Wildbret mit Früchten - Ernährung in
Sammlerinnen- und Jägerkulturen
Menschen sind nicht nur Sohlengänger,
sondern auch Allesfresser. Ihr Verdauungsvermögen meistert neben pflanzlichen
und tierischen Stoffen auch Erden und Tone, ja rein chemikalisch synthetisierte
Nahrung. Gleichwohl wurde das verschwenderische Angebot der Natur immer nur sehr
begrenzt genutzt. Von Zehntausenden kultivierbarer Pflanzen fanden -
vorübergehend oder auf Dauer - lediglich rund sechshundert Eingang in den Anbau.
Das hatte mit den Umweltbedingungen, ebensosehr aber auch mit den überlieferten
Lebensformen zu tun: Weniger die biologische als vielmehr die kulturell
definierte Genusstauglichkeit zählte.
Die Tschuktschen
und andere Polarvölker bis hin zu den Eskimo Nordamerikas und Grönlands lebten,
umweltbedingt nahezu ausschließlich, von Fisch und vor allem Fleisch (bzw. Fett,
Tran) - von Seesäugern (Robben und Walen), Renen, Bären und Moschusochsen
(Eskimo). Kleinere Tiere, Wildgeflügel, Beeren, Flechten, Vogeleier und andere
Sammelkost ergänzten den Speisezettel in nur sehr geringfügigem Maß. Sie setzten
damit noch in etwa eine Tradition fort, wie sie jahrtausendelang während der
letzten Eiszeit, des Würm-Glazials (70 000-10 000 v. Chr.), auch die
jungpaläolithischen Kulturen Europas (ca. 36 000-8000 v. Chr.) geprägt hatte.
Ihre Schöpfer waren unsere ältesten Vorfahren, die ersten dort lebenden
Repräsentanten des anatomisch modernen Menschen, des Homo sapiens
recens.
In Anpassung an ihre extremen Umweltbedingungen hatten sie Formen
des spezialisierten "Höheren Jägertums" entwickelt, das heißt lebten zur
Hauptsache von der Jagd auf bestimmte Großwildarten - Mammut, Auerochse, Wisent,
Wollnashorn, Pferd, Ren und
wiederum Seesäuger. Daneben erlegten sie Kleingetier (Schneehasen, Vögel) und
betrieben ergänzend Fischfang. Männer, deren Sache, wie auch in der Folgezeit
stets, die Jagd
war, gaben den Ton in der Gesellschaft an; sie erhielten entsprechend reichere
Grabbeigaben, auch an Schmuck. Je nach den Wildvorkommen und Gegebenheiten der
Umwelt lebte man in kleineren Gruppen auf dem "flachen Land" in Zelten, Höhlen
und unter Felsüberhängen, teils auch in halbunterirdischen Langhäusern. Jede
Familie besaß ihre eigene Feuerstelle, beziehungsweise einen Herd aus sorgfältig
aufgeschichteten Steinen. Da es an geeigneten Gefäßen fehlte, konnte darauf
nicht gekocht, sondern nur Fleisch geröstet, gegrillt, gedörrt oder geräuchert
werden. Vieles aß man vermutlich, wie die Eskimo heute noch, auch roh.
Das
weckte oftmals die Vorstellung, als habe der "Höhlenmensch" seine "Beute"
gleichsam mit den Händen und Zähnen zerrissen und gierig verschlungen, wie Tiere
es tun, schlichtweg um seinen hungrigen Magen zu stopfen. Die Befunde wie auch
ein Blick auf vergleichbare rezente Kulturen Sibiriens und des Hohen Nordens, ja
auch auf Brauchtum und Glauben überwiegend von der Jagd lebender Völker
generell, vermitteln jedoch ein anderes Bild. Die Menschen des
Jungpaläolithikums fertigten bekanntermaßen großartige Fels- und Höhlenmalereien
an. Darauf sind in der Hauptsache Großwild, tiermenschliche Mischwesen,
Gestalten, die Tiermasken tragen, und Jagdszenen dargestellt, die auf jeden Fall
zu erkennen geben, dass in der jungpaläolithischen Religiosität - ganz wie in
späteren Jägerkulturen noch - das Tier, vor allem das Jagdwild, eine zentrale
Rolle spielte. Infolgedessen begegnete man ihm sicherlich auf besondere Weise
und musste das Töten ein Problem darstellen, das entsprechende magische
Umsichten, wohl auch spezielle Rituale erforderlich machte. Manches deutet auch
schon auf schamanistische Seancen hin, das heißt Seelenreisen eigens dafür
ausgebildeter Spezialisten zu den - wiederum tiergestaltigen - "Herrinnen" oder
"Herren der Tiere" im Jenseits, Geistmächten, die Verantwortung für den
Wilderhalt trugen und über den Jagderfolg entschieden. Verschiedentlich wurde
offenbar auch, wie bis in neuere Zeit noch in Teilen Sibiriens und Nordamerikas,
getöteten Bären, namentlich ihren Schädeln, kultische Verehrung zuteil. Alles
Anzeichen dafür, dass man sein täglich Fleisch wohl kaum gedankenlos vertilgte.
Näheres dazu wird noch zur Sprache kommen.
Gedanken kann man sich
allerdings darüber machen, ob die Menschen bei dieser grünkostarmen
Fleischvöllerei nicht allzu einseitig ernährt waren und entsprechende
gesundheitliche Mängel litten. Die Knochenbefunde liefern indes keinerlei
Hinweis darauf. Untersuchungen an noch weithin traditionell lebenden Eskimo
bestätigten das Ergebnis: Alle verfügten über eine hervorragende Konstitution.
Die Erklärung sieht man darin, dass die Eskimo auffallend reichlich Leber aßen,
die fast alle lebenswichtigen Vitamine enthält, und sich viel im Freien
aufhielten, so dass es durch die Sonneneinstrahlung zur Bildung von Vitamin D
und damit zu einer hinreichenden Versorgung mit - im Fleisch nur mangelhaft
enthaltenem - Calcium kam.
Doch Eiszeit- wie Polarjäger bildeten in der Geschichte der Menschheit, so wohl
genährt sie immer auch waren, in jeder Beziehung eine Randerscheinung. Weiter
im Süden lebte es sich nicht nur angenehmer, die Tafel war auch abwechslungsreicher
und besser besetzt. Zur Jagd kam hier die Sammel- und Erntewirtschaft hinzu,
beides immer der Aufgabenbereich der Frauen. Sie lasen Würmer, Raupen, Käfer
und Schnecken auf, fingen Insekten (Zikaden und Heuschrecken vor allem), Eidechsen,
Frösche und anderes Kleingetier ein, bohrten nach Maden und Mäusen, sammelten
Pilze, Vogeleier
und Blattgrün, gruben nach Wurzeln, ernteten Beeren, Früchte und Nüsse
und "grasten" im wahrsten Sinne des Wortes alle größerkörnigen Gramineen- und
Wildgetreideähren "ab".
Diese Art gemischter Zukost lediglich als willkommene "Snacks" zu
betrachten, wäre eine grobe Fehleinschätzung. Sie besaß bereits unter subhumanen
Primaten nicht nur eine lange Tradition, sondern auch eine für den Unterhalt
kaum zu überschätzende Bedeutung. Bei Affen deckte die solcherart erbeutete
Fleischkost unter Umständen gut 90 Prozent des Nahrungsaufkommens ab, in
Sammlerinnen- und Jägergesellschaften machte die Sammelkost insgesamt bis zu 70
Prozent des Speisezettels aus. Auch in den Agrarkulturen spielte sie, zumindest
in waldnahen Lagen, bis ins Mittelalter hinein eine erhebliche Rolle. In der
Antike wurden bestimmte Larven aus Gründen der Delikatesse eigens mit Mehl
gemästet und größere Insektenarten, wie namentlich Heuschrecken, auf den Märkten
feilgeboten. Kein Geringerer als Aristoteles (384-322 v. Chr.) pries den Genuss
fetter Zikadenlarven und empfahl, die entwickelten Weibchen vor allem zu kosten,
wenn sie Eier trügen, also gewissermaßen mit "Kaviar" gefüllt waren.
Doch
ging es nicht nur um den Gaumenkitzel. In traditionellen Subsistenzwirtschaften
spielte die Sammelkost eine unverzichtbare Rolle, weil sie reich an wichtigen
Nährstoffen war. Engerlinge, mehr noch Termiten und Heuschrecken, dienten zum
Beispiel der ergänzenden Fettzufuhr. In den Tropen liefern Larven und Raupen bei
einem Genuss von 20 bis 40 Stück bis zu 160 g, was etwa 1300 Kalorien
entspricht, ausgewachsene Insekten gar das Drei- bis Fünffache davon. Tierisches
Eiweiß, zur Hauptsache im Wildbret enthalten, konnte zusätzlich durch den
Verzehr größerer Landschnecken aufgenommen werden, die im afrikanischen
Regenwald mitunter bis zu Faustgröße erreichen. Pflanzliches Eiweiß und vor
allem Kohlenhydrate (Stärke, Zellulose, Glykogen u. a.) lieferte der Genuss von
Wurzeln, Blattgemüsen, Beeren, Früchten und Honig.
In
Sammlerinnen- und Jägerkulturen, die immerhin das Gros der menschlichen
Geschichte (rund 3 Millionen Jahre) ausmachen, hatte man also nicht nur
ausreichend und gut zu leben, sondern verfügte auch über eine absolut
vollwertige Kost. Selbst in den Rückzugsgebieten der neueren Zeit war das
Angebot immer noch überreichlich. Buschmann-Gruppen in Botswana zum Beispiel
ernährten sich zu einem Großteil von der Mongongo-Nuss, die fünfmal soviel
Kalorien und das Zehnfache an Proteinen enthält wie vergleichbare Zerealien. Der
Vorrat war so groß, dass alljährlich immer noch Tausende Pfund ungenutzt
blieben. Daneben standen den Menschen gut 80 weitere essbare Wildvegetabilien,
auch sie in reichlichem Ausmaß, sowie hinreichend Wild zur Verfügung, so dass
ihre Versorgung selbst in Dürrejahren keinerlei Engpässe kannte. Bei den Hadza,
deren Lebensraum eine felsige Trockensteppe südlich des Victoria-Sees in
Ostafrika bildete, herrschten eher noch günstigere Verhältnisse. Ärztliche
Untersuchungen ergaben, dass ihre Ernährung nicht nur voll ausreichend, sondern
auch optimal zusammengesetzt war und sie infolgedessen über eine hervorragende
Gesundheit verfügten. An Arbeit brauchten sie dafür im Schnitt lediglich zwei
Stunden pro Tag aufzuwenden! In der Ethnologie werden Sammlerinnen- und
Jägervölker daher auch geradezu als "Überflussgesellschaften" charakterisiert.
(Aus "Nektar und Ambrosia. Kleine
Ethnologie
des Essens und Trinkens" von Klaus E.
Müller.)
Klaus E. Müller ergründet in diesem
Buch mit scharfem ethnologischem Blick Rituale, Regeln und Rezepte, die unsere
Ernährung seit Urzeiten prägen. Vieles, was uns selbstverständlich erscheint -
etwa bestimmte Sitzordnungen oder Vorlieben für manche Speisen und Abneigungen
gegen andere -, erweist sich als eine archaische Erbschaft mit hoher
symbolischer Bedeutung. Das Buch macht aber auch deutlich, wie durch die moderne
Fast-Food-Kultur die lange Kontinuität gebrochen wird.
Nahrungsgewinn und Ernährung stellen für die Menschen seit frühesten Zeiten
ein elementares Problem dar. Seine Lösung entscheidet wesentlich mit über Gesundheit,
sozialen Frieden, Fortpflanzung und gesellschaftlichen Einfluss. Nahezu alle
Lebensbereiche werden in vormodernen Gesellschaften von der Kultur des Essens
und Trinkens geprägt. Klaus E. Müller beschreibt in diesem Buch unter anderem
die soziale Funktion gemeinsamer Mahlzeiten mit ihren Sitzordnungen und Tischmanieren,
die Bedeutung sakraler Festessen und Trinkrunden, den Unterschied zwischen Volks-
und "Hochküche" sowie den symbolischen Zusammenhang von "Tisch und Bett" (Ehe
und Sex). Zur Sprache kommen auch Mythen von der paradiesischen Kost, der "Götterspeise",
sowie die magische Kraft, die manchen Speisen und Getränken bis heute zugeschrieben
wird. Anhand vieler ebenso lehrreicher wie unterhaltsamer Beispiele führt der
Autor die ethnologische Tiefendimension vieler bis heute praktizierter Rituale
rund ums Essen vor Augen und trägt so zu einer "bewussten" Ernährung bei.
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