Manfred Geier: "Die Brüder Humboldt"

Eine Biografie


Eins in ihrer Zweisamkeit

"Sie sind miteinander bestens vertraut und zugleich voneinander getrennt 'wie zwei entgegengesetzte Pole' [...] Versenkung ins Innere/Treiben ins Äußere; Konzentration auf sich/Wirkung auf andere; Leben in Ideen/Forschen in der Wirklichkeit; Bildung der eigenen Individualität in ihrer Besonderheit/Beobachtung der natürlichen Dinge in ihrem ganzheitlichen Zusammenhang; Kultivierung der inneren Würde/Drang nach äußerer Anerkennung." So wird es von dem älteren der beiden "Protagonisten" in der vorliegenden Biografie in einer strengen Dichotomisierung, einer Zweiteilung, wenn auch nicht neutral oder gar objektiv, festgehalten.

Die Rede ist von Wilhelm (1767-1853) und Alexander (1769-1859) Humboldt, dem schillernden "Zweigespann" des neubürgerlich gestimmten Zeitgeistes im ausgehenden Zeitalter der Aufklärung, der deutschen Klassik und dem darauffolgenden des Idealismus. Der 1943 geborene Sprach- und Literaturwissenschaftler Manfred Geier, der bereits mit "Kants Welt" (2003) eine hervorragende Biografie schrieb, legt nun eine weitere brillante über die beiden Universalgelehrten des 18./19. Jahrhunderts vor.

Ihrer unterschiedlichen Charaktere sind sich die Brüder in voller Klarheit bewusst. Sie verhalten sich wie komplementäre Figuren zueinander, doch sie schätzen und zollen einander zeitlebens gegenseitige Anerkennung, "weil jeder im anderen erkennt, was ihm selbst fehlt."
Manfred Geier hat diese korrelative Bewunderung und Hochachtung in dem vorliegenden Buch zum roten Faden, zum Leitthema gemacht und beide gleichberechtigt, parallel porträtiert. Auf reichlichen 300 Seiten presst er deren immense Lebensfülle, ihre vielfältigen Kontakte, Freundschaften, Reisen und Korrespondenzen und die zeitgeschichtlichen Ereignisse zusammen, jedoch ohne Wesentliches auszugrenzen oder gar den Leser über Gebühr zu befrachten. Auf lockere Art und Weise, mit stilistischer Eleganz und Noblesse, immer auf höchstem Niveau und mit philosophischer Grundtendenz, gibt Geier einen hervorragenden Einblick in die Lebenswelt dieser beiden Männer. Gleichzeitig öffnet er die Tür zum Verständnis ihrer Werke, ja, er ermutigt gar, sich weiterer Sekundär- oder Primärliteratur zu bedienen, um diese beiden gleichen Ungleichen noch besser kennenzulernen.

Rückzug ins Innere versus Orientierung nach außen
Das Leben der Humboldts fing alles Andere als glorios an. Als 1779 ihr weltoffener, heiterer Vater stirbt, beginnt für sie eine Zeit der emotionalen Einsamkeit und kühlen Distanz zu ihrer Mutter, hervorgerufen offensichtlich durch deren besondere Unnahbarkeit und Kälte. Hinzu kommt die hofmeisterliche Kontrolle durch ihren Hauslehrer Kuntz. Wilhelm und Alexander haben, wie es in vielen vornehmen und begüterten Familien üblich war, nie eine Schule besucht, waren ständig unter der Aufsicht von Erwachsenen, "die zwar das Beste für sie wollten, aber ihre Empfindungen nicht nachvollzogen." Ihre prägnanten Verhaltensweisen und Stimmungen werden zeit ihres Lebens ein Zeugnis über ihre Zeit auf "Schloss Langeweil im märkischen Sand" (Anm.: der Familiensitz Schloss Tegel) geben.

Schon früh zeigt sich die unterschiedliche charakterliche Prägung der Brüder, die sie ihr ganzes Leben beibehalten werden. Stürzt sich der eine (Wilhelm) in "ständiges Studieren, ununterbrochenes Lernen und intensives Lesen", hat der andere (Alexander) "sehr wenig Lust, [sich] mit den Wissenschaften zu befassen." Rückzug in die innere Welt der Sprachen und der Literatur versus Orientierung nach außen in die Natur, zu Steinen, Pflanzen, Muscheln und Käfern. Für beide ist es der angemessenste Ausweg aus all den Zwängen, Verstellungen und ständigen Aufopferungen. Erst 1785 sollte sich die Welt ein wenig mehr für sie öffnen, als die beiden Jugendlichen in das Bildungsmilieu der "Berliner Aufklärung" geraten. Ein nahezu radikales Kontrastbild zu ihrer Kindheit: "Genussvolle Geselligkeit statt erlittener Einsamkeit, Offenherzigkeit statt Verstellung, Freiheit statt Zwang", berichtet Manfred Geier.

Unterhaltsam weiß der Autor die nächsten Schritte in die Welt von Wilhelm und Alexander Humboldt nachzuzeichnen und dem Leser informativ und spannend über deren Lebensstationen zu berichten. Dies sind nach Berlin zunächst die noch gemeinsamen Studentenjahre in Göttingen bei Georg Christoph Lichtenberg, Christian Gottlob Heyne und dem Zoologen Johann Friedrich Blumenbach. Hier lernen sie auch den Naturforscher Georg Forster, der mit James Cook die Welt umsegelt hatte, kennen. Mit jenem wird sie eine lebenslange Freundschaft verbinden. Geier berichtet aber ebenso von ihren Erfahrungen mit der Französischen Revolution oder der Entwicklung ihrer klassischen Ideen vom Ganzen gemeinsam mit Schiller und Goethe. Natürlich dürfen die Reisen Alexander von Humboldts nach Mittel- und Südamerika, seine naturwissenschaftlichen Forschungen im Orinoko-/Amazonas-Gebiet und sein "Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu besteigen" nicht unerwähnt bleiben. Haben doch gerade sie ihn endgültig zu Ruhm und Ehren getragen. Währenddessen macht sein Bruder Wilhelm Politik für Deutschland, gründet die Berliner Universität und initiiert eine Reform des preußischen Erziehungswesens, "eine Idee der Bildung, in deren Mittelpunkt nicht staatliche Interessen oder berufliche Nützlichkeit stehen, sondern 'der Mensch selbst' mit seinen physischen, intellektuellen und moralischen Kräften."
Aber Alexanders zunehmendes "Französischsein" lässt sich die Brüder mehr und mehr voneinander entfernen.

Unterhaltsame und fundierte literarische Darstellung
Zur Lockerheit und Farbigkeit der Erzählung trägt maßgeblich bei, dass sich Manfred Geier nicht nur auf eine Ansammlung von Fakten, Stationen, Personen und intellektuellen Würdigungen der beiden Protagonisten beschränkt, sondern vor allem die Einflechtung und Nachzeichnung äußerst menschlicher "Befindlichkeiten", erotischer Wünsche und sexueller Orientierungen. Während Wilhelm die Rolle des "grob Sinnlichen" zufällt (er vergnügte sich im Zweifelsfall mit Prostituierten), entdeckt Alexander allmählich seine Homophilie. Geiers intensives Nachspüren der - auch hier konträr agierenden - Triebschicksale beider Brüder, macht deren geistigen Lebensweg noch verständlicher.

Letztendlich finden die Brüder in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts wieder zusammen. Während sich Wilhelm als freier Gelehrter den vergleichenden Sprachstudien widmet, kehrt Alexander nach Deutschland, in die Dienste des preußischen Königs, zurück und beginnt sein fünfbändiges Spätwerk "Kosmos" zu entwerfen. Der Tod des älteren Bruders, der im "Kosmos" des Denkens und der Sprache zu Hause war, trifft ihn schwer. Alexander, der nie so gesund war wie auf seinen abenteuerlichen Reisen, wird ihn um 24 Jahre überleben. Im Park des Schlosses Tegel liegen beide neben Wilhelms Gattin Caroline im Familiengrab der Humboldts bestattet.

Das Zitat Wilhelm von Humboldts an seine Frau Caroline vom 16. März 1814, welches Manfred Geier dem Buch vorangestellt hat, soll dieser Rezension als Schlusswort dienen. Denn erst beim Zuschlagen der letzten Seite wird man sich dessen Aussagekraft in voller Tragweite bewusst: "Was das Sonderbarste ist, so gleichen wir uns doch eigentlich in tausend Stücken. Für einen dritten muß es kaum zwei Leute geben, über die es so amüsant sein muß, sich vergleichend zu mokieren." Manfred Geier hat dies auf jeden Fall getan.

Fazit:
Die immense Fülle an Fakten und Ereignissen aus dem Leben von Wilhelm und Alexander Humboldt weiß Manfred Geier in einem beeindruckenden, subtanzreichen und klugen Terzett aus Naturkunde, Philosophie sowie unterhaltsamer und fundierter literarischer Darstellung gekonnt in einer äußerst lesenswerten, ja, oft sogar bewegenden Biografie zu vereinen.

(Heike Geilen; 06/2009)


Manfred Geier: "Die Brüder Humboldt. Eine Biografie"
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt Reinbek, 2009. 350 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Rowohlt, 2010.
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Manfred Geier, geboren 1943, lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Hannover. Jetzt lebt er als freier Publizist und Privatdozent in Hamburg. Zahlreiche Buchpublikationen, unter anderem: "Kants Welt. Eine Biografie" (2003) und "Worüber kluge Menschen lachen" (2006), außerdem die Rowohlt-Monografien über Karl Popper, den Wiener Kreis und Martin Heidegger.

Weitere Lektüreempfehlungen:

Hans Richard Brittnacher, Hans Feger: "Die Realität der Idealisten. Friedrich Schiller, Wilhelm von Humboldt, Alexander von Humboldt"

Am Beispiel von Friedrich Schiller, Wilhelm und Alexander von Humboldt zeigt der Band auf, dass der Deutsche Idealismus ein Realismusverständnis geprägt hat, dessen überragende Bedeutung darin besteht, das Projekt der Moderne aus der provinziellen Enge philosophischer Studierstuben hinausgeführt und um ein transdisziplinäres, interkulturelles Wissenschaftsverständnis erweitert zu haben. Schiller und die Gebrüder Humboldt stehen stellvertretend für den Begriff eines Weltbürgertums und für die Idee einer globalen Wissenschaft, die getragen ist von einer Fantasie, der keine Grenzen gesetzt sind und die doch nicht ins Imaginäre entschwindet, sondern Realitäten erforschen will. Durch den Blick auf die drei Universalgelehrten soll das Profil einer intellektuellen Konfiguration um 1800 rekonstruiert werden, die bislang hinter der Erforschung anderer wirkungsträchtiger Beziehungen und Zusammenhänge das Nachsehen hatte. (Böhlau Verlag Köln)
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Ottmar Ette: "Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens"

Ottmar Ette, einer der renommiertesten Humboldt-Forscher, stellt in dieser intellektuellen Biografie den Schriftsteller und Gelehrten Alexander von Humboldt vor, den mit den verschiedensten Kulturen vertrauten Philosophen ebenso wie den mit neuen Formen empirischer Wissenschaft experimentierenden Naturforscher.
Lange Zeit wurde Alexander von Humboldt missverstanden als nur historisch interessante Figur. Doch mittlerweile ist sowohl die herausragende Qualität seiner literarischen und wissenschaftlichen Schriften als auch seine Bedeutung als Vordenker der Globalisierung unbestritten.
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Alexander von Humboldt: "Die Entdeckung der Neuen Welt"
Mit dem geografischen und physischen Atlas der Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents Alexander von Humboldts sowie dem Unsichtbaren Atlas der von ihm untersuchten Kartenwerke. Nach der Übersetzung aus dem Französischen von Julius Ludwig Ideler ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette.
"Die Entdeckung der Neuen Welt" ist neben dem "Kosmos" das Hauptwerk Alexander von Humboldts. Es bildet den Schlussstein seiner Amerikabücher, in denen er mit epischem Schwung seine große Amerikareise (1799-1804) auswertet.
Im exakten Titel des Buches steckt sein Programm: "Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert". Es geht um die technischen und geistigen Voraussetzungen, unter denen sich Europa am Beginn der Neuzeit anschickte, unter dem Schock der Erkenntnis von der Kugelförmigkeit der Welt einen transatlantischen Horizont auszubilden. In der Analyse historischer Karten, der vergleichenden Lektüre von Reiseberichten früher Amerikareisender, aber auch in zeitgenössischen Legenden entsteht das Bild eines Europas im Aufbruch und einer im Dunst der Zeugnisse langsam Kontur gewinnenden Neuen Welt. Nach mehr als drei Jahrzehnten der Recherche überblickte Humboldt den gewaltigen Stoff vollständig. Der Fünfundsechzigjährige stand auf der Höhe seines Denkens wie seiner Kunst des Schreibens.
Der zweite Band dieser Ausgabe präsentiert in weit über einhundert aufwändigen Farbreproduktionen den Atlas Alexander von Humboldts und den Unsichtbaren Atlas aller von ihm bearbeiteten Karten. Die von Humboldt gewollte Einheit von Text und Kartenwerk wird so überhaupt zum erstenmal greifbar. (Insel)
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Alexander von Humboldt: "Zentral-Asien. Untersuchungen zu den Gebirgsketten und zur vergleichenden Klimatologie"
Auf Einladung des Zaren Nikolaus I. unternahm Alexander von Humboldt 1829 eine Expedition von Petersburg über Moskau in den Ural, ins Altai-Gebirge, zum Kaspischen Meer und bis nach Baty an die chinesische Grenze. Seine Beobachtungen trug er in einem originellen Werk zusammen, das zuerst 1843 in französischer Sprache erschien. Oliver Lubrich hat die einzige deutsche Übersetzung (Wilhelm Mahlmann, 1844) neu bearbeitet, vervollständigt und mit dem französischen Original abgeglichen.
In der Mischung aus Reiseeindrücken und Forschungsbericht entwickelt Humboldt ein neues Konzept der Raumbeschreibung, das als Grundlage für den späteren "Kosmos" dient. Der Band enthält zahlreiche Abbildungen - Skizzen, Landschaften, Objekte, Karten - und begleitende Texte (ausgewählte Briefe, Bericht des mitreisenden Gustav Rose). Dieses Buch ist ein einzigartiges Dokument einer Forschungsreise unter den Bedingungen einer Diktatur und das einmalige Zeugnis eines der größten deutschen Wissenschafter. (S. Fischer)
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Alexander von Humboldt: "Das Buch der Begegnungen" zur Rezension ...