(....) Es ist irgendwo in einem Kölner Vorort, in Altona, in München oder in Burgdorf bei Hannover: Ich stehe vor einem Reihenhaus, in einem Hinterhof oder vor einem stattlichen Bungalow. Die Hausnummer stimmt mit dem Absender auf dem Kuvert überein, ich lese den Namen und drücke auf die Klingel. Der Mann, der sich für die Tagebücher interessiert, wird freundIich in die gute Stube gebeten - der erste Schritt in ein anderes Leben. Skepsis und Mißtrauen auf beiden Seiten, das schon bald großem Entgegenkommen, Vertrauen und Freundschaft weicht. Viele sind immer noch erstaunt, daß sich jemand für ihr »Geschreibsel« interessiert - aber auch unverhohlener Stolz, daß ihnen endlich jemand zuhört. Über Zeitungsartikel, Aufrufe in Rundfunk und Fernsehen, hilfreiche Vermittlungen von Freunden und Bekannten habe ich in fünf Jahren fast tausend Tagebuchschreiber ausfindig gemacht. Sicher nur die Spitze eines Eisbergs.
Der Schwerpunkt der Tagebücher lag deutlich in den dreißiger und vierziger Jahren. Eine Generation hat ihre Tagebücher geöffnet und ist bereit, über den Alltag in der Hitlerdiktatur zu reden. Die Distanz ermöglicht Nähe: mir, dem fremden Besucher, konnte man Geschichten zu lesen geben, die vor den eigenen Kindern lange Zeit verborgen gehalten wurden. Ich konnte fremden Vätern und Müttern Fragen stellen, die mir zu Hause schwergefallen wären. In jeder Familie gibt es so viele Geschichten, die nie erzählt werden. Jeden Tag schweigen wir mehr, als wir reden. Tagebücher erzählen auch die Geschichte von einem zweiten, geheimen Leben: Sätze, die man den Eltern nicht ins Gesicht sagen kann, Lebensentwürfe, die maßlos erscheinen, Hintergedanken, die für die Menschen, mit denen man zusammen leben will, zu verletzend sind, als daß man sie einfach aussprechen könnte.
Das Tagebuchschreiben entlastet zunächst vom Druck der ungesagten Worte. So gesehen kann die notwendige Auseinandersetzung mit den anderen aus dem Alltag verlagert werden. Der Schauplatz ist nicht mehr die reale Welt, sondern das Tagebuch. Dennoch: wer seine verborgenen Gedanken aufschreibt, der ist für die große Anpassung ungeeignet. Wer so zu sich selber spricht, hat einen Ort, an dem er herausfinden kann, was er für sich selber will. Seine Notizen machen ihn empfindlich dafür, was er sich selber antut und was ihm von den anderen angetan wird. Ich habe auch Tagebücher gelesen, in denen sich die Autoren große Abenteuerromane geschrieben haben: Jedem Tag muß dann ein interessanter Auftritt - in möglichst günstiger Beleuchtung für den »Helden« - abgewonnen werden. Die Stilisierung, die das Leben scheinbar verlangt, wird im Buch fortgesetzt. Besonders gern gelesen habe ich Tagebücher, mit denen sich die Autoren nicht zugeschrieben haben, sondern die sie aufgemacht haben für neue Erfahrungen; Bücher, die in Momenten großer Not entstanden sind. Da ist jedes Schulheft, jeder Taschenkalender, jedes Stück Papier gerade recht. Jemand bohrt sich ein Loch durch die Seiten des Poesiealbums und zieht ein Schloß durch das Buch, um sich auf dieser Welt einen Platz zu reservieren, der nur ihm allein gehört. Ein Schüler erfindet eine Geheimschrift. Eine Sekretärin benutzt stenografische Abkürzungen. Auf manchen Seiten finde ich nur einzelne Worte. Die Geschichte, die sich dahinter verbirgt, kennt nur derjenige, der sie damals aufgeschrieben hat. Auf meiner Suche nach fremden Tagebüchern habe ich darum gebeten, auf dem Speicher, in den Schränken und im Keller nachzusehen. Einige hatten vergessen, daß sie vor dreißig oder vierzig Jahren für eine Zeitlang einem Buch wichtige, sehr private Geheimnisse anvertraut hatten. Wir haben dann gemeinsam in diesen Büchern geblättert und Entdeckungen gemacht. Ein altes Foto, eine Eintragung aus dem Jahr 1940 ließen plötzlich ein junges Mädchen, einen jungen Mann lebendig werden, die stärker waren als mein Gegenüber im gepflegten Wohnzimmer.

Warum sollen diese Geschichten aufgedeckt werden?

Ich wollte mehr von der Generation meiner Eltern wissen. Mehr über die Momente ihres Lebens, wo sie ihrem eigenen Handeln im Tagebuch deutlich widersprochen haben. Mehr darüber, in welcher Verfassung sie waren, als man in Deutschland nicht mehr offen sagen konnte, was doch so viele gedacht haben. Mit welchen Versprechungen hat Hitler diese Generation für sich gewinnen können? An welchem Tag ist ein Soldat noch ganz im »Abenteuer« des Weltkrieges gefangen, und wann bricht diese Illusion zusammen?
In wieviel Stücke muß die Welt im Innern und die Welt draußen zerspringen, bevor sich ein Mensch grundsätzlich ändert? Hunderttausende wahrscheinlich sind es, die in diesem Land damals und heute auf diese Weise Geschichte schreiben. Korrespondenten vom Ich, über das wir alle so wenig wissen. Es ist ein Blick von unten - dort, wo über die Kosten der Geschichte Buch geführt wird. In den ordentlichen Geschichtsbüchern ist davon nichts zu lesen. Es ist ein »Volksvermögen«, ein Schatz gemeinsamer Erinnerungen und Erfahrungen, der gehoben werden kann. Wir brauchen ihn.
Tagebuch schreiben kann jeder. Im Unterschied zu den hochstilisierten Formen des Dramas, des Romans, des Essays oder der Lyrik bietet das Tagebuch eine Form, die so offen ist, daß hier das Leben direkt Eingang finden kann. Ein leeres Buch, das von Tag zu Tag alles aufnimmt, was der Autor hineintun will: Fotografien, Einfälle, Zeichnungen, Träume, Zeitungsartikel und Briefe, Liebeserklärungen und Racheschwüre. Alles, was zwischen die Deckel einer Kladde paßt, wird festgehalten - so ungeordnet und vermengt, wie das Leben auf uns alle zukommt. Die säuberliche Trennung in historische, dokumentarische oder persönliche, intime Tagebücher wird im Alltagsgebrauch selten durchgehalten. Neben der Radiomeldung von Hitlers Tod beginnt eine Liebesgeschichte, und vom Hexenschuß bis zur Währungsreform braucht es nur eine Zeile weiter. Es ist ein Nebeneinander, jeweils eine eigene Rangfolge von wichtig und unwichtig, die so möglicherweise auch das Leben der Menschen bestimmt.
Die Tagebücher erzählen Geschichten vom Überleben - in einem doppelten Sinn. Menschen schreiben von ihrer Anstrengung, in einer mörderischen Zeit am Leben zu bleiben: im Trommelfeuer an der Front, zu Hause im Bombenhagel, in der Zwangsgemeinschaft des Gefangenenlagers, auf der Flucht und im Chaos des Jahres 1945. Überleben heißt aber auch, daß die Tagebuchschreiber - wie jeder professionelle Autor - von der gleichen Kraft angetrieben werden: vom leidenschaftlichen Wunsch, sich schreibend zu retten. Schriftsteller können es gelegentlich genießen, mit ihren Helden am Schreibtisch Abenteuer zu erleben. Tagebuchschreiber erleben das Abenteuer, selber der Held einer Geschichte zu sein: der Geschichte ihres Lebens. Beiden gemeinsam ist der Wunsch, etwas aufzuschreiben, das von ihrer Anwesenheit auf dieser Welt erzählt. Irgend jemandem, der zufällig ihre Flaschenpost findet. Als ich die hier abgedruckten Tagebücher zusammengetragen hatte, stand ich vor einem Steinbruch deutscher Gefühle. Mit der Auswahl und Zusammenstellung habe ich versucht, etwas von der Geschichte dieser Gefühle sichtbar zu machen.

HEINRICH BRELOER, 1984


(aus dem Vorwort von "Geheime Welten" von Heinrich Breloer)
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