(...) Mit welcher Absicht war ich nach Stockholm gereist (und später nach Istanbul)? Mit der festen Absicht, mich zu bereichern. Das sollte ich W. schreiben. Womit gemeint war, dass ich ebenfalls von niederen Instinkten geleitet worden war; ihr erklären - und auch mir selbst -, wie ich bis zu jenem Cafétisch in Istanbul gekommen war. Der Bericht, den ich ihr während der Tage dort von meinen Reisen gegeben hatte, war kurz gewesen und zum größten Teil falsch. Jetzt konnte ich ihr alles ausführlich erzählen, bis ins kleinste Detail, so wie ich hier in Liwadija mit den Augen der verschlungenen kufischen Kalligraphie an den Türen einiger Tatarenhäuser (von den Tataren des Krim-Khanats) folgte. In ihrem zweiten Brief erzählte sie mir von ihrer Rückreise: wie sie einen großen Teil Russlands durchquert hatte und nach Hause gekommen war, wie ihre Mutter beide Hände an die Wangen gelegt hatte, stumm vor Erstaunen. Ich musste mit meiner Reise nach Istanbul beginnen, der Kette von Käufen (und Verkäufen); die Geschäfte aufzählen, die mich schließlich zu jenem Café vor dem Saray geführt hatten, dem Nachtclub mit Tanz und Striptease.
      Denn vor den Schmetterlingen hatte ich Nachtsichtgeräte verkauft. Und früher noch, ein Beweis für das aufgewühlte Ambiente im Russland jener Jahre, hatte man mir, das können Sie mir glauben (ich konnte sie befühlen), Felle von sibirischen Tigern angeboten, die wie im Zeitraffer ausstarben, Eck- und Backenzähne von Mammuts, konserviert im ewigen Eis am Ufer der Lena in Jakutien, Geweihe junger Rentiere (monatelang bewahrte ich in meinem Kühlschrank ein Glas mit dem Blut auf, das beim Absägen aus ihren Hörnern läuft und das Heilkräfte besitzt, wie wissenschaftlich bewiesen), ebenso Schlangengift (aus der Wüste Karakum, in Zentralasien) und rotes Quecksilber, ein Element, das ich niemals zu Gesicht bekam und das hundertfach sein Gewicht in Gold aufwiegt. Einmal hatte ich es in Tallinn mit einem fuchsroten (und fuchsteufelswilden) Schotten zu tun, einem möglichen Käufer, der in seiner Kilttasche einen Dolch versteckt hatte - kein Messer, sondern einen Dolch -, den er mir zeigte, um mich einzuschüchtern: er würde sich nicht übertölpeln lassen hier im Russischen, so weit weg von Schottland. Es ging nicht darum, keinen Schwarzhandel zu treiben (das Gesetz zu achten), sondern womit man Handel trieb (maximaler Gewinn bei minimalem Risiko).
      Obige Liste war eine entschieden kürzere als die von Amerigo Vespucci. Ob W. wohl wusste (nein, bestimmt nicht, ich selbst wäre nicht darauf gekommen, bevor ich ihn gelesen hatte), dass Amerika, der Kontinent meiner Geburt, seinen Namen einem Brief verdankte, den Amerigo Vespucci im Jahr 1501 an Lorenzo di Pierfrancesco di Medici geschickt hatte? Ich füge die Aufzählung von Amerigos Waren an, damit man sie mit meinen vergleichen kann. Das ist die Liste, die der Italiener schrieb, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief:
Was besagte Schiffe mit sich führen, ist folgendes. Sie sind beladen mit einer schier endlosen Fülle von Zimt, frischem und getrocknetem Ingwer, mit viel Pfeffer und Gewürznelken, Muskatnuss, Mazis, Moschus, Ambramalve, Styrax, Benzoe, Porzellan, Kassie, Mastix, Weihrauch, Myrrhe, rotes und weißes Sandelholz, Adlerholz, Kampfer, Ambra, Zuckerrohr, viel Gummilack, Mumienharz, Indigo und Zinkweiß, Opium, Aloe, Leberaloe, Zimtstangen und vielen anderen Rauschmitteln, die aufzuzählen lange dauern würde... Hier unterbreche ich, denn das Schiff hindert mich am Schreiben. Ebenso wie sich hinter den Entdeckungsreisen so niedere Interessen versteckten (genau das, versteckten) wie der Pfeffer oder die "schier endlose Fülle von Zimt"!, hatte auch ich Geld machen, mich bereichern, die erforderliche Summe anhäufen wollen, um mir einen kleinen Palast zu bauen, mit Balkonen und luftigen Sälen, wo ich behaglich leben konnte. Nachts würde ich in den Billardsalon gehen, lässig mit dem Queue ein paar Kugeln stoßen oder auf den Balkon treten und den Horizont begutachten, die Dunkelheit durchdringen, sie mühelos durchschneiden wie ein heißes Messer die Butter oder night vision goggles die Nacht - tausend Meter Reichweite, ebenfalls nützlich, um den nächtlichen Flug von Schmetterlingen zu beobachten, ihre schillernden Flügel. (...)


Aus "Liwadija" von José Manuel Prieto
Aus dem Spanischen von Susanne Lange

Liwadija, so heißt der unverhoffte Ruhepunkt im Nomadenleben von J., einem kubanischen Schmuggler, der sich in den Grauzonen des zerfallenden Sowjetimperiums komfortabel eingerichtet hat. Hinter ihm liegt die fieberhafte Jagd nach dem blanken Gewinn, bei dem seine Ware - von Mammutzähnen über Nachtsichtgeräte bis zu einem überaus seltenen Schmetterling - immer kleiner, immer wertvoller wurde. Nun hat es ihn in das heruntergekommene Seebad auf der Krim verschlagen, wo er vor den Trümmern seiner letzten und gewagtesten Transaktion steht: eine Frau und ihre Seele zu schmuggeln.
Die junge Russin W. ist ihm vor dem "Saray", einem Nachtclub in Istanbul, begegnet; Eiskunstläuferin sei sie. Als er merkt, dass sie ihn aufs Glatteis führt, ist es zu spät - leicht ist der so kühl berechnende Schmuggler überredet, W. aus dem Bordell zu entführen, heim nach Russland. Die abenteuerlich opernhafte Rettungsaktion endet abrupt im Hafen von Odessa, als W. grußlos verschwindet. In Liwadija sinnt er nun darüber nach, wie sehr er sich diesmal in seinem Schmuggelgut getäuscht hat - bis überraschend ein Brief von W. eintrifft, in verführerischer Schönschrift. Sechs weitere folgen. Sind es Liebesbriefe? Eine ganz andere Frau tritt J. darin entgegen, und er hat keine Wahl, er muss ihr den alles klärenden Liebes- und Offenbarungsbrief zu schreiben, die Geschichte seines bewegten Schmugglerlebens zu erzählen. Doch wie soll er anfangen? Der Mann der schnellen, reibungslosen Aktion lässt sich vom alten Wladimir Wladimirowitsch aus Sankt Petersburg die großen Briefwechsel der Weltliteratur schicken, sucht das geeignete Papier, die beste Tinte: will sie vorbereiten, seine beredte Antwort.
Immer tiefer versinkt er in der Lektüre (wenn er sich nicht gerade mit der stummen Alfia aus dem Postamt tröstet), stets auf der Suche nach einer Sprache, die W.s vollkommenen Briefen gerecht würde. Zugleich versucht er schreibend die Tage in Istanbul und sich selbst zu begreifen, den Spätzeitschmuggler mit zwei Pässen, dessen flüchtige Identität ihm wie ein Doppelgänger auf den Fersen ist.
Mit schimmernder Selbstironie, wunderbar genauer Beobachtungsgabe und immer wieder verblüffend changierenden Bildern ist der Erzähler J. seinen Gefühlen auf der Spur - und der Seele einer Frau, so schwierig einzufangen wie ein Schmetterling.
In der heutigen kubanischen Erzählliteratur, die mehr auf den drastischen Effekt aus ist, steht José Manuel Prietos Roman "Liwadija" ohne Beispiel da. Prieto sucht sich seine Vorbilder auf Reisen durch die Weltliteratur. Und wie sein Schmuggler J. kommt auch er nicht mit leeren Händen zurück. (Suhrkamp)
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