Hédi Kaddour: "Waltenberg"


Ein erzähltechnisches Labyrinth
Hédi Kaddours Debütroman "Waltenberg" ist ein literarisches Labyrinth.


Mit dem Hotel "Waldhaus" im Schweizer Bergdorf Waltenberg als Drehscheibe in diesem Roman, der die Geschichte einer Freundschaft, die Geschichte einer Liebe, die Geschichte zweier Kriege und die Geschichte von vier Menschen, die sich immer wieder begegnen und verlieren erzählt, entwickelt Hédi Kaddour ein detailverliebtes literarisches Labyrinth, das jedoch im Gesamten zu vielschichtig, aufgebrochen und undurchsichtig ist.

Da gibt es den deutschen Schriftsteller Hans Kappler und seine große Liebe, die us-amerikanische Sängerin Lena Hotspur, die so ziemlich jedem männlichen Haupt- und Nebenprotagonisten in diesem Roman hoffnungslos den Kopf verdreht.
Seit dem Ersten Weltkrieg mit Kappler befreundet ist auch der französische Journalist Max Goffard. Michael Lilstein, der Auschwitzüberlebende, glühende Kommunist und Leiter des Aufbaus des ostdeutschen Spionagenetzes nach 1945, der mit all seiner Macht verhindern will, dass Hans Kappler in die Deutsche Demokratische Republik zurückkehrt, rundet das (Haupt-)Protagonistenquartett ab.

"Waltenberg" umspannt gut siebzig Jahre der europäischen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert und erhebt somit quasi den Anspruch, ein europäischer Schlüsselroman zu sein. Ein Porträt des Jahrhunderts.

Hédi Kaddour erzählt, in dem er scheinbar frei zwischen den Zeiten springt, er wechselt Perspektiven, Erzählstränge und vermeintlich irrationale Einschübe wechseln sich teilweise wie in einem offenen Schlagabtausch ab. Allerdings hilft Hédi Kaddour seinen Lesern, indem er jedem Kapitel ein kurzes Resümee voranstellt. Ein Mittel zum Zweck, das gut und hübsch inszeniert in diesem Fall aber unbedingt notwendig ist. So zerfasert ist die Erzähllinie, so rau und versteckt die Entwicklung der Protagonisten, dass man ohne Hilfe des Autors rasch verloren wäre.

"Johann war unerschöpflich, wenn es um die Osterhasen ging, jene Stammhalter der Hasen, die bei unseren Vorfahren, den Heiden, der Frühjahrsgöttin das Geleit gaben, Hasen mit dicken Klöten, riesige Viecher, einen Meter groß, ganz aus rosa Granit, bewacht von Priesterinnen, nach alter Sitte brachten die unfruchtbaren Frauen ihnen Opfergaben dar, aber ich weiß nicht, was für welche, in der Gegend, wo ich herkomme, bringen die Frauen heutzutage ihrem Heiler ein Pfund Butter, eine Flasche Schnaps und einen Schlüpfer mit, der Heiler hängt die Schlüpfer auf dem Dachboden auf, wo er Räucherungen macht, keine Ahnung, ob die Frauen unserer Ahnen Unterhosen trugen, die christliche Kirche hat die Priesterinnen verbrannt, hat ihnen die Klöten abgenommen, und jetzt sollen die Kinder sie auf allen vieren unter den Büschen suchen, na was schon, stell dich nicht blöd, die Schokoladenhasen!"

Der Rezensent hatte oft das Gefühl, eine Art Palimpsest vor sich zu haben, eine Überlagerung der Lebenslinien, die immer wieder an vermeintlich intuitiv gewählten Stellen Episoden aus den Linien der verschiedenen Erzählstränge durchscheinen lassen.

Leider begeht Hédi Kaddour den Fehler, zu viel in seinen Monumentalroman hineinpacken zu wollen, es gibt von der Kriegsgefangenschaft bis zur Politik, von der Liebesgeschichte zum Spionageroman einfach zu viele Zutaten, die dann doch die Luft aus dem sprachgewaltigen, manchmal sehr selbstgefälligen und eitlen Ansatz des Autors lassen, statt diesem die notwendige Stütze für ein großes literarisches Werk sein zu können. Zu mühsam wird es, dem Erzählstrang zu folgen, zu unerheblich, was mit den Protagonisten, deren Lebenslinien sich längst in diesem Irrgarten eines Romans verloren haben, passiert. Somit gehen sehr viele originelle Ansätze und Ideen in diesem Roman verloren.

Ungefähr einhundertvierzig Seiten vor Ende des Romans schreibt Kaddour folgenden Absatz:
"Der junge Lilstein wüsste gern, was vor vierzig Jahren geschehen ist, um seine liebende Erinnerung an Lena mit den Liebeserinnerungen seines Freundes Max Goffard zu verbinden, wenn ich ihm sage, er habe Glück gehabt an jenem Abend, der kleine Wirrkopf, er wird mir nicht glauben."

Ein wenig konnte dieser Rezensent bezüglich des Wunsches nach Aufklärung mit Lilstein mitfühlen, da sich ihm die Frage nach dem Hintergrund der vielen Worte in diesem Roman mit jeder Seite immer präsenter in den Vordergrund gedrängt hatte.

Der Schluss versöhnt ein wenig, aber nicht ganz. Talent, ja, davon wäre bei Hédi Kaddour mehr als genug vorhanden. Schade nur, dass die 741 Seiten "Waltenberg" nicht überzeugen. Vielleicht ist weniger doch manchmal wirklich mehr.

(Roland Freisitzer; 11/2009)


Hédi Kaddour: "Waltenberg"
Aus dem Französischen von Grete Osterwald.
Eichborn, 2009. 741 Seiten.
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Hédi Kaddour, 1945 in Tunesien geboren, lebt seit seiner Kindheit in Frankreich. Er hat sechs Gedichtbände veröffentlicht, wie auch eine Sammlung mit Essays über Dichtung, "L'Emotion impossible" ("Le Temps qu'il fait", 1998). Kaddour hat ein Vorwort zur französischen Ausgabe von "Mausoleum" von Hans Magnus Enzensberger verfasst und Lessings "Minna von Barnhelm" ins Französische übersetzt.

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