Raja Alem: "Sarab"


Die Anfänge der al-Kaida

1979: Ein Gruppe von fanatischen Nomaden, die ihren Anführer für den Madhi halten, einem prophezeiten großen Anführer des Djihad, stürmen die Große Moschee von Mekka. Mit ihren Gewehren nehmen sie die in der Moschee Anwesenden als Geiseln und verbarrikadieren sich, setzen Scharfschützen ins Minarett und auf die Dächer, und eine Belagerung beginnt. Diese dauert an, während innerhalb der Moschee Geiseln und Geiselnehmer hungern, angeschossen werden, erkranken und immer mehr in ihren eigenen Fäkalien versinken. Eine überaus unheilige Situation in einem angeblich heiligen Krieg.

Mit in dieser Falle befindet sich Sarab, die als junger Mann verkleidete Schwester eines der Scharfschützen auf dem Dach. Sie ist als Begleiterin ihres Bruders mit zur Truppe gestoßen und dadurch in diese Situation gekommen. Obwohl sie ganz gut schießen kann, tut sie es nicht sonderlich gerne und hat angefangen, sich in erster Linie um die Verwundeten zu kümmern - aber auch Verbandszeug und Schmerzmittel gehen irgendwann aus. Und dann greifen französische Fallschirmjäger ins Geschehen ein.

Mit einem von ihnen Gefangenen kann Sarab flüchten, aber dann weiß sie wirklich nicht, wie es weitergehen soll. Ihr Bruder ist tot, ihre Anführer sind tot, sie trägt eine gestohlene Uniform und hat einen sehr großen und kräftigen Soldaten vor sich liegen, mit dem sie nichts anzufangen weiß, wobei dieser eine eigentümliche Anziehungskraft auf sie ausübt.

Nach einiger Zeit kommen sich Rafael, der Soldat, und Sarab näher und beginnen voreinander jene seelischen Wunden, die das Kriegserleben in ihnen hinterlassen hat, zu entblößen. Auf diese Art einander näherkommend, erfahren beide etwas über sich selbst und den jeweiligen Anderen - und Rafael nimmt Sarab, immer noch in der Verkleidung ihres Bruders und mit dessen Papieren, mit nach Paris, wo die in der Wüste aufgewachsene junge Muslima eine ganz andere Welt kennenlernt, die vieles davon, was sie in ihrer Kindheit und ihrer Jugend gelernt hat, in Frage stellt. Doch die Schrecken ihrer Kindheit verfolgen sie weiter - und das nicht nur im übertragenen Sinn.

Man vergisst immer wieder leicht, dass es im Islam mindestens so viele Strömungen gibt wie im Christentum, und dass die Fanatiker dabei eher eine Minderheit bilden. Dieser Roman lässt Tausende von Muslimen in der Großen Moschee gerade Opfer solcher islamistischer Eiferer werden. Und er zeigt auch, wie Menschen zu Helfern oder auch Anhängern solcher Eiferer werden können. Wie der Klappentext ausführt, ist dies "Die Geburtsstunde der al-Kaida" und damit ein weitgehend vergessenes Kapitel der Geschichte, das uns immer noch beeinflusst - und auch heute noch sind die meisten Opfer des eifernden Terrors andere Muslime.

Aber auch die Perspektive des "erfolgreichen" Soldaten, der sehr viele Leute getötet hat, ist sehr überzeugend dargestellt - und was ein solcher "Erfolg" mit der Seele eines Menschen machen kann. Denn Rafael hat mit diesem Aspekt seiner Vergangenheit zunehmend zu kämpfen. Wie der Koran an zwei Stellen in diesem Buch zitiert wird: "Wer einen Menschen tötet, der tötet die ganze Menschheit."

Ein psychologisch sehr tiefgehender Roman, der in seiner Darstellung durchwegs überzeugen kann. Empfehlenswert.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 04/2018)


Raja Alem: "Sarab"
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.
Unionsverlag, 2018. 350 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Raja Alem, geboren 1970 in Mekka, studierte Englische Literatur in Dschidda, Saudi-Arabien, und hat Romane, Theaterstücke sowie Kurzgeschichten publiziert. Sie hat für ihr Werk zahlreiche Preise erhalten. Raja Alem lebt in Dschidda und Paris.