sei es als allgemeine Verlorenheit angesichts der vielen Lockungen und Möglichkeiten, sei es einwandererspezifisch, weil das Abschütteln der Vergangenheit zwar sehr amerikanisch (beispielsweise bei Namensänderungen), aber keineswegs ungefährlich sei, wenn man nicht seinen Frieden mit Vergangenheit und Herkunft gemacht habe.

Am meisten Raum wird dem Jüngsten (D) und damit dem Thema der geschlechtlichen Identität geboten: D ist nicht nur ein sensibler junger, auf seine Art schöner Mann, er zeigt außerdem eine gewisse Neigung zu Frauenkleidern und befreundet sich ausgerechnet mit einer gewissen Z, die in leitender Stellung für ein sogenanntes Identitätsmuseum tätig ist. Das hat für den Armen zur Folge, dass er mit einem neuartigen, den Sprachgebrauch von morgen bilden wollenden Vokabular malträtiert wird: "MTF bedeutet von maskulin zu feminin, FTM vice versa", wird er belehrt, außerdem gebe es "genderfluid, bigender, agender, trans mit Sternchen: trans*, den Unterschied zwischen Frau und Menschen weiblichen Geschlechts, nicht übereinstimmendes Gender, genderqueer, nicht binär und aus der idigenen amerikanischen Kultur two-spirit und diverse Gottheiten überall auf der Welt, die allesamt einen eigenen Mischtyp darstellen." Nicht ganz unverständlicherweise trägt, was D da zu hören bekommt, weiter dazu bei, den armen jungen Mann (die arme junge Frau) zu verunsichern. Als Z dann noch von einem bestimmten Vorfall aus Ds Kindheit erfährt, fängt sie mit einer gewissen Beharrlichkeit von der Notwendigkeit einer Entscheidung zu sprechen an, was für D immer stärker die bedrohliche Vorstellung einer Operation heraufbeschwört. Rushdie vermeidet es dabei jedoch tunlichst und ein wenig krampfhaft, der Genderforschung an sich zu nahe zu rücken, seine Kritik entflammt erst bei einer auf Genderthemen spezialisierten Psychotherapeutin, die sich als große Auskennerin in diesem weiten, noch in Entdeckungsfase befindlichen Land geriert und dabei bewusst oder unbewusst ihrer Patienten Heil mit den eigenen Absichten vermengt. Die psychotherapeutischen Sitzungen gehören jedenfalls zu den besten, genau ausgearbeiteten Stellen des Romans, seltsam bleibt freilich, dass Rushdie sich mit der Darstellung des Vorhandenseins und Entstehens dieser neuen Wissenschaft (oder Pseudowissenschaft, und mitunter wohl des Übels, für dessen Therapie es sich hält) begnügt, statt sich, was nahe läge, genauer mit dem Innenleben des zwischen Weiblichem und Männlichem Hinundhergerissenen zu beschäftigen oder, wozu ebenfalls Anlass genug wäre, herzhaft zu spotten. "Wenn sie möchte, dass ich auf meine Worte achte, oder was auch immer, okay, dann achte ich darauf, zumindest in ihrer Gegenwart - und dann leider bekommst du die Ausfälle ab, weil ich, wenn sie weg ist, vom Leder ziehe.", ist ziemlich die einzige auf das komische Potenzial des Stoffes zugreifende Stelle und handelt bloß von politisch korrekter Sprache allgemein. Die subtile Kritik an Manipulation, die deutlichere an einem überstürzten, naiv-idealistischen Sichhineinsteigern, ein hollywoodwürdiges Todesopfer, ein zerbrochenes Bild von der Welt ("wenn die Welt, an die man glaubt, sich als Papiermond herausstellt") und eine gereifte Rückkehr nach der Enttäuschung sollen wohl vor allzu krassen Fehlentwicklungen warnen, ohne die problematische Gesamtströmung (die sich gerne liberal gibt, durch Forderungen wie, das Zwängen in ein Geschlecht gefährde die Grundrechte, jedoch leicht für gänzlich andere Zwecke nutzbar gemacht werden kann und überhaupt eine Tendenz, in Unfreiheit umzuschlagen, besitzt) in Frage zu stellen.

Zuguterletzt soll auch noch der Erzähler und Chronist des ganzen Geschehens, der René heißt, in nächster Nähe zur Golden-Villa wohnt, etwa gleich alt wie D, mit allen Goldens mehr oder weniger befreundet, angehender Filmemacher, belgischer Herkunft, sich selbst wie viele junge Männer in vielerlei Hinsicht ein Geheimnis und stark in das Romangeschehen involviert ist, erwähnt werden.

Untypischerweise verzichtet der Roman mit zwei geringfügigen Ausnahmen auf fantastische Motive (einer im Körper der Russin sitzenden und sie zu manipulieren versuchenden Hexe und dem bereits mit grünem Haar und rotem Mantel zur Welt gekommenen Joker), als wäre die Unwirklichkeit des Geschilderten ohnehin unwirklich genug, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Ungewöhnlich für den Schriftsteller und wohlgelungen sind außerdem einige nach Drehbuchart entworfene Szenen, die allerdings zur optimalen Wirksamkeit noch der Hand eines inspirierten Regisseurs bedürften. Der Roman ist da schwach, wo Rushdie allzu angepasst tendenziös beziehungsweise über ihn selbst kaum interessierende Dinge spricht, am stärksten dann, wenn er ihm persönlich Nahegehendes einbringt wie etwa einen mit Leidenschaft und Empörung geschilderten sinnlosen Autounfalltod, oder wenn er seiner Imagination die Zügel schießen und magisch-realistische Worte finden lässt wie über den Schnurrbart eines Mafiapaten, "der so kräftig und unheilvoll wuchs, dass er wie ein parasitärer Organismus erschien, der irgendwo tief in seinem Kopf, vielleicht sogar in seinem Gehirn, seinen Ursprung haben musste und ihm in der Nase hinunterwuchs, bis er die Außenwelt erreichte, als würde ein Alien auf seiner Oberlippe auftauchen und Neuigkeiten von der ungeheuren, gefährlichen Macht seines Wirts verkünden."

(fritz; 01/2018)


Salman Rushdie: "Golden House"
(Originaltitel "The Golden House")
Übersetzt von Sabine Herting.
C. Bertelsmann, 2017. 512 Seiten.
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