Angelika Overath: "Alle Farben des Schnees"

Senter Tagebuch


Unternimmt man eine Reise von Tübingen nach Sent in Graubünden, sind es ungefähr 220 oder 230 Kilometer, etwas weniger als die Entfernung zwischen Hamburg und Berlin, die man passieren muss. Doch während man in Berlin, aus Hamburg kommend, weitestgehend dieselbe Sprache und Mentalität vorfindet und man sich in beiden Städten mit einem "Hallo" zur Begrüßung stets auf der sicheren Seite weiß, verhält es sich zwischen Tübingen und Sent etwas anders.

Sent ist das, was man sich unter einem idealen Schweizer Urlaubsort vorstellt. Eine Dorfkirche flankiert von den typisch rechteckigen Häusern mit ihren in einem flachen Winkel leicht abfallenden geschieferten Dächern und den hölzernen Läden seitlich der Fenster. Eben dieses Sent liegt auf 1440 Metern Höhe und hat knapp 900 Einwohner, von denen ein Großteil eine Sprache spricht, die heute außerhalb des Kantons Graubünden nur selten zu vernehmen ist: das Rätoromanische. Und eben diese Sprache ist es, die Angelika Overath, die in Karlsruhe geborene deutsche Journalistin und Dozentin an verschiedenen Journalistenschulen, immer wieder zum Thema ihres "Alle Farben des Schnees" betitelten Tagebuchs eines Umzugs nach Sent macht.

Die Idee, einen Urlaubsort, der immer auch mit ganz bestimmten Ansprüchen und Sehnsüchten für die kurze Dauer der Ferien verbunden ist, durch einen Umzug zum Mittelpunkt des Lebens zu machen, ist der Autorin und ihrem Mann während einer Reise in das Schweizer Bergdorf gekommen. Nach dem Auszug der ältesten Kinder schien dieser Schritt, der für Freunde und Verwandten bewundernswert und verwundernd zugleich gewesen sein muss, für die Eheleute, die bereits eine Zeit in Griechenland verbracht hatten, genau der richtige zu sein. Und so dokumentiert das Tagebuch der Schriftstellerin über den Zeitraum von einem Jahr hinweg genau diese Periode des Ankommens und des Heimischwerdens.

Mit einem "Allegra" begrüßen sich die Senter untereinander, und auch Overath ist im Laufe des Jahres eine von ihnen geworden, obwohl die sprachlichen Differenzen die Verständigung nicht immer leicht gemacht haben. Geholfen haben das Interesse der Autorin an der fremden und doch so nah gelegenen Kultur und ihr offenes Wesen. Overath schildert in ihrem Tagebuch, wie sich erste Kontakte zu Freundschaften entwickeln und der jüngste Sohn den Schulwechsel in einer als nahezu perfekt erlebten Umwelt meistert. Dabei ist es immer ein Geben und ein Nehmen. Overath dokumentiert auf den gut 250 Seiten einen Lernprozess, der weit über das Verstehen und Beherrschen einer Sprache hinausgeht. Ihre Versuche, auf Rätoromanisch Lyrik zu verfassen, sind ein besonderes Zeugnis dieses Prozesses. Dabei geht es nicht um die dichterische Qualität, es sind meist wortspielerische, ins Dadaistische abgleitende kurze Gedichte, die vom Umgang mit dem neu gewonnenen sprachlichen Material Zeugnis ablegen.

(Jan Hillgärnter; 01/2011)


Angelika Overath: "Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch"
Luchterhand Literaturverlag, 2010. 256 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Weitere Buchtipps:

Ricarda Liver: "Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische"

Dieses bewährte Studienbuch richtet sich an Leser, die sich über das Rätoromanische Graubündens, seine sprachliche Erscheinungsform, seine heutige Verbreitung und soziolinguistische Stellung, seine Geschichte und über den Stand der Forschung zu all diesen Themen informieren möchten. Das Buch stellt eine kritische Synthese der bisherigen Studien zum Bündnerromanischen dar, erweitert durch Resultate eigener Forschung. Die Neuauflage aktualisiert die Informationen zur Situation des Bündnerromanischen und zu Ergebnissen der Forschung aufgrund der im letzten Jahrzehnt erschienenen Literatur. (Gunter Narr Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen

Luisa Famos: "ich bin die Schwalbe von einst. eu sun la randolina d'ünsacura"
Gedichte aus dem Nachlass. Rätoromanisch und Deutsch. Herausgegeben von Mevina Puorger. Übersetzt und mit einem Nachwort von Mevina Puorger und Franz Cavigelli. Vorwort von Iso Camartin.
Die Lyrikerin Luisa Famos starb 43-jährig in ihrem Heimatdorf Ramosch im Unterengadin. Die lebensfrohe, schöne und umworbene Frau ist mit ihren beiden Lyrikbänden "Mumaints" und "Inscunters" wohl die berühmteste Dichterin des Engadins. 1995 erschienen die beiden Lyrikbände in Neuauflage mit deutscher Übertragung.
Dem veröffentlichten Werk der Dichterin fügt sich ein lyrischer Nachlass an; ein Großteil davon erscheint hier editorisch erschlossen.
Die Gedichte von Luisa Famos sind Gedichte des Abschieds, vom geliebten Du in den Liebesgedichten, vom Leben in den Gedichten des Todes. Ihre Bilder sind die des Ursprungs allen Lebens. Belebt wird diese Welt von luftigen Wesen, von Vögeln, für Luisa Famos allen voran von Schwalben, ihrem deklarierten Alter Ego: Sie ist die Schwalbe, die immer weiter und höher kreist, die schwarze Schwalbe, die ihre letzten Kreise am weißen Haus zieht.
Luisa Famos, geboren 1930 in Ramosch im Unterengadin, arbeitete als Lehrerin. Sie war Moderatorin der ersten rätoromanischen Fernsehsendung im Schweizer Fernsehen. Zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern erfolgte ein längerer Aufenthalt in Venezuela und Honduras. Nach der Rückkehr in die Schweiz war sie in Bauen und Ramosch wohnhaft. Luisa Famos starb anno 1974. (Limmat Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen

Arno Camenisch: "Sez Ner. Prosa deutsch und rätoromanisch"
Arno Camenisch beschreibt in seinem Erstling das Leben von Hirten und Sennen während eines Sommers auf der Alp Stavonas am Fuße des Piz Sezner in der Surselva des Kantons Graubünden. Er erzählt in kurzen Prosastücken von Kühen und Schweinen, Katzen und Hunden, der Polenta und dem Käse, dem Alkohol und den Rauchwaren, von Wind und Wetter, Mann und Frau, den Leuten aus dem Unterland und den Bauern aus den Tälern Graubündens. Dass Camenisch seine Texte nicht übersetzt, sondern auf Rätoromanisch und auf Deutsch schreibt, gibt ihnen ihren ganz eigenen Klang, in der Rauheit und Melodiösität, Kraft und Zartheit eine suggestive Verbindung eingehen. Distanz und Nähe sind auch die bezeichnenden Momente von Camenischs Beschreibungskunst: Alles ist sehr nah und genau gesehen, und doch wird nichts bloßgestellt, kann alles diskret bleiben und sich in seiner Unmittelbarkeit bergen. (Engeler)
Buch bei amazon.de bestellen