Che Guevara – Zum 75. Geburtstag einer Politikone

"Seien wir realistisch - fordern wir das Unmögliche!"


In diesen Tagen, genau am 14. Juni 2003, jährte sich zum fünfundsiebzigsten Male der Geburtstag des im Jahre 1928 in Rosario (Argentinien) geborenen Ernesto Guevara de la Serna (ein erlauchter Name!), welcher später sowohl von Freunden wie von Feinden, als auch von Verehrern und von Kritikern seiner visionären "Politik der Tat", schlicht und einfach der "Che" [ital. in der Bedeutung von: Welcher; Dieser; Der] genannt wurde. Die pünktlich zum jubilaren Anlass aufschäumende Legendenpflege zur Person des Guerillaführers vergegenwärtigt uns auf das Eindrücklichste die ungebrochene Popularität dieser nicht verblassen wollenden Politikone, an deren Nimbus keine auch noch so fundierte Kritik schädigend rühren mag. Das Konterfei des Che findet sich auf T-Shirts ebenso wie auf Tangas und verleiht im Posterformat so manchem Kinderzimmer einen subversiven Touch, den die Eltern verständig lächelnd tolerieren. Ist doch nett anzusehen, der Che. Ein romantischer Held, von dem junge Mädchen schwärmen und dem Jünglinge in ihrer Fantasie nacheifern. Eine Kultikone unserer Tage, die den guten Geschmack trifft.

Worauf beruht nun dieser nicht zu leugnende Popstar-Status, der in der Praxis seiner Inszenierung oft gerade noch peripher die Idee revolutionärer Politik tangiert, wie sie der Che meinte und für deren Umsetzung er, unter Selbstverleugnung privater Interessen, lebte und starb? Es wäre zu einfach, den Che auf das Produkt einer professionell durchgeführten PR-Campagne zu reduzieren, obgleich natürlich die Wirkkraft der allerorts kursierenden - und nach vollzogener Digitalisierung auch im World-wide-Web präsenten - Porträtfotos nicht unterschätzt werden darf. Doch sind diese Porträtfotografien denn viel mehr als Schaufenster zu einem Mythos, der sich längst schon selbst reproduziert, und an dessen Entstehung schon der Che, in vollstem Bewusstsein seiner charismatischen Strahlkraft, zu Lebzeiten mitgewirkt hat?  

Betrachtet man diese Porträts, so erblickt man die Wirklichkeit eines bekennenden Fantasten, eines zwar tatkräftigen doch zugleich poetischen Gemüts, das Zeit seines Lebens die schöne wie auch die sachkundige Literatur liebte, sich verständig mit Lyrik befasste, unangepasst und authentisch im persönlichen Ausdruck, ja draufgängerisch war, weil eben ein Vollblutabenteurer, der es in der Tat liebte gefährlich zu leben und welcher dabei die Gemütlichkeit einer wohl situierten Existenz als eine zur Selbstentfremdung führende Abscheulichkeit ausschlug. Infantil? Oder rebellisch? Am Ideal authentischer Menschlichkeit orientiert? Ober vielleicht gar verrückt?

Jawohl, verrückt war der Che ganz gewiss, nämlich im Sinne eines sich selbst auf Abwege bringenden Hinwegrückens von den gängigen Verhaltensnormen bürgerlicher Alltagskultur. Schon als Student entfloh Ernesto Guevara seiner gutbürgerlichen Existenz, in welche er hineingeboren war, bereiste erstmals 1949 auf einem Fahrrad die Nordprovinzen seiner argentinischen Heimat und unternahm in den Folgejahren bis 1953 ausgedehnte Tramptouren durch mehrere Länder Lateinamerikas. Gegenüber einem Freund bekundete er das Motiv dieses wiederholten Ausreißens aus geregelten Lebensverhältnissen mit einer tief empfundenen Abscheu vor den Usancen und Normen bürgerlicher Lebensführung; "er zöge einen Schuss in die Brust einem solchen Dasein vor". Welche Prophetie!

Im Laufe seiner stetigen Abenteuersuche kam der junge Arzt, welcher im März 1953 in Buenos Aires zum Dr. med. promovierte, in Kontakt mit sozialrevolutionären Strömungen, deren Denkweisen in ihm eine, bereits seit Schulzeiten vorhandene, Tendenz zum linksgerichteten Agitator verstärkten. In weiterer Folge sollte sich der Che sodann nicht nur zu einem führenden Repräsentanten der kubanischen Revolution entwickeln (gewissermaßen neben Fidel Castro die Nummer 2; doch vermutlich populärer als dieser), sondern vielmehr stilisierte er sich durch sein ganzes Gehaben sukzessive zum Archetypus revolutionärer Männlichkeit schlechthin. Eine bis ins Urtümliche überzeichnete phallisch gefärbte Heroenfigur, sanft und bestimmt zugleich, der ebenso ein gehöriges Maß an romantischer Empfindung wie auch an messianischer Erotik inhärent ist, die sich trefflich als Projektionsfläche für unterschiedlichste Wunschfantasien eignet, mögen diese auch noch so abwegig und diffus sein. Che trug, vermittels einer akzentuiert rebellischen Selbstinszenierung, das Seine zur Stilisierung eines typisierenden Außenbildes von der eigenen Person bei. So ließ er es sich nicht nehmen, selbst im Rahmen höchster diplomatischer Empfänge, in der Uniform des Rebellenführers aufzutreten; nicht zuletzt um dem bürgerlichen Gegenüber solcherart auf konterkarierende Weise dessen sozialparasitären Charakter zu signalisieren. Seine revolutionäre Theorie war seit geraumer Zeit die Ideenlehre des Marxismus-Leninismus. Seine revolutionäre Praxis war der Guerillakrieg. Ein Weg der Gewalt, welcher ihn nicht in die herbeigesehnte heile Welt, sondern in den Untergang führte.

Dieser Argentinier, welcher die zur Laxheit neigenden Kubaner mit seinen hohen Ansprüchen an Disziplin und Selbstdisziplin überraschte, dessen rigoros sozialistischer Moralbegriff wie auch sein zuweilen als anmaßend empfundener Dogmatismus seine Umgebung erschreckte, wurde im tropischen Naturell des postrevolutionären Kubas nie wirklich heimisch. Das kommunistische Establishment blieb dem Radikalrevolutionär hier wie da verdächtig, wie er denn auch im Sowjet-Menschen nur einen "umgestülpten Amerikaner" sah, was den mächtigsten Verbündeten der kubanischen Revolution natürlich erzürnen musste. Als Industrieminister des von korrupten Eliten und vom US-Imperialismus befreiten Kuba scheiterte Che schlussendlich an der Umsetzung seines von idealistischer Leidenschaft getragenen Beschlusses, materielle Anreize durch moralische Anreize zu ersetzen. Das Unterfangen erwies sich als ein für die Wirtschaft schädliches Experiment eines weltfremden Träumers, denn die vorausgesetzte sozialistische Moral wollte sich in den werktätigen Massen einfach nicht herausbilden. Die Sowjets tobten ob des wirtschaftspolitischen Unverstands des kubanischen Revolutionsregimes und erzwangen schlussendlich den Abbruch des kostspieligen Experiments einer auf dem Prinzip von Mitmenschlichkeit begründeten Volkswirtschaft. Ches von moralischen Vorstellungen geprägte visionäre Wirtschaftspolitik war somit endgültig an der harten Realität zerschellt. Die Menschen wollten sich nicht so verhalten, wie es ihm in seinen Doktrinen vorschwebte. Mitmenschlich und uneigennützig am Gemeinwohl orientiert.

Im Jahre 1965 verabschiedete sich Che Guevara vom kubanischen Volk, dessen leichtlebige Mentalität ihm, bei aller gegenseitigen Zuneigung, innerlich fremd geblieben war, das seine Visionen einer besseren Welt unverständig zurückgewiesen hatte und zu dessen friedlicher Nachkriegsordnung der Held des kubanischen Revolutionskriegs, seiner ideologischen Kompromisslosigkeit wegen, nun offenbar nichts Substanzielles mehr beizutragen hatte. Der Kriegsheld war am Frieden gescheitert und kehrte nun zu jenem Metier zurück, das seinen Fähigkeiten und abenteuerlichen Neigungen am besten entsprach: Das Metier des Guerillakriegers. Sein erklärtes Ziel war die Verwirklichung des unmöglichen Traums von der Weltrevolution, in der Gestalt eines globalen Flächenbrandes sozialen Aufruhrs, entfacht über den Export der kubanischen Revolution in ausgesuchte Regionen der Dritten Welt, als Glutnester, zuerst im afrikanischen Kongo, sodann im südamerikanischen Bolivien, wo das revolutionäre Abenteuer - das hier wie dort bei der einheimischen Bevölkerung wenig Rückhalt fand - im Jahre 1967 mit der Gefangennahme und Erschießung des argentinischen Weltenstürmers endete.

Das Elend dieser Erde in "progressive Gewalt" für ein besseres Dasein zu verwandeln, war sein Plan gewesen, und dazu verfasste er in pathetischen Worten ein apokalyptisch anmutendes Szenario, das ob seines darin zum Ausdruck kommenden Gemütszustandes Rätsel aufgibt: "… dass die Zukunft leuchtend und nahe wäre, wenn zwei, drei, viele Vietnam auf der Oberfläche unseres Erdballs 'erblühten' mit ihrer Todesrate und ihren unermesslichen Tragödien … dass wir auf dem Weg der Befreiung verbleiben müssen, selbst wenn er durch einen Atomkrieg Millionen Opfer kostet?" - Eine revolutionäre Inbrunst, deren schwelgerische Grausamkeit das Blut in den Adern gefriert und welche die vorgeblich humanitäre Gesittung des Che in einem ebenso zweifelhaften wie irrationalen Licht erscheinen lässt.

Und doch ist es vielleicht dieser unwirkliche Charakterzug, der so sehr fasziniert und zur nachhaltigen Glorifizierung des Revolutionshelden maßgeblich beigetragen hat. Spricht doch ein messianischer Gestus aus ihm, der, in beinahe schon dämonischer Manier, um einer besseren Welt wegen, deren Opfergang betreibt und dabei auch nicht davor zurückscheut, gleich dem biblischen Jesus Christus (mit dem der Che oft assoziiert wird), sich selbst zum Opfer darzubringen.
Es ist also das gelebte Charisma eines messianisch beseelten Menschen, das uns aus den zahlreichen Porträtfotos des Che entgegentritt. Was wir somit sehen, ist ein Mann, der noch im Tod ein überweltliches Sendungsbewusstsein atmet, welches sich im Dienste eines historischen Heilsauftrags wähnt, neben dessen übergeordneter Bedeutung der Einzelmensch zur vernachlässigbaren Größe schrumpft. Der Che lebte und starb für höherwertige Ideen und hatte als abenteuerliches Gemüt wohl auch seinen Spaß daran. In Verbindung mit einem fotogenen Erscheinungsbild ist dies offenbar allemal ausreichend, um in einer Welt oberflächlich betörend zu wirken, wo höherwertige Ideen sonst kaum einmal gelebt werden und tief empfundene Freude am eigenen alltäglichen Tun mehr die Ausnahme denn der Regelfall ist.

(Tasso; 06/2003)


Zur Rezension von "Das magische Gefühl, unverwundbar zu sein. 
Das Tagebuch der Lateinamerika-Reise 1953-1956"
von Ernesto Che Guevara

Bücher über Ernesto Che Guevara bestellen